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BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)


Wenn der gesellschaftliche Konsens mörderisch wird...

Organentnahme - bis heute ein Tabu

Roberto Rotondo - Foto: © 2011 by Schattenblick

Roberto Rotondo
Foto: © 2011 by Schattenblick

Angeblich gibt es eine