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PROFIL/089: Wenn es nur Dunkelheit gäbe, wäre alles klar - Vor 25 Jahren starb Samuel Beckett (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2014

Wenn es nur Dunkelheit gäbe, wäre alles klar
Vor 25 Jahren starb Samuel Beckett

Von Hanjo Kesting



Als Samuel Beckett am 22. Dezember 1989 starb, widmete die französische Tageszeitung Le Monde ihm volle acht Seiten ihres Feuilletons. Deutlicher hätte nicht werden können: Obwohl nie ein Autor des großen Publikums, war Beckett eine Jahrhundertfigur, ein Säulenheiliger der Literatur im 20. Jahrhundert - seine strenge, asketische Erscheinung, nicht anders als die Strenge und radikale Einfachheit seiner Bücher, lassen das Wort vom "Heiligen" in diesem Fall besonders angemessen erscheinen.

Waren Kafka, Proust und Joyce die sakrosankten Namen der ersten Jahrhunderthälfte, so gehörte die zweite Hälfte Beckett allein - kein anderer Schriftstellername steht gleichrangig neben dem seinen. Mit ihm ging die literarische Moderne zu Ende. Joachim Kaiser schrieb damals im Nachruf der Süddeutschen Zeitung: "Samuel Beckett ist der größte Dichter unserer Zeit. Er war der Poet unserer Finsternisse, der vollkommen aufrichtige, unbeirrbare, unbestechliche, bildmächtige, strenge und witzige Visionär."

Der Ruhm Becketts beruhte vor allem auf seinen Theaterstücken. Sie markierten künstlerisch die Spitze des Fortschritts (aber Fortschritt wohin?) und wurden als Parabeln verstanden (aber Parabeln worauf?) Der größere Teil von Becketts Prosawerk, das 1938 mit dem Roman Murphy begann, wurde vor den Theaterstücken geschrieben, aber deren Ruhm hat den Prosaschriftsteller in den Hintergrund gedrängt: den solitären Roman Watt, das Fragment Mercier und Camier, die Trilogie Molloy, Malone stirbt und Der Namenlose, deren letzter Teil 1953 erschien, im selben Jahr, in dem Warten auf Godot in Paris uraufgeführt wurde.

Beckett war damals 42 Jahre alt und hatte bis dahin abwechselnd in Dublin, Belfast und London und seit den späten 20er Jahren überwiegend in Paris gelebt, im Kreis der Surrealisten und im Kontakt mit dem anderen großen irischen Schriftsteller des Jahrhunderts, James Joyce. Während des Zweiten Weltkriegs lebte er einige Zeit in Südfrankreich und nahm am Widerstand gegen die deutsche Besatzung teil. Nach dem Krieg, mit 40 Jahren, ließ er sich endgültig in Paris nieder, mit einem Koffer voller unveröffentlichter Manuskripte, für die er keinen Verleger fand. Und erst jetzt begann die Periode intensiven Schaffens, die "Verschanzung im Zimmer", wie er selbst es genannt hat.

Beckett schrieb eine Prosa, die sich von jeder Abbildlichkeit entfernt und der Struktur musikalischer Kompositionen annähert. Bereits das macht deutlich, dass Prosa und Dramatik dieses Autors eine Einheit bilden, hier wie dort gleichermaßen bestimmt von seinen formalen Techniken. Reduktion, Isolation, Verfall, Zerfall, Schweigen ergeben eine unendliche Melodie des monologischen Sprechens und Verstummens angesichts der Vergeblichkeit, die Becketts großes Thema war. Es sind allesamt Endspiele von ebenso ernstem wie komischem Charakter, mit denen Beckett der menschlichen Existenz etwas hinzufügte, indem er sie untergrub.

Das berühmteste Beispiel dafür ist En Attendant Godot, das der gebürtige Ire in französischer Sprache schrieb, für die er sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs endgültig entschieden hatte. Zwei Vagabunden in abgerissenen Kleidern und mit steifen Hüten treten auf, der eine lang und dünn, der andere klein und rundlich. Sie heißen Wladimir und Estragon und scheinen sich seit langem zu kennen. Sie kommen wie zu einer Verabredung. Sie stehen auf der Bühne und räsonieren. Sie warten ...

