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AKZENTE/115: Judentum und Islam in der Gegenwartsliteratur (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 1/2009

Wahrheiten außerhalb des Blickfeldes
Judentum und Islam in der Gegenwartsliteratur

Von Christoph Gellner


Nichtchristliche Religionen sind in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zunehmend mit eigenen Stimmen präsent. Für das interkulturelle Zusammenleben ist dies ebenso aufschlussreich wie für den Religionsdialog. Gerade die "vermittelte" Auseinandersetzung in der Literatur lässt deren Herausforderung existentiell konkreter und lebendiger werden.


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Seit den neunziger Jahren lässt sich die überraschende Renaissance deutsch-jüdischer Literatur einer neuen, nach der Shoa geborenen Schriftstellergeneration beobachten. Für Katja Behrens, Maxim Biller, Esther Dischereit, Robert Menasse, Rafael Seligmann oder Robert Schindel ist die Judenverfolgung keine persönliche Erfahrung, vielmehr als Bestandteil ihrer Familiengeschichten "ererbte Erinnerung".

Barbara Honigmann (geb. 1949) war eine der Ersten, die aus dem Vakuum ihrer DDR-Sozialisation bewusst eine Wiederannäherung an das religiöse Judentum suchte. Ausgelöst durch die Geburt ihres ersten Sohnes begann sie sich mit Fragen ihrer religiösen Identität zu beschäftigen, Hebräisch zu lernen, Tora und Talmud zu studieren: "Weil es doch mehr als nur Herkunft ist und man aus dem Judentum sowieso nicht herauskommt, habe ich versucht, wieder weiter hineinzukommen, eben in Frankreich, wo jetzt, 'danach', mehr Juden leben und es mehr 'Jüdischkeit' gibt als in dem Land meiner Muttersprache", resümiert sie in ihrem Essayband "Das Gesicht wiederfinden" (2006). Mit ihrem Umzug nach Straßburg, wo erstmals seit tausend Jahren wieder Juden spanisch-portugiesischer, afrikanischer und orientalischer sowie mittel- und osteuropäischer Herkunft zusammenleben, habe sie "die lange Reise ins Innere des Judentums angetreten und Bindungen neu zu knüpfen versucht, die nach einem 200 Jahre währenden Assimilationsrausch nur noch als lose Enden herumhingen".

Ihr Erzählwerk spiegelt die Vielfalt zeitgenössisch gelebten jüdischen Lebens zwischen Beharren auf dem Eigenen und der Anpassung an die nichtjüdische Welt: "Wir praktizieren unser Judentum in einer Weise, die wir 'koscher light' nennen", die "Gott nicht in der Askese und auch nicht in der Ekstase" sucht, sondern "im normalen Leben", sagt sie von sich und ihren Freundinnen, "und wir grenzen uns deutlich von denen ab, die eine Pilgerfahrt nach Jerusalem oder nach Auschwitz unternehmen müssen, um sich als Juden fühlen zu können." ("Damals, dann und danach")


Brüchiges Verhältnis der Nachgeborenen zur nichtjüdischen Gegenwartsgesellschaft

Matthias Hermann (geb. 1958) ist auf dem Gebiet der Lyrik ("72 Buchstaben", "Der gebeugte Klang") "die bemerkenswerteste deutsch-jüdische Stimme", die "das klare Bekenntnis zur jüdischen Religion mit den ästhetischen Verfahrensweisen der Moderne" verbindet (Jürgen Egyptien, Einführung in die deutschsprachige Literatur seit 1945, Darmstadt 2006, 59). So zum Beispiel in "Labyrinth Kabbala":

Am Anfang Er
Am Ende Er
Dazwischen
Die verschlungenen
Wege zu
Dir

Das Gedicht "Gebot" nimmt die alte Ladetradition der Zehn Gebote auf, wandelt sie in die Metapher von der "Glaslade der Sprache". Die Einwohnung Gottes geschieht in der Sprache, das Verbot bildhafter Festschreibung gilt so der unerschöpflichen Unfixierbarkeit des Lebens:

In der Glaslade der Sprache
Wohnt das Eine, das
Einzige Gedicht
Und verbietet uns
Bildhaftigkeit.

