Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → LITERATUR

AKZENTE/111: Neue Bücher über China (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2008

Beharrlichkeit und Wandel
Neue Bücher über China

Von Ulrich Baron


Bei einem so großen und alten Land wie China muss man auf Alles und immer auch auf das Gegenteil gefasst sein. Einerseits gibt sich der bevölkerungsreichste Staat der Erde heute so weltoffen wie nie zuvor, andererseits reagiert man auf Einmischungen in "innere Angelegenheiten" mit gewohnter Empfindlichkeit. Anders als in früheren Zeiten aber sind es nicht nur chinesische Auswanderer, sondern ist es das Land selbst, das in allen Teilen der Welt eine aktive Rolle übernimmt. So könnte es Europa mit China gehen wie einstmals mit den USA.

Der Westen habe sich inzwischen daran gewöhnt, "dass China der größte Hersteller von Düngemitteln, Edelstahl, PVC, Klimaanlagen, Schuhen, Fischen und Vitaminen" sei, schreibt der Wirtschaftsjournalist Frank Sieren in seinem Buch 'Der China Schock'. Dass China 2007 einen Handelsüberschuss von 300 Milliarden US-Dollar erzielen und seine Devisenreserven auf 1,5 Billionen Dollar erhöhen würde, habe aber kaum jemand in Rechnung gestellt. In Afrika, im Mittleren Osten und in Zentralasien sei China nicht nur als Produzent von Massenwaren, sondern auch als Rohstoffkäufer längst zum ernsthaften Konkurrenten des Westens geworden - bei der Freisetzung von Treibhausgasen ohnehin.

Dabei ist China trotz seiner offiziellen Ein-China-Politik kein monolithischer Block, wie der Konflikt in Tibet gerade erneut zeigt. Statt jene Wiedergutmachung zu leisten, die Mao den Tibetern einst aufgrund ihrer Leiden unter der Roten Armee auf ihrem langen Marsch zugebilligt hatte, wird Tibet behandelt, als sei es seit jeher ein integraler Bestandteil Chinas gewesen.

Angesichts der beeindruckenden Größe von Chinas (kultur-)historischem Repertoire sollte man deshalb beachten, was der Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer in seiner 'Kleinen Geschichte Chinas' konstatiert: "In dem Maße, in dem China sich heute dramatisch wandelt, wendet es sich in ganz neuer Weise der heutigen Weltgesellschaft, aber auch der eigenen Geschichte zu."

Aus westlicher Sicht steckt diese Geschichte voller Widersprüche, die sich vereinfacht als Gegensatz von Dynamik und Selbstgenügsamkeit charakterisieren ließen. Als Beispiel wird gerne der Kompass genannt, der in China schon in der Antike bekannt war, aber vorwiegend zu geomantischen Zwecken benutzt wurde, während er nach seiner Einführung in Europa gegen Ende des Mittelalters zu einem Instrument maritimer Expansion wurde. Ähnliches ließe sich über das Schießpulver sagen, und damit könnte man den Gegensatz zwischen China und Europa auf die Formel bringen: Dort Feuerwerk und Feng Shui - hier Kanonen und Eroberung der Neuen Welt.

Doch auch die chinesische Geschichte kannte die Expansion, die Assimilation anderer Völker und Kulturen, innere Konflikte, Aufstände und blutige Thronfolgestreitigkeiten, Fremdherrschaft wie in der Mongolenzeit, die Überwindung der Ozeane wie bei den gigantischen Flottenoperationen der Ming-Zeit zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Nur haben Chinas konfuzianische Prägungen und Selbstinszenierungen, aber auch ganz einfach seine Fremdheit dies für den außenstehenden Beobachter eher kaschiert. Exemplarisch sind die 'Aufzeichnungen des Nachdenkens über Naheliegendes', eine im 12. Jahrhundert zusammengestellte Sammlung neokonfuzianischer Texte.

"In dieser Theorie gibt es keine überweltliche, transzendente Schöpferinstanz", erläutert deren Übersetzer und Herausgeber Wolfgang Ommerborn: "Die Welt und alle Dinge darin entwickeln sich aus sich selbst heraus, das heißt aus einer ihnen inhärenten Antriebskraft. Die Kosmogenese enthält auch nicht die Vorstellung einer absoluten Erstentstehung. Der gesamte kosmische Prozess wird vielmehr als ein Vorgang geschildert, der zeitlich weder Anfang noch Ende aufweist."

Das steht im Gegensatz zum monotheistisch-teleologischen, auf eine Heilsgeschichte ausgerichteten abendländischen Denken und auch zu den Gedanken der Individuation und der Freiheit eines Christenmenschen. Nicht das individuelle Heil, sondern eine übergreifende Harmonie steht im Zentrum dieser Lehre, die zum Pflichtlehrstoff nicht nur der Beamten Chinas zählte. Erreicht werden soll dieser Zustand nicht durch Disziplinierung von oben, sondern durch Selbstkultivierung, Lernen, das Korrigieren von Fehlern, pietätvolles Verhalten gegenüber den Eltern und Alten.

Dem steht das "Trennende" gegenüber, ein Mangel an sittlicher Kultiviertheit, so dass separatistische Bestrebungen, wie derzeit in Tibet, in Familie und Staat als empörende Bedrohung der rechten Ordnung empfunden werden. Drakonische Maßnahmen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Fassade sind die Antwort, doch die Unfähigkeit, Konflikte anzuerkennen und offen auszutragen, führte zu enormen internen Reibungsverlusten. Korruption und Unfähigkeit im gewaltigen Beamtenapparat, in ihrer Folge Versorgungskrisen und Aufstände, haben wiederholt dazu geführt, dass China fremden, schließlich den westlichen Mächten und den Japanern wie eine ausgehöhlte Frucht in den Schoß fiel.