ESTRAGON Lauschiges Plätzchen. Heitere Aussichten! Komm, wir gehen!
WLADIMIR Wir können nicht.
ESTRAGON Warum nicht?
WLADIMIR Wir warten auf Godot.
ESTRAGON Ach ja.

So beginnt der berühmteste Theaterdialog des 20. Jahrhunderts, am 5. Januar 1953 hörte man ihn zum ersten Mal im Pariser Théâtre de Babylone. Seither gilt Warten auf Godot als Schlüsselwerk des modernen Theaters, das wie kein anderes unsere Vorstellungen von dieser Kunstform beeinflusst und verändert hat. Immer aufs Neue hat sich die Deutungslust der Regisseure an diesem Stück versucht, und die Zahl der Interpretationen ist ins Unüberschaubare gewachsen. Zugleich ging der Titel in den allgemeinen Sprachgebrauch ein, und Godot, die Titelfigur, die niemals auf der Bühne erscheint, wurde zur landläufigen Metapher für zielloses Warten, dann auch für die Vergeblichkeit menschlicher Existenz.

Warten auf Godot machte Beckett über Nacht berühmt. In der jungen Bundesrepublik wurde das Stück bereits in der nächsten Spielzeit auf acht Bühnen aufgeführt, zuerst am Berliner Schlossparktheater. Noch war es von der Aura des unerhört Neuen, ja Rätselhaften umgeben, wie eine Erinnerung des Berliner Theaterkritikers Friedrich Luft belegt: "Unsere herkömmliche Theaterauffassung fühlte sich ratlos; man hatte den Verdacht, vielleicht doch in diesem unerklärlichen Falle vergackeiert zu werden. Mit den herkömmlichen Maßstäben des Dramatischen schien dies gar nicht fassbar."

Was war so verstörend befremdlich an Warten auf Godot? Schlichtweg alles, von der Sprache des Stücks über seine Form bis zu den konkreten Einzelheiten seiner szenischen Erscheinungsweise: das sparsame Dekor, das Fehlen jeglicher Handlung, der reduzierte Dialog, der aller herkömmlichen dramatischen Funktionen entkleidet scheint. Es gibt keine psychologischen Konflikte, keine greifbaren Bedeutungen, keinen irgendwie realistisch ausgemalten Zeithintergrund. Es gibt schon gar keine politische Botschaft oder Tendenz. Zwar sind später Entwürfe aufgetaucht, die das Stück zeitlich und räumlich genau situieren: nahe Roussillon in der Haute-Provence (dort war Beckett 1943 als Resistance-Kämpfer untergetaucht), wo zwei bedrohte Flüchtlinge auf einen Fluchthelfer warten, der sie über die Grenze bringen soll. Aber diese Hinweise hat Beckett später konsequent beseitigt. So vollzieht sich das Bühnengeschehen in einer Art Schwebezustand: zwischen Überall und Nirgendwo, zwischen Tag und Nacht. Die vier Figuren sind nur vage charakterisiert: der Tyrann Pozzo mit der Peitsche, der sklavische Lucky, der am Halfterband geführt wird, die Tramps Wladimir und Estragon als clownesk konträre Zwillingswesen. Ihre streng stilisierten Wechselreden gleichen poetischen Litaneien, durchsetzt von Anspielungen, Bildungsresten und burlesker Komik. Die Bühnenwirklichkeit erzeugt den Eindruck von Irrealität, und je konkreter das Spiel sich vollzieht, desto mehr weist es hinaus in die Regionen des Abstrakten. Real ist allein die Situation des ziellosen Wartens, des Wartens auf Godot.