Das brüchige Verhältnis der Nachgeborenen zur nichtjüdischen Gegenwartsgesellschaft wie zur jüdischen Tradition hat eine Vielzahl publizistisch-belletristischer Veröffentlichungen provoziert. Größtenteils außerhalb der Kultusgemeinden entstanden, schildern sie aktuelles Jüdischsein in einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, das sich nicht mehr nur negativ über die Shoa, Anfeindung und Antisemitismus definiert. Neben der Auseinandersetzung mit innerjüdischen Generationenbeziehungen und -konflikten machen sie verkrampfte Erinnerungs- und Bewältigungsrituale sowie Befangenheiten zwischen Juden und Nichtjuden thematisch. Robert Schindel nennt das vertrackte Verhältnis gegenseitiger Unerreichbarkeit eine "gläserne Wand".

"Es kommt mir manchmal vor", stellt Honigmann heraus, "als wäre erst das jetzt die so oft beschworene deutsch-jüdische Symbiose, dieses Nicht-voneinander-loskommen-Können, weil die Deutschen und die Juden in Auschwitz ein Paar geworden sind, das auch der Tod nicht mehr trennt (...) Es ist diese Überempfindlichkeit, die mir unerträglich schien, denn beide, die Juden und die Deutschen, fühlen sich in dieser Begegnung ziemlich schlecht, sie stellen unmögliche Forderungen an den anderen, können sich aber auch gegenseitig nicht in Ruhe lassen." Vladimir Vertlib (geb. 1966), wie Wladimir Kominer aus Russland emigriert, spießt den bemüht-beschämten neuen Philosemitismus auf: "Die Deutschen lieben ja heute die Juden, zumindest solange die Juden sich nicht so jüdisch benehmen wie sie glauben, dass sich Juden benehmen könnten, aber nicht sollten" ("Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur").

"Warum soll ich gezwungen werden, von einem Menschen bloß noch Gutes zu sagen, nur weil er dem Judentum angehört. Das ist doch der wahre Rassismus", spitzt Doron Rabinovici, 1961 in Tel Aviv geboren und seit der Auswanderung seiner Eltern 1964 in Wien lebend, die Auseinandersetzung unter Opfer- und Täterkindern zu. "Denken sie, weil ihr Vater Juden gehasst habe, sei es ihr Auftrag, Juden auf Teufel komm' raus zu lieben?"

Satirischer Höhepunkt seines rund um den Wiener Naschmarkt, einem "Zentrum der Zuwanderung", spielenden Multikultiromans "Ohnehin" (2004) ist der Vortrag bei einer Gedenkstunde für den Aufstand im Warschauer Ghetto, der auf Jiddisch gehalten, aber "politisch korrekt" falsch ins Deutsche übersetzt wird. Während der überlebende Rabbiner vom unvernünftig-sinnlosen Draufgängertum zumeist areligiöser Zionisten spricht, das die Orthodoxen schon damals verurteilt hätten, preist die dolmetschende Judaistikstudentin, ihren eigenen Hoffnungen und Projektionen folgend, die Rebellen als Helden und Genies. Den ultraorthodoxen Juden, die nur den jiddischen Ausführungen des Rabbi lauschen, fällt dies ebenso wenig auf wie den nichtjüdischen Philosemiten, die allein den pathetischen Ausschmückungen der Übersetzerin folgen. Jede Gruppe hört etwas anderes, die Erwartungen beider Seiten werden gleichermaßen bestätigt. "Wahrscheinlich horcht bei solchen Gedenkstunden ohnehin kaum jemand zu ..."

