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AKZENTE/117: Literatur und Politik in China (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2009

Zum Gastland der Frankfurter Buchmesse:
Literatur und Politik in China

Von Wolfgang Kubin


Wer lesen und schreiben kann, wird Beamter. So oder ähnlich heißt es in den Schriften der chinesischen Antike. Dies gilt bis heute in gewisser Hinsicht immer noch, auch wenn die Umstände inzwischen andere sind.


Die vielfach gestellte Frage, warum die chinesische Gegenwartsliteratur so mittelmäßig ist, lässt sich leicht beantworten: Die schreibende Zunft möchte überwiegend lieber Beamter sein als dem Beruf eines Künstlers nachgehen. Oder, wenn es anders nicht geht, beide Tätigkeiten miteinander verbinden. Um des Amtes willen ist ein chinesischer Literat bereit, manch Ungemach auf sich zu nehmen.

Was ist es aber, das eine Beamtenkarriere heute, wo man am Markt mit dem Schreiben gut Geld verdienen kann, so attraktiv erscheinen lässt? Die Macht und die Verantwortung. Positiv gesehen hat der chinesische Literatus sich seit alters als ausgleichender Mittler zwischen Herrschern und Beherrschten verstanden. Konkret als Auge und Ohr des Volkes. Was er unten sah und hörte, trug er oben vor. Waren es kritische Dinge, so bedurfte es seines Mutes. Einen solchen Mut haben chinesische Beamte bis in die Neuzeit hinein immer wieder unter Beweis gestellt. Mit dem Leben für die eigene Meinung zum Nutzen von Volk und Staat einzutreten, ist ihnen eine Selbstverständlichkeit gewesen.

Dies hat sich erst mit dem Beginn der Ming-Zeit (1368-1644) langsam geändert. Ihr Begründer, Zhu Yuanzhang (1328-1398), schaffte die Rolle des Kanzlers ab und gab den Eunuchen den Vorzug vor den Literati, die er grausam verfolgen ließ. Mao Zedong (1893-1976) hat sich mit seiner Politik immer wieder gern auf diesen Gewaltherrscher berufen. Und auch die heutige chinesische Führung rechtfertigt ihr "hartes Durchgreifen" (yanda) einmal im Jahr mit einem Verweis auf diese letzte rein chinesische Dynastie.

Schreiben bedeutet seit alters eine Teilhabe an der Regierung und der Macht sowie die Möglichkeit zur Vorteilnahme. Letzteres hat sich bis zum Ende des Kaiserreiches unter mandschurischer Herrschaft (1644-1911) jedoch nur beispielhaft im Falle einzelner Personen als besonders großes Übel erwiesen. Das eher positive Bild vom aufrechten Beamten-Literaten, der im chinesischen Kaiser gleichsam seinen Gott sah, begann sich jedoch im 20. Jahrhundert einzutrüben, als an die Stelle der Tradition kein nach westlichem Vorbild auf Gesetz und Ordnung basierendes neues Regierungssystem erfolgreich zu treten in der Lage war, sondern Diktaturen sich im Laufe der Zeit auf beiden Seiten der Taiwan-Straße etablieren konnten.

Während der Republikzeit (1912-1949) verfolgten die Nationalisten unter Chiang Kai-shek (1887-1975) nahezu alle Schriftsteller: Sie wurden verhaftet, getötet, zumindest ihre Werke wurden immer wieder verboten. Dies hielt auch noch auf Taiwan bis 1987 an und hat sich erst nach der Aufhebung des Kriegsrechts (1987) beispielhaft geändert. Die Drangsalierung der Intelligenz auf dem Festland nach 1949 erfolgte in verschiedenen Etappen.

Mao Zedong, der wie ein traditioneller Kaiser die Legitimität seiner Herrschaft durch das Verfassen von Gedichten und öffentlich ausgestellte Kalligraphie belegen wollte, war den Intellektuellen gegenüber feindlich eingestellt. Dieses hatte einen einfachen Grund. Sie bedienten sich einer modernen Schreibweise, die das überkommene Herrscherlob durch die kritische Herrschaftsanalyse ersetzt hatte. Dies ist ein Grund, warum Mao Zedong in seiner Aussprache zu Literatur und Kunst in Yan'an 1942 die Rückkehr zur Tradition anmahnte und die Parteinahme für die kommunistische Sache zur Pflicht machte.


