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PROFIL/099: Zwischen den Epochen - Vor 150 Jahren wurde Maxim Gorki geboren (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2018

Zwischen den Epochen
Vor 150 Jahren Wurde Maxim Gorki geboren

Von Hanjo Kesting


Über die russische Literatur hat Vladimir Nabokov einmal gesagt, dass sie "ganz in der Amphore eines runden Jahrhunderts" enthalten sei. Nabokov meinte die Literatur aus der Zeit zwischen Alexander Puschkin und Maxim Gorki. deren Hauptvertreter die großen Erzähler sind: Nikolai Gogol, Iwan Turgenjew, Iwan A. Gontscharow, Fjodor Dostojewski, Lew Tolstoi und Anton Tschechow. Maxim Gorki, geboren 1868, mit eigentlichem Namen Alexei Maximowitsch Peschkow, markiert den Endpunkt dieser Entwicklung und zugleich einen Wendepunkt. Er steht zwischen den Zeiten und Epochen, die er mit seinem Leben und seinem Werk ebenso repräsentiert wie überbrückt: auf der einen Seite Erbe der russischen Erzähltradition, auf der anderen Repräsentant dessen, was man seit der Revolution von 1917 "Sowjetliteratur"nannte.

Gorkis literarisches Ansehen, sein internationaler Ruhm, die frühe Verbindung mit den Bolschewiki, die persönlichen Beziehungen zu Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Stalin machten ihn zur literarischen Galionsfigur der jungen Sowjetunion. Als er 1932 nach seinem durch eine Lungenkrankheit bedingten jahrelangen Aufenthalt in Italien nach Russland zurückkehrte, war sein Ruhm so stark angewachsen, dass seine Geburtsstadt Nischni Nowgorod, die alte Handelsmetropole, den Namen des Schriftstellers erhielt - Tribut an den fatalen Personenkult in Stalins Machtbereich. Sechs Jahrzehnte lang trug Nischni Nowgorod den Namen Gorki, ehe die Stadt nach dem Sturz des Sowjetsystems ihren angestammten Namen zurückerhielt. Auch Maxim Gorki, der große Schriftsteller, zahlte posthum seinen Preis dafür, dass er diesem System so eng verbunden gewesen war.

Wege zum Ruhm

Von Herman Melville, dem Verfasser des Moby Dick, stammt der Satz: "Ein Walschiff war mein Yale und mein Harvard." Ähnliches konnte auch Gorki von sich sagen, nur waren seine Universitäten die Landstraßen des riesigen Landes, das er auf langen Wanderungen durchquerte. Wie wenige Schriftsteller lernte er "das Volk", die kleinen Leute und alle Formen der Armut kennen, um einmal, wie Stefan Zweig schrieb, "der rechte und gemäße Anwalt alles Elends zu werden". Gorki ist es nirgends mehr als in seinen autobiografischen Büchern Meine Kindheit, Unter fremden Menschen und Meine Universitäten. Sie verblüffen den Leser mit einer unerschöpflichen Figurenfülle und einem erstaunlichen Reichtum an Beobachtungen, Erlebnissen und Episoden aus der späten Zeit des Zarismus. Zu dieser Zeit gehörte auch die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit, die in den 1880er Jahren in vielen unterschiedlichen Spielarten immer mehr anwuchs: von religiöser Schwärmerei und dem slawophilen Kult der Volkstümler über nihilistische und anarchistische Tendenzen bis zu den sozialrevolutionären Bestrebungen der frühen Marxisten.

In Kasan, wo er ein Studium begann, fand Alexei Peschkow Kontakt zur politisierten Studentenschaft. Er sah sich hineingestellt in den politischen Kampf und die Verfolgungen der revolutionären russischen Intelligenz. Zum ersten Mal hörte er die Namen Karl Marx und Charles Darwin und kam in Berührung mit der materialistischen Philosophie und Naturwissenschaft. Aber mit dem Blick des Entrechteten, der durch eine leidvolle Jugend geschärft war, erkannte er auch die breite, unüberwindbare Kluft, welche die Intelligenzija vom einfachen Volk, den armen Bauern und rechtlosen Arbeitern trennte. Diese Erkenntnis löste eine tiefe Krise aus und führte zu einem Selbstmordversuch. Er schoss sich eine Kugel in die Brust, die in der Lunge stecken blieb, bedrohlich für sein ganzes weiteres Leben.