Privater Initiative waren in diesem System enge Grenzen gesetzt. Da nach der Lehre des "Jinsilu" alles bereits im Urzustand angelegt war, so Ommerborns Kommentar, stelle auch "alles, was der Mensch erzeugt, grundsätzlich nichts Neues dar": "Er kann nur das herstellen, was potenziell schon immer vorhanden ist." Eine gewisse Laxheit im Umgang mit Urheberrechten war darin wohl schon begründet. China fehlten jene abenteuerlichen Privatunternehmer und Kaperfahrer, die mit staatlicher Billigung den Aufstieg Englands, der Niederlande und der USA beförderten. Gleichwohl brachten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die neuzeitlichen Fernhandelskontakte Chinas mit Europa und die Massen amerikanischen Silbers, die dadurch ins Land strömten, einen rapiden wirtschaftlichen Aufschwung mit sich, der laut Schmidt-Glintzer als "Sprossen des Kapitalismus" bezeichnet wurde.

Man sollte die Bedeutung dieses Silberzuflusses im globalen Fernhandel nicht unterschätzen. Dadurch kam nicht nur sehr viel mehr, sondern auch höherwertiges Geld ins Land, und das war dringend notwendig. Der Sinologe Thomas O. Höllmann berichtet in seiner kulturgeschichtlichen Studie 'Das alte China', anschaulich an archäologischen Fundstücken anknüpfend, dass im Steueraufkommen des Jahres 1077 nur etwas mehr als zwei Tonnen Silber annähernd sechs Milliarden Bronze-Münzen, über einer Million Tonnen Getreide und 2,7 Millionen Seidenballen gegenüber gestanden hätten. Seide sei im alten China die "eigentliche Währung" gewesen, ein stabiles, aber auch unhandliches Zahlungsmittel.

Silber hingegen vereinfachte nicht nur den Zahlungsverkehr bei größeren Summen; noch in Sun Shuguns Reportage über Mythos und Wahrheit von Maos "Langem Marsch" zählen Silbermünzen zur unentbehrlichen Grundausstattung jedes militärischen Führers. "Mao sagte, der lange Marsch sei nicht das Ende, sondern nur ein erster Schritt" schreibt die 1963 geborene Schriftstellerin am Ende ihrer Spurensuche, um dann ironisch fortzufahren: "Auch das war etwas, das ich am Ende meiner Reise anders verstand als zu Beginn. Im Verlauf des Marsches hatte Mao seine Oberherrschaft zurückerlangt und bis ans Ende seines Lebens nicht wieder abgegeben. Die neuen 'langen Märsche', zu denen er das chinesische Volk in den kommenden vierzig Jahren immer wieder antrieb, waren noch länger und schmerzlicher als der lange Marsch selbst." Ideale und Fassaden sind auch hier das eine, die Wirklichkeit ist das andere. Wären die Kinder Chinas so pietätvoll, seine Beamten so ehrlich und seine Führer so weise gewesen, wie das "Jinsilu" es lehrte, so hätte es dieses Buches und auch eines langen Marsches nicht bedurft.

Einer der ersten Privatdetektive des Landes, der "Konkubinenkiller" Wei Wujun, den Janis Vougioukas in einer seiner Reportagen aus dem neuen China vorstellt, muss sich heute zu seinem eigenen Leidwesen nahezu ausschließlich mit Ehebrechern befassen. Auf fast schon klischeehafte Weise verkörpert er einen neuen, aufklärerischen Aspekt in Chinas langer Geschichte. Seine Öffnung hat dem Land eine vorher so nie gekannte Öffentlichkeit beschert, die sich vor allem des Internets bedient, aus dem viele Chinesen etwa die offiziell unterdrückte Wahrheit über den Ausbruch der Seuche SARS erfuhren.

Was aber Freiheit nicht nur der Meinung heißt, erfährt Sun Shugun am Ende ihres Gesprächs mit dem greisen Sangluo, der während des langen Marsches im von der Roten Armee ausgeplünderten Tibet zurückgelassen worden und dort wider Erwarten gastfreundlich aufgenommen worden war. Als sie ihn fragt, ob er nun Han-Chinese oder Tibeter sei, dreht der Alte an seinem Gebetsrad und antwortet: "Ist das nicht egal!?"


Ulrich Baron (*1959) ist Literaturwissenschaftler und arbeitet als Kritiker und freier Publizist in Hamburg. ulrich.baron@t-online.de

Literatur

Thomas O. Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte,
C. H. Beck, München 2008, 328 S., 29,90 Euro

Jinsilu - Aufzeichnungen des Nachdenkens über Naheliegendes
(Aus dem Chinesischen übersetzt und herausgegeben von Wolfgang Ommerborn).
Verlag der Weltreligionen, Frankfurt/M. 2008, 501 S., 32,00 Euro

Helwig Schmidt-Glintzer: Kleine Geschichte Chinas.
C. H. Beck, München 2008, 296 S., 19,90 Euro

Frank Sieren: Der China Schock. Wie Peking sich die Welt gefügig macht.
Econ, Berlin 2008, 429 S., 19,90 Euro

Sun Shugun: Maos Langer Marsch: Mythos und Wahrheit
(Aus dem Englischen von Henning Thies).
Propyläen, Berlin 2008, 382 S., 22,90 Euro

Janis Vougioukas: Wenn Mao das wüsste. Menschen im neuen China.
Herbig, München 2008, 202 S., 17,90 Euro


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2008, S. 75-78
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 93 58-19, -20, -21
Telefax: 030/26 93 58-55
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de

Die NF/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2008