Wende zum Lobgesang

Die Wende der Literatur von der Gesellschaftskritik zum Lobgesang ist jedoch nicht allein der KP Chinas anzukreiden. Schon lange vor 1949 hatte die chinesische Intelligenz im Angesicht der Kriege und Nöte ihre Ohnmacht erkannt und eine Aufgabe der westlichen Moderne gefordert. Man stand auf der Seite der Kommunisten und wollte mit ihnen gemeinsame Sache machen, um dem Land eine Befriedung und einen Neuanfang zu ermöglichen. Dies ist ihr bis 1949 formal auch gelungen.

Nicht wenige Autoren hatten bereits am Vorabend der chinesischen Revolution das Schreiben aufgegeben, um sich ganz der Parteiarbeit widmen zu können. Insofern ist es unzulässig, Mao Zedong allein die Schuld für den Niedergang der Künste nach 1949 zu geben. Die Schriftsteller waren zunächst keine Opfer, sie waren in aller ersten Linie Täter. Sie haben begeistert ein System aufbauen helfen, das sie später vernichtet hat und dem sie bis heute die Treue gehalten haben. Wenn sie später nach ihrer Rückkehr aus den Lagern und Gefängnissen sich doch als Opfer hinstellten, so geschah dies in Verkennung ihrer Beihilfe zum Unrecht und im eigenen Interesse. Hierzu der Reihe nach.

Die Reglementierung der Literatur und Kunst sah nach 1949 alle Kunstschaffenden als Rädchen und Schräubchen der sozialistischen Sache vor. Kritik, auch eine systemimmanente, war nicht erlaubt, es sei denn, sie war von oben in Form von landesweiten Kampagnen verordnet, um bestimmte Personen an den Pranger zu stellen oder bestimmte nicht genehme Ideologien zu diskreditieren. Entsprechend ließ der Enthusiasmus der Intelligenz zunächst rasch nach. Der Staat bedurfte jedoch um des Aufbaus willen ausgebildeter Kräfte. So gab Mao Zedong 1956 die Losung "Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern" aus, um vor allem die Schriftsteller um eine Stellungnahme zum Stand der Dinge zu bewegen. Diese erfolgte reichlich in Form von Geschichten, Essays und Gedichten. Sie hatten alle eines gemeinsam: Ihre Kritik war systemimmanent und gründete sich auf einen demokratischen Sozialismus. Doch den Gläubigen nutzte ihr Glaube an einen vom Staat religiös herausgeputzten Mao Zedong nichts. In einer Kampagne gegen rechts wurde fast die gesamte Intelligenz, etwa 500.000, in die Verbannung aufs Land verschickt. Im Einzelfall waren im Vorfeld dieser unter Deng Xiaoping (1904-1997) ausgeführten Umsiedlung Schauprozesse anberaumt worden. Dabei tat sich mancher große Literat besonders unrühmlich hervor. Jedoch muss man sagen, dass da längst schon Gehorchen und Lügen zur zweiten Natur eines chinesischen Autors geworden waren. Gehorchen, d.h. Mao Zedong blind ergeben sein, lügen, d.h. um der maoistischen Ideologie willen, jedes Mittel einsetzen, um den jeweiligen Kurs der Partei gegen vermeintlich innere Feinde durchzusetzen. Auch wenn mit Beginn der Reformperiode (1979) nahezu alle damals Verurteilten rehabilitiert worden sind, ist die Kampagne gegen rechts nie als falsch eingestuft und zur gemeinsamen Bewältigung freigegeben worden. Das immer noch anhaltende Misstrauen der Schriftsteller untereinander und die nach wie vor bestehende Bereitschaft, den Kollegen ans Messer zu liefern, haben hier ihre Ursache. Von Solidarität oder Zivilcourage kann kaum die Rede sein.