War das Muslimische vom 18. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Objekt der Neugier und des künstlerischen Interesses - man denke an Lessing, Goethe, Rückert oder Rilke -, so ist es höchst erstaunlich, dass der Islam, trotz der Anwesenheit von weit mehr als 3 Millionen Muslimen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nur wenige Spuren hinterlassen hat. "Selim blieb ein Einzelkind", stellte Peter Schneider mit Blick auf Sten Nadolnys Roman "Selim oder Die Gabe der Rede" (1990) heraus, die Geschichte einer ungewöhnlichen deutsch-türkischen Freundschaft und zugleich ein Loblied auf die kommunikative Kraft wahren Erzählens. "Könnte es sein, dass die schwache Präsenz der Ausländer in der Literatur mehr über den Grad ihres tatsächlichen Wahrgenommenwerdens aussagt als ihre momentane Allgegenwart in den Massenmedien?" (Die Zeit, 4. Mai 2006).

Dabei widmet sich neben Rafik Schami, Salim Alafenisch oder Jusuf Naoum, die an die arabisch-orientalische Erzähltradition anknüpfen, eine wachsende Zahl deutsch schreibender Autoren muslimischer Herkunft wie Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoglu oder Yadé Kara mit Witz und Verve dem neuen multikulturellen Alltag Europas. Vor allem Navid Kermani und Zafer Senocak mischen sich literarisch-publizistisch ein in die öffentlich-mediale Wahrnehmung des Islam, rufen gegen dessen Verkürzung seine innere Vielfalt und seinen geistig-kulturellen Reichtum in Erinnerung. Sie bestehen darauf, als deutschsprachige Schriftsteller gesehen zu werden und nicht als exotische Zuwanderer, die eine Nischenkultur bedienen (vgl. "Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland", Hg. Uwe Pörksen und Bernd Busch, Göttingen 2008).


Bikulturelle Beziehungsgeschichten

Die große Ausnahme unter den eingesessenen Autoren bildet Barbara Frischmuth, die Orientalistik studierte, sich mehrfach in der Türkei, in Iran und Ägypten aufhielt und in ihrem Erzählwerk den Blick auf einen "anderen" Islam jenseits der einseitig-oberflächlichen Tagesinformationen richtet. So erzählt "Die Schrift des Freundes" (1998) von der Liebe der jungen Wiener Computerspezialistin Anna Margotti zu dem Aleviten Hikmet Ayverdi, durch die sie empfänglich wird für das Numinose muslimischer Spiritualität. Besinnt sich doch Hikmet auf seine religiöse Herkunft und erlernt die in der islamischen Welt allgegenwärtige arabische Kalligraphie. Mit unübersehbarer Sympathie wirbt Frischmuth für islamische Mystik und Poesie, für die vom Sufismus geprägte Minderheitskultur immigrierter Aleviten, die sich für Toleranz, Demokratie, Gleichberechtigung, Meinungs- und Religionsfreiheit einsetzen gegen die Gewalttätigkeit radikaler Islamisten, der sie selber immer wieder ausgesetzt sind.

Durch die eindringliche Schilderung verschiedener Spielarten muslimischer Frauenemanzipation sowie bikultureller Beziehungsgeschichten ("Der Sommer, in dem Anna verschwunden war", 2004) vermitteln ihre Romane weit mehr über den in Mitteleuropa gelebten zeitgenössischen Islam als vergleichbare Sachbücher.

2008 legte Frischmuth einen Reiseroman ("Vergiss Ägypten") sowie zeitkritische Essays "Vom Fremdeln und vom Eigentümeln" vor, mit denen sie sich profiliert in die Debatte über "das Erscheinungsbild des Orients" (so der Untertitel) einbringt:

"Dass die Religionen noch immer oder schon wieder die Bruchlinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden am deutlichsten anzeigen, ist ein Skandal, den zu inszenieren man noch immer nicht müde geworden ist. So als wäre den Menschen damit geholfen, dass man ihre heiligen Bücher beim Wort nimmt, anstatt sich an deren poetischer Kraft zu berauschen." Mit dem Doppelblick der Schriftstellerin und Orientalistin stellt sie die "heilsame Mehrdeutigkeit" der heiligen Schriften heraus, "die sie mit der Dichtung gemeinsam haben". Es komme darauf an, "Gott - wenn man ihn schon in der Sprache dingfest machen will - viele Sprachen zuzugestehen und deren Poesie zu würdigen, anstatt sich auf eine einzige Version einzuschwören, die letztlich mit dem Charme einer Computerübersetzung daherkommen dürfte. Indizien für die Vielzüngigkeit Gottes gibt es genug".

Ist es nicht so, gibt sie zu bedenken, "dass wir die Zeichen des Fremden viel zu pauschal als das, was sie zu sein scheinen, abhaken, anstatt sie als Aufforderung zur Aufmerksamkeit zu begreifen?" Da helfen "weder Fremdeln noch Eigentümeln, sondern nur genaues Schauen in beide Richtungen und die Bereitschaft, Gegensätze auszumachen, sie zur Kenntnis zu nehmen und sie miteinander in Beziehung zu bringen."

Dabei sind der österreichischen Autorin vor allem die Stimmen intellektueller Muslime wichtig, die in Europa leben und deren Bücher auf Deutsch erscheinen. Intensive Ost-West-Beziehungen innerhalb einer Person ermöglichten ihnen eine gewisse Distanz zu ihrer Herkunftskultur. Dadurch haben sie einen schärferen Blick auf die Reibflächen zwischen Eingesessenen und Eingewanderten, beiden gegenüber schrecken sie vor aufklärerischer Kritik nicht zurück.

Auch wenn es zahlreiche Ansätze für eine Erneuerung des Islam, insbesondere für eine Neuauslegung des Korans gibt, ist dies für Frischmuth weniger interessant als Gespräche mit Muslimen über die muslimisch inspirierte Kunst und Literatur, in denen die innerislamischen Auseinandersetzungen, aber auch die mit der westlichen Welt ihren Platz haben: "Am liebsten unterhalte ich mich mit Autoren und deren Büchern, die beides aus Erfahrung kennen und beides nicht missen wollen, weder eine demokratische, auf Meinungsfreiheit und Gleichstellung der Individuen basierende westliche Kultur noch den Nachklang der einstigen Pracht und Sinnlichkeit einer islamischen Hochkultur sowie die familiäre Wärme, die Höflichkeit, Frömmigkeit und Gastfreundschaft einer muslimischen Alltagskultur." Die Wirkung von Kunst und Literatur besteht für Frischmuth "in einer subversiven Invasion der Köpfe, in denen plötzlich andere Stimmen laut werden als die, die immer schon darin das Sagen hatten. Das Eindringen verschobener Blickwinkel in die Intimität des eigenen Bewusstseins (...) das wäre doch schon etwas."

"Mit fünf lernte ich mein erstes Gebet (...) Mit sechs berührte ich mit der Stirn den Boden (...) Mit sieben betete ich mit vielen anderen zusammen (...) Mit acht traf ich auf Menschen, die niemals beteten. Mit neun auf Menschen, die anders beteten als wir. Sie saßen auf harten Bänken oder knieten nur, anstatt sich niederzuwerfen", skizziert Zafer Senocak einen für gebildete Migranten der zweiten Generation nicht untypischen "Lebenslauf". 1961 wurde er in Ankara geboren und wuchs in Istanbul auf, 1970 kam er mit seinen Eltern nach München und lebt seit 1990 in Berlin. "Mit zwölf lernte ich den Koran lesen. Eine fremde Schrift, fremde Worte (...) Mit sechzehn gab ich es auf, regelmäßig zu beten und brach heimlich mein Fasten (...) Mit fünfundzwanzig übersetzte ich Gedichte eines anatolischen Mystikers aus dem 14. Jahrhundert (...) Ich las zum ersten Mal den Koran in einer deutschen Übersetzung. Ich verstand Goethe, der sagte, dass dieses Buch einen anekelt und einem zugleich Respekt abverlangt (...) Mit dreißig las ich bei Salman Rushdie: 'Was ist das Gegenteil von Glauben? Nicht Unglaube ... Zweifel.'" ("Der Mann im Unterhemd")