Eben das hat die Deutungslust der Interpreten beflügelt. Sie haben Warten auf Godot das Streckbett ihrer Deutungen gelegt, als gebe es eine "absolute Wahrheit" des Stückes. Adorno erkannte darin eine Parabel über das Thema Herr und Knecht, Heinrich Böll fühlte sich an irische Landstreicher erinnert, christliche Interpreten sahen die Glaubensfrage gestellt, Agnostiker verstanden Godot als nihilistische Metapher; wieder andere meinten, Beckett zeige eine Welt nach dem Atomschlag. Keine dieser Deutungen ist falsch, keine ist zureichend. Das Stück funktioniert wie eine Projektionswand, die die Bilder zurückwirft, die im Bewusstsein des Lesers oder Zuschauers entstehen. Als der Autor es am Berliner Schiller-Theater selbst inszenierte, begann er die Probenarbeit mit den Worten: "Wenn Sie einverstanden sind, reden wir nicht über Philosophie, sondern über Situationen."

Becketts Situationen verlangen nach Deutung und Sinngebung, ohne solchen Sinn von sich aus herauszugeben. Und das gilt für die gesamte Beckettsche Dramatik, von Warten auf Godot bis zu den kurzen Monolog-Stücken seiner späten Zeit. Ihre einzige Realität ist die der Bühne. Und so war es dem Zeugnis Friedrich Lufts zufolge von Anfang an: "Er setzte sich an meinen Tisch, war von einer exquisiten Höflichkeit. Sein hageres Adlergesicht war imponierend. Wir bestellten Kaffee. Dann versuchte ich zu erfahren, wie ihm denn die Vorstellung gefallen habe. Sehr angetan war er offensichtlich nicht. Sie sei ihm zu (wenn ich richtig erinnere, gebrauchte er dieses deutsche Wort) - zu 'aufgeplustert' vorgekommen. Er hätte sie sich nüchterner, spielerisch leichter, sozusagen dramatisch unerheblicher vorstellen können. Er lächelte: Es sei eben nur ein Spiel. Ob das nicht genüge?"

Die Genese eines Autors

Die Genese des großen Autors lässt sich am besten in seinen Briefen verfolgen, die der Suhrkamp-Verlag in einer vierbändigen, über 3.000 Seiten umfassenden Auswahl herausbringt, deren zweiter Band soeben zum 25. Todestag erschienen ist. Er umfasst die Jahre 1941 bis 1956 und zeigt das allmähliche Wachsen des Autors im Gehäuse der Wörter, aber auch den Durchbruch von der Introversion zur Außenwelt, vom Schreiben hauptsächlich für sich selbst zum Schreiben für eine Leserschaft. Immer stärker tritt hier auch die Idee eines Theaters hervor, das auf seine eigenen Mittel reduziert ist: "Bei Godot", liest man da, "ist es ein Himmel, der nur dem Namen nach Himmel ist, ein Baum, bei dem man sich fragt, ob es überhaupt einer ist, klein und verkümmert. Ich sähe das gern, egal, wie es gemacht wird, so widerwärtig abstrakt, wie sich die Natur für die Estragons und Wladimirs darstellt, als schwitzigen, stinkigen Kalvarienberg, wo mal eine Rübe wächst, sich ein Graben auftut, sonst nichts."

Mit Warten auf Godot kam der Erfolg, der plötzliche Ruhm, der so zerstörerisch auf den Menschen herabstürzen kann, aber Beckett hatte die Kraft, ihm standzuhalten, ja ihn zu ignorieren. Als er 1969 den Nobelpreis erhielt, der zum Glück manchmal auch großen Dichtern verliehen wird, nahm er ihn nicht selbst in Empfang, sondern machte sich unsichtbar. Seine Geschichte führte nicht vom Dunkel zum Licht, sondern blieb in einer Art Schwebezustand. Er selbst hat dazu in einem Interview gesagt: "Wenn es nur Dunkelheit gäbe, wäre alles klar. Weil es aber nicht nur Dunkelheit, sondern auch Licht gibt, wird unsere Situation unerklärbar."


Samuel Beckett: Ein Unglück, das man bis zu Ende verteidigen muss. Briefe 1941-1956. Aus dem Englischen und Französischen von Chris Hirte, Suhrkamp, Berlin 2014, 819 S., 45 EUR.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschienen seine Bücher Augenblicke mit Jean Amery (Wallstein, Göttingen) und Das Geheimnis der Sirenen. Bilder und andere Abenteuer (Wehrhahn, Hannover)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2014, S. 51 - 54
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53, Telefax: 030/26 935-92 38
E-Mail: ng-fh@fes.de
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2014


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