Anders als besagte Kampagne gegen rechts ist die Kulturrevolution (1966-1976), das chinesische Pendant zum Dritten Reich, zeitweise als Objekt einer kritischen Betrachtung den Autoren überlassen worden. Man hatte die neue Politik einer Öffnung zum Westen und einer Reform der Gesellschaft gegen die verbliebenen Maoisten in der Regierung durchzusetzen. Dazu bediente man sich der literarischen Hilfe. Besonders zu Beginn der 80er Jahre liebten es die Erzähler, sich als Opfer hinzustellen und im Wesentlichen die Auswüchse der Revolution kritisch zu betrachten. Man spricht heute von Lobbyliteratur. Ziel war es nicht selten, sich mit Hilfe von Anklagen Vorteile in Staat und Gesellschaft zu verschaffen. Selbst die heftigste Kritik fiel systemimmanent und im Sinne der neuen Regierung daher positiv aus.

Waren die 80er Jahre eine Zeit landesweiter politischer Debatten über Chinas Weg seit 1949, so scheint alles Politische der Literatur nach 1989 abhanden gekommen zu sein. Jedoch ist nicht so sehr das Jahr 1989, die Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni, wirklich ausschlaggebend hierfür. Das Jahr 1992 ist das vielleicht einschneidendste Jahr in der chinesischen Geschichte überhaupt. Deng Xiao-pings Reise in den Süden mit der Verkündigung, arm zu sein sei eine Schmach, reich zu sein dagegen eine Ehre, hat im Reich der Mitte aus dem homo politicus einen homo economicus gemacht. Geld verdienen ist zum Ziel des Lebens geworden. Darüber haben die Literaten nicht nur die Politik, sondern oftmals auch das Schreiben aufgegeben. Und sollten sie doch noch schreiben, so richten sie sich heute nicht selten nach den Bedürfnissen des internationalen Marktes. Sie wissen, welche Themen sie behandeln dürfen und welche nicht. Dies wird telefonisch über die Verlage bzw. den Schriftstellerverband mitgeteilt. Und so steht das Politische doch wieder an, allerdings für den Unwissenden nicht besonders fassbar.

Das Politische äußert sich heute anders, nicht mehr in der Diskussion oder im kreativen Akt. Es versteckt sich hinter der Fürsorge des Staates für die chinesische Intelligenz, die zu den großen Nutznießern der wirtschaftlichen Entwicklung gehört und heute einen wichtigen Teil der neuen Mittelschicht ausmacht. Das deutsche Wort vom behüteten Wohnen für alte Menschen lässt sich auf den Aufstieg einer "bürgerlichen" Klasse übertragen. Durch staatliche Zuwendungen (u.a. Preise, Stipendien, Anerkennungen) verfügen die Intellektuellen heute über ein für chinesische Verhältnisse beträchtliches Vermögen. Dieses lassen sie sich schützen, indem sie vornehmlich in einer Stadt in der Stadt wohnen, einem Wohngebiet, das von einer Mauer umgeben ist und von polizeiähnlichen Wachmannschaften bewacht wird. Niemand hat hier als Fremder Zutritt, jeder Besucher hat sich auszuweisen etc. über Kommen und Gehen wird Buch geführt.

Wer immer sich im Sinne der Partei schädigend äußert, muss nicht unbedingt mit Verhaftung rechnen. Verhaftet wird ohnehin nur, wer sich mit ausländischen Journalisten einlässt bzw. "Banden" bildet. Die heutige Abstrafung sieht anders aus: Die Zuwendungen werden entzogen, die Auslandsreise wird unmöglich gemacht, das eine oder andere Buch verschwindet vom offiziellen Markt. Das lässt viele ihre Stimme nicht erheben. Und wenn sie dennoch erhoben wird wie im Falle von Bei Dao (geb. 1949) aus dem Ausland, wird eine Einreise "zeitweilig verschoben".

Allerdings hat die Wirtschaft die Politik inzwischen auch schon korrumpiert: Es gibt jedes verbotene Buch auf dem chinesischen Schwarzmarkt. Und offiziell sind gar alle Werke von Bei Dao verlegt, selbst die hochpolitischen Gedichte! Wie das? Es versteht niemand mehr seine brisante politische Sprache, nicht einmal der Geheimdienst!


Wolfgang Kubin (* 1945) ist Professor für Sinologie an der Universität Bonn, Übersetzer und Schriftsteller. Seit 2002 ist er Verfasser und Herausgeber der auf zehn Bände angelegten Geschichte der chinesischen Literatur. Im März erschien bei Hanser Das Buch der Niederlage, seine deutsche Übersetzung einer Gedichtsammlung von Bei Dao.
kubin@uni-bonn.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2009, S. 21-24
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Dezember 2009