Neue deutsch-islamische Dichtung

Sein Roman "Gefährliche Verwandtschaft" verbindet die Diskussion deutsch-türkischer Beziehungen mit Reflexionen zum deutsch-jüdischen Verhältnis und fordert einen Trialog von Christen, Juden und Muslimen: "Die Auflösung der deutsch-jüdischen Dichotomie könnte beide Parteien, Deutsche und Juden, von ihren traumatischen Erfahrungen erlösen. Dazu müssten sie aber die Türken in ihre Sphäre aufnehmen. Und die Türken in Deutschland müssten ihrerseits die Existenz der Juden entdecken, nicht nur als ein Teil der deutschen Vergangenheit, an der sie nicht mehr teilhaben können, sondern als Teil der Gegenwart, in der sie leben." Mit dem Koran und dem Mystiker Rumi beschäftigt er sich genauso wie mit der Lyrik von Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Gerade weil seine künstlerische Arbeit "an den Bruchlinien der Identität von Gruppen, zwischen den kulturellen Klischees" stattfinde, fordert er Schluss zu machen mit vereinfachenden Gegensatzkonstruktionen von Eigenem und Fremdem, Orient und Okzident: "Es sind immer nur die Menschen, die sich begegnen und nicht die Kulturen."

"Die muslimische Gemeinschaft braucht dringend eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Traditionen, die bei einer umfassenden Entdeckung des eigenen heterogenen kulturellen Erbes ansetzen muss und nicht halt machen darf, wenn es um Tabus geht, die andere Menschen oder Glaubensvorstellungen diskriminieren", fordert Senocak in seinem jüngsten Essayband "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch" (2006). Sie brauche aber auch "Gesprächspartner, die aufrichtig an einer Anerkennung und Integration der Muslime interessiert sind", setzt er hinzu. "Eine solche offene Auseinandersetzung gedeiht nur in einer Gesellschaft, die akzeptiert, dass sie nicht mehr monokulturell und monoreligiös strukturiert ist und im kulturellen Pluralismus nicht nur eine Chance, sondern auch eine Stütze für Demokratie und Freiheit sieht."

Die "andere" Kultur zu akzeptieren reiche nicht - zu akzeptieren sei, dass sich auch die "eigene" ändere, Kategorien wie "Ausländer" und "Inländer", "Heimat" und "Fremde" neu überdacht werden müssten. Nirgendwo wird dies vielleicht deutlicher als in einer der neuesten Anthologien deutschsprachiger "Geistlicher Lyrik" (Hg. Jörg Löffler und Stefan Willer), die mit Gedichten von Senocak und Zehra Çirak Beispieltexte einer gerade erst entstehenden "deutsch-islamischen Dichtung" präsentiert.

Literarisch-religiös einzigartig sind gewiss die Psalmdichtungen, die 2007 der deutsch-persische Dichter SAID vorlegte. 1947 in Teheran geboren, kam er 1965 als Student nach Deutschland und lebt seither in München. Seine 99 Psalmen (entsprechend den 99 "schönsten Namen Gottes" der Muslime) verbinden altorientalisch-persische und westlich-moderne Poesie, schreiben sie aus islamischem Geist fort:

herr
ich suche dich
mach dass diese suche nie aufhört
siehe
sie bedrängen mich von allen seiten
die gottesbesitzer
doch befragen sie nie ihren gott
denn sie fürchten seine antwortlosigkeit
ich aber vertraue meinem gebet
dem alten brandstifter
der auf der suche nach einer neuen behausung
die alten häuser verrät