Alexei Peschkow war 24 Jahre alt, als seine erste gedruckte Erzählung erschien: Makar Tschudra, publiziert unter dem Namen Gorki, "der Bittere", ein Pseudonym, das fortan beibehalten wurde. Seit Mitte der 1890er Jahre folgten die sogenannten Barfüßler-Novellen, die am Beispiel von Vagabunden und Landstreichern den sozialen Umbruch des Landes beschrieben, die schnelle Entwicklung des Kapitalismus und die Industrialisierung der Metropolen. Mit diesen Erzählungen machte sich Gorki bald einen Namen. 1898 sah er ein Theaterstück von Tschechow, Onkel Wanja, und erkannte "eine vollkommen neue Art der dramatischen Kunst". Wenig später traf er Tschechow in Jalta und begann selbst Stücke zu schreiben; im Januar 1900 folgte der erste Besuch bei Tolstoi. Gorki schloss Freundschaft mit dem späteren Nobelpreisträger Iwan Bunin, dem Sänger Fjodor Schaljapin, dem Theaterregisseur Konstantin Stanislawski. Er wurde zu einer Zentralfigur des literarischen Lebens, denn besser als jeder andere wusste er persönliche und ideologische Gegensätze zu überbrücken. Stanislawski nahm sein erstes Theaterstück Die Kleinbürger zur Uraufführung an, im Dezember 1902 folgte die Uraufführung des berühmten Nachtasyls - Max Reinhardt spielte es schon einen Monat später in Berlin. Mit einem Schlag war Gorki eine europäische Berühmtheit. In Deutschland erschienen parallel deutsche und russische Ausgaben seiner Bücher. In Russland erreichte Nachtasyl innerhalb eines Jahres die Auflage von einer Dreiviertelmillion.

Der Roman Die Mutter

Das Jahr 1905 begann mit dem "Petersburger Blutsonntag": Demonstrierende Arbeiter, die zum Winterpalais gezogen waren, wurden von Soldaten zusammengeschossen. Gorki war Augenzeuge des Massakers und veröffentlichte einen "Aufruf an alle russischen Bürger und die öffentliche Meinung der europäischen Staaten". Er wurde verhaftet und fünf Wochen auf der Peter-Paul-Festung in St. Petersburg festgehalten. Die Freilassung erfolgte aufgrund einer Protestwelle aus ganz Europa und nach Zahlung einer Kaution von 10.000 Rubel, die ein Großindustrieller für Gorki hinterlegte. Er schloss sich der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands an, ging aber, um der zaristischen Verfolgung zu entgehen, für neun Jahre ins Ausland, die er, bedingt durch immer neue Ausbrüche von Lungentuberkulose, größtenteils auf Capri verbrachte. Um für die Revolution zu agitieren und Geld zu sammeln, reiste Gorki nach Frankreich und Amerika, wo er viel Bewunderung aber auch viele Anfeindungen erfuhr. In den USA begann er an dem Roman Die Mutter zu schreiben, der 1906 auf Capri vollendet wurde. Zu dieser Zeit war Maxim Gorki bereits der führende Schriftsteller Russlands.

Für viele Millionen Menschen, so Ilja Ehrenburg, war dieses Buch "ein dumpfer Trommelwirbel". Dass es in seiner Zeit als Zeichen des Umbruchs gewirkt hat, ist unbestreitbar. Die zaristischen Behörden verfolgten es als ein Werk, das, wie es regierungsamtlich hieß, "zu schweren Vergehen reizt, die Feindseligkeit der Arbeiter gegen die besitzenden Klassen schürt und zu Akten der Widersetzlichkeit und Rebellion aufruft". Noch Bertolt Brecht hat von dieser agitatorischen Qualität des Stoffes Gebrauch gemacht, als er den Roman 1932, in der Schlussphase der Weimarer Republik, in einer dramatisierten Fassung auf die Bühne brachte. Seine Eigenart beschrieb er mit den Worten: "Alles, was Gorki erzählt, ist wahr: Er hat es gesehen, und er hat es auch bestimmt richtig gesehen, und auch seine Beschreibung hat nichts verfälscht. Auch spricht er nicht von Dingen, die nur ihn angehen, und erzählt nichts, was nicht auch ohne seine Erzählerkunst von großer Bedeutung wäre."

