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MELDUNG/009: China - Zu kompliziert für SMS, Jugendliche verlernen Schreiben von Mandarin-Schrift (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. August 2010

China: Zu kompliziert für SMS - Jugendliche verlernen Schreiben von Mandarin-Schrift

Von Mitch Moxley


Peking, 3. August (IPS) - Wie viele junge Chinesen schreibt Yu Daihai jeden Tag Emails auf seinem Computer und verschickt SMS über sein Handy. Der 23-jährige Hochschulabsolvent aus der nördlichen Provinz Liaoning freut sich darüber, ständig mit seinen Freunden in Kontakt sein zu können. Die neuen Technologien haben jedoch auch ihre Kehrseite: Immer mehr Jugendliche beherrschen kaum noch die traditionelle Mandarin-Schrift.

Um rasch auf elektronischem Weg zu kommunizieren, benutzen die meisten Chinesen Pinyin, die offizielle Transkription der komplexen Schriftzeichen auf der Basis des lateinischen Alphabets. Sobald der Anfang eines Wortes eingetippt wird, erscheinen auf dem Bildschirm oder Handy-Display eine Reihe von Schriftzeichen. Der Nutzer muss lediglich das passende Symbol anklicken.

"Die chinesische Schrift ist zwar wichtig für unsere Kultur", meint Yu. "Die Strichfolgen der Zeichen sind jedoch recht kompliziert. Deshalb schreibe ich am Computer lieber in Pinyin, das ist wesentlich einfacher."

Vielen Chinesen geht es nicht anders als Menschen in der westlichen Welt, die inzwischen einen Großteil ihres Schriftverkehrs nur noch elektronisch abwickeln. Das bleibt nicht ohne Folgen. Yu hat seit mindestens einem halben Jahr nichts mehr mit der Hand geschrieben. Mittlerweile hat er sogar schon Schwierigkeiten, wenn er manche Schriftzeichen ('hanzi') zu Papier bringen soll.

Einmal sei er dadurch in eine recht peinliche Situation gekommen, erinnert sich der junge Mann. Auf einer Arbeitsmesse sollte er einen kurzen Text mit der Hand schreiben. Als er merkte, dass er einige 'hanzi' nicht mehr beherrschte, schlug er vor, die verlangte Zusammenfassung doch lieber per Email nachzureichen.


Fast alles wird mit dem Computer erledigt

Yu steht mit dem Problem nicht allein da. Im Chinesischen gibt es dafür sogar schon einen eigenen Ausdruck: 'tibiwangzi'. Das bedeutet soviel wie: "Du nimmst den Stift und hast das Schriftzeichen vergessen."

Bei zwei Umfragen der Zeitung 'China Youth Daily' und des beliebten Newsportals 'Dayang Net' gaben etwa 80 Prozent der interviewten Personen zu, beim Schreiben des Hochchinesischen Schwierigkeiten zu haben. 'Dayang Net' fand zudem heraus, dass 43 Prozent der Befragten bei der Arbeit ständig einen Computer benutzen. Viele nehmen nur noch dann einen Stift in die Hand, wenn sie ein Formular ausfüllen oder eine Unterschrift leisten müssen.

Experten machen für diese Entwicklung vor allem die Mobiltelefone verantwortlich. In China werden mehr Textmitteilungen per Handy verschickt als in irgendeinem anderen Land der Welt. Pinyin verdrängt somit vehement Mandarin und damit die älteste Schriftkultur, die über Jahrtausende kontinuierlich gepflegt worden ist.

Ihre Geschichte kann bis in das Jahr 1200 vor Christus zurückverfolgt werde, als die Zeichen in so genannte 'Orakelknochen' und Schildkrötenpanzer eingraviert wurden.

Jedes Mandarin-Schriftzeichen kann mehrere unterschiedliche Bedeutungen haben, während die Aussprache gleich bleibt. Wer die Sprache beherrschen will, muss also eine immense Gedächtnisleistung aufbringen. Im Laufe der Zeit wurden immer wieder Versuche unternommen, die traditionelle Schrift in der Versenkung verschwinden zu lassen.

Der einstige Revolutionsführer Mao Zedong (1893-1976) wollte Mandarin erst ganz abschaffen und entschied dann, die Sprache radikal zu vereinfachen, um mehr Menschen zum Lesen zu bringen. Die vereinfachten chinesischen Kurzzeichen sind seither das offizielle Schriftsystem der Volksrepublik. Die ursprünglichen Zeichen werden dagegen noch in Hongkong. Taiwan und Macau sowie in einigen chinesischen Überseegemeinden benutzt. Insgesamt sprechen heute weltweit mehr als 880 Millionen Menschen Mandarin.

Lu Jianming, ein Linguistikprofessor an der Universität von Peking, hält Maos Reform immerhin zugute, die Analphabetenrate im Land deutlich gesenkt zu haben.

Chinesische Kinder, die Mandarin lernen, müssen trotz aller Vereinfachungen noch viel Zeit auf das Auswendiglernen und Kopieren der Schriftzeichen verwenden. Ein 15-jähriger Schüler sollte bereits mindestens 3.000 Zeichen schreiben können. Die Schrift sei ein wichtiger Bestandteil der spirituellen und kulturellen Identität der Chinesen, betont Lu.


Drei Viertel der Schüler wollen nur noch tippen

Den Lehrern an den Schulen fällt es jedoch immer schwerer, die Kinder davon zu überzeugen. Eine Umfrage in der Millionenstadt Chongqing im Südwesten des Landes ergab. dass 65 Prozent aller Schüler nur noch mit der Hand schreiben, wenn Klassenarbeiten anstehen oder wenn sie sich im Unterricht Notizen machen. Wie eine lokale Zeitung berichtete, sind mehr als drei Viertel der Kinder und Jugendlichen der Ansicht, dass man eigentlich nur noch mit dem Computer schreiben bräuchte.

Als das Bildungsministerium 2008 ermittelte, dass mehr als die Hälfte der Lehrer bei den Schülern hohe Schreibdefizite festgestellt hatten, wurde die Regierung aktiv. Rund zehn Millionen Kinder nahmen im vergangenen Jahr an einem Schreibwettbewerb teil. Außerdem wurden an den Schulen Programme eingeführt, die das Schreiben mit der Hand fördern sollen. Auch an den Universitäten wird erwogen, von Studenten mehr handschriftliche Hausarbeiten zu verlangen. (Ende/IPS/ck/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2010