Diese Gebetsgedichte dienen SAID als subjektives Ausdrucksmedium, um seine persönliche Religiosität gewissermaßen vor der Religion zu retten, die ihn in Gestalt des Chomeini-Regimes nach dem Schah ein zweites Mal ins deutsche Exil zwang. "Ich gehe in keine Kirche und keine Moschee", sagt SAID, der sein Verhältnis zur Religion seiner Kindheit sowie den Wunsch nach einer den Einzelnen schützenden und befreienden Spiritualität in "Ich und der Islam" (2005) erhellend dargelegt hat. "Aber ich glaube, dass es etwas geben muss, das über dem Leben mit Handy und Haftpflichtversicherung steht." Zornig, demütig, klagend, bittend und zweifelnd richtet sich der 99-fache Anruf dieser Psalmen an keinen explizit muslimischen, christlichen oder jüdischen "Herrn". Wie sie sich gegen Erstarrungen und Verfestigungen in allen Religionen wenden ("damit du in deiner einsamkeit/zu keiner kirche erstarrst"), bitten sie ausdrücklich darum, "auch die gebete der anderen" wahr- und ernst zu nehmen: "lass uns auch wahrheiten glauben schenken, die außerhalb unseres blickfeldes wachsen". Mehr noch:

herr
zögere
bevor du eine neue schöpfung wagst
schaffe diesmal mehr tiere und pflanzen
so dass der mensch als besiegter überlebe
hindere uns
in das geheimnis der nelken einzudringen
denn wir sind unfähig
mit solcher erkenntnis glücklich zu werden
aber verbinde uns mit dem gras der steppen
mit der gischt der meere
und belächle unseren durst nach vollkommenheit
der deiner nicht würdig ist

Zwei aktuelle Romane führen ins Herz des Fundamentalismus: Sherko Fatah, 1964 als Sohn eines Kurden und einer Deutschen in Ost-Berlin geboren, erzählt in "Das dunkle Schiff" (2008) die Geschichte eines laizistisch erzogenen jungen Irakers, der unter islamistische "Gotteskrieger" gerät. Durch ihren spirituellen Lehrer erreicht ihn der Ruf des Glaubens, von der Gewalt sagt er sich jedoch los und flüchtet als blinder Passagier übers Mittelmeer nach Deutschland. Dort wird er von einem Freund, der, verloren in der "Wüste des Unglaubens" im Westen, zu den Dschihadisten überläuft, als Verräter erstochen.


Reisen auf den Spuren des Glaubens

"Ein Zimmer im Haus des Krieges" (2006) von Christoph Peters (geb. 1966) erzählt von einem Deutschen, der aus westlicher Drogenkriminalität zum Islam konvertiert, als Mitglied einer ägyptischen Dschihad-Gruppe einen Anschlag auf den Tempel von Luxor unternimmt und in Haft gerät. Der deutsche Botschafter in Kairo, der ihn im Gefängnis aufsucht, bemüht sich gleichermaßen irritiert und fasziniert zu verstehen, "wie diese Religion funktioniert, deretwegen intelligente junge Leute zu Mördern werden, die sich als Heilige aufspielen. Er will wissen, warum unbescholtene Bürger zustimmend nicken, wenn sie von Anschlägen hören? Oder auch nur, warum erwachsene Männer sich fünfmal täglich zu Boden werfen, in Tränen ausbrechen, wenn der Koran rezitiert wird? Er will es für sich wissen, nicht für das Auswärtige Amt."

Ganz offensichtlich reißt der Fall "eine Wunde auf, die fast verheilt war". Wie die meisten der 68er-Generation hatte auch er gedacht, "die Zeit der Religionen sei vorbei, ein für allemal (...) Damit war das Thema für uns erledigt. Jetzt stehen wir da, und reiben uns die Augen."