Wie steht es, rein künstlerisch, mit dieser Erzählerkunst? Vladimir Nabokow nannte Die Mutter einen "durch und durch zweitklassigen Roman". Und tatsächlich: Wenn Gorki in einigen Literaturgeschichten den zweifelhaften Ruhm genießt, einer der Stammväter oder vielleicht sogar der Stammvater des "Sozialistischen Realismus" zu sein, dann wird besonders Die Mutter unter diesem Vorwurf zu leiden haben. Es kam dem Autor darauf an, Geld für die Partei der Arbeiterbewegung zu sammeln. Später schrieb er selbstkritisch: "... die Mutter ist wirklich ein schlechtes Buch, geschrieben im Zustand des Jähzorns und der Gereiztheit und mit agitatorischer Zielsetzung. Ich glaube aber, daß es in gewissem Grade doch sein Ziel erreicht hat, wodurch es natürlich nicht besser wird, als es ist."

Nach sieben Jahren Exil kehrte Gorki 1913, nach Russland zurück. Sogleich tauchte er wieder ein in die politischen Auseinandersetzungen, kämpfte gegen die immer wieder aufflackernden Judenpogrome und, nach Beginn des Ersten Weltkriegs, gegen großrussischen Nationalismus und abenteuerliche Eroberungspläne. Nach der Oktoberrevolution schrieb er gegen die Exzesse des Bürgerkriegs, auch gegen die von bolschewistischer Seite. Wahrscheinlich war es diese Kritik, die Lenin veranlasste, den unbequemen Schriftsteller 1921 ins Ausland zu schicken. Lungenkrank verbrachte er weitere zehn Jahre fern der Heimat, meist in Sorrent, und nur nach 1928 kehrte er auf Reisen gelegentlich in die Sowjetunion zurück.

Die Galionsfigur

Erst 1932, für die letzten vier Jahre seines Lebens, folgte die endgültige Übersiedlung auf die Krim. Gorki übernahm offizielle Funktionen, etwa den Vorsitz im neugegründeten Schriftstellerverband. Er war in den 30er Jahren, als man seine Geburtsstadt Nischni Nowgorod auf seinen Namen taufte, unermesslich berühmt, genoss Verehrung im ganzen Land - kaum eine Arbeiter- oder Studentenbehausung, an deren Wand sein Konterfei fehlte: das strenge Gesicht mit den Kalmückenknochen, den prüfenden Augen und dem struppigen Nietzsche-Schnurrbart.

Natürlich bleibt die Frage, was Gorki von Stalin, dem sowjetischen Diktator, wirklich hielt, ob er blind war für dessen Exzesse und die russische Wirklichkeit unter dem Kommunismus: die Ermordung der Kulaken, den Terror der Geheimpolizei, die Existenz der Lager und das große Netz des Gulag, das das Land überzog und sich gerade in den 30er Jahren immer mehr zu füllen begann, während Partei und Regierung den berühmten Dichter hofierten. Niemals wollten die Spekulationen darüber abreißen, dass auch bei Gorkis Tod die Geheimpolizei Tscheka ihre Hand im Spiel hatte, zumal er viele missliebige Künstler und Schriftsteller ihrem Zugriff zu entziehen gewusst hatte.

Mit einer rein retrospektiven Betrachtung, sozusagen vom schlechten Ende her, kann man Gorki nicht gerecht werden. Seine persönliche Integrität ist vielfältig bezeugt, und wenn er auch als Galionsfigur des Regimes missbraucht wurde und sich missbrauchen ließ, so steht sein Sinn für literarische Qualität außer Frage. In künstlerischen Dingen tolerant und undogmatisch, förderte er Autoren unterschiedlichster Herkunft und Schreibweise. Immer wieder hat er sich für verfolgte und bedrohte Schriftsteller eingesetzt - unter Stalins Herrschaft ein riskantes Unternehmen. Er hielt seine Hand über Boris Pilnjak, als dieser den Diktator in einer Erzählung öffentlich attackierte, und er schützte Isaak Babel, den begabtesten unter den jungen russischen Autoren, solange er selbst am Leben war - Pilnjak und Babel fielen erst nach Gorkis Tod den sogenannten "Säuberungen" zum Opfer. Babel hat es Gorki gedankt, ihm einige seiner Erzählungen gewidmet und hochherzig über ihn geschrieben. "Alles, was es in der Sowjetunion an Hervorragendem gibt, ist von ihm entdeckt und großgezogen worden ..."


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Bis der reitende Bote des Königs erscheint. Über Oper und Literatur.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2018, S. 72 - 76
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2018

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