Um empathische Annäherung und existentielle Erkenntnis geht es auch Ilija Trojanov. 1965 in Bulgarien geboren, in Deutschland und Kenia aufgewachsen, lebt er nach langen Aufenthalten in Bombay und Kapstadt heute in München und Wien; in deutschsprachigen wie indischen Feuilletons ist er gleichermaßen als Autor präsent. Seine Reiseerzählung "Zu den heiligen Quellen des Islam" (2004) vermittelt spirituell überaus eindringliche Innenansichten der traditionsreichen Pilgerfahrt zur Kaaba nach Mekka sowie zur Moschee des Propheten in Medina, die Trojanov nach einer einjährigen intensiven Vorbereitung mit indischen Muslimen unternahm. Pate stand der britische Entdeckungsreisende Richard Francis Burton (1821-1890), der als einer der ersten Europäer in der Verkleidung eines Bettlers aus Indien an der Hadsch teilnahm. Mit seinem damals unüblichen, heute höchst zeitgemäßen Interesse am Islam und der arabischen Welt wie auch der hinduistischen Tradition Indiens steht dieser frühe Vorläufer der "teilnehmenden Beobachtung" im Zentrum von Trojanovs Bestsellerroman "Der Weltensammler" (2006).

"An den inneren Ufern Indiens" schildert eine Bootsreise entlang des Ganges, die indische Gegenwart mit der in Erzählungen und Kulten lebendigen Hindu-Mythologie verflicht. Für seine Einsicht, dass sich Kulturen nicht bekämpfen, sondern zusammenfließen ("Kampfabsage", 2007) bemüht Trojanov in seinem neuesten Reportageband "Der entfesselte Globus" (2008) die buddhistische Vorstellung von Indras Netz. Jedes empfindungsfähige Wesen stellt einen Knoten in einem weitgespannten Netz dar, sodass man keinen einzigen Faden beschädigen kann ohne allen anderen Fäden Schaden zuzufügen.

Diese Sicht bekräftigt der große Sufi-Mystiker Ibn Al-Arabi, der die vielfältige Erscheinungswelt als Kundgabe des einen Gottes verstand: "Dieser Gedanke zerstört Barrieren zwischen den Menschen, zwischen den Glaubensrichtungen. Er hat Hindus und Moslems in Indien einander nahegebracht, es spielte keine Rolle, wie man sich nannte, solange man in Frieden mit allen anderen lebte", resümiert Trojanov in einer in der "Bibliothek der Spiritualität" herausgekommenen Anthologie seiner Texte und Interviews ("Sehnsucht. Mach dich auf den Weg", Hg. Fatma Sogir, Freiburg 2008).

Nach Josef Winkler ("Roppongi", 2007; "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot", 2008) legte schließlich jüngst Martin Mosebach höchst bemerkenswerte Reisetexte aus Indien vor: "Stadt der wilden Hunde. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien" (2008). Im Unterschied zum vorherrschenden westlichen Interesse an hinduistischer Mystik, Meditation und Philosophie betont er die kleinen Riten und großen Rituale, die konkrete Verrichtung religiöser Zeremonien. Einmal mehr erscheint dem Verfasser der "Häresie der Formlosigkeit" das Alte und das gerade in Indien tief in die Alltagswelt hineinragende Heilige "beinahe synonym".


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Christoph Gellner (geb. 1959), Dr. theol., ist Lehrbeauftragter für Theologie und Literatur, Christentum und Weltreligionen an der Universität Luzern. Jüngere Veröffentlichungen zum Thema: Zeitgenössische Literatur - Echolot für Religion? Erkundungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Michael Durst/Hans J. Münk (Hg.), Religion und Gesellschaft, Fribourg 2007, 197-240; Wie der Buddha in den Westen kam. Hermann Hesse, Luise Rinser und Adolf Muschg, in: Hermann-Hesse-Jahrbuch Band 3, Tübingen 2007, 47-69; Der Glaube der Anderen. Christsein inmitten der Weltreligionen, Düsseldorf 2008.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 1, Januar 2009, S. 38-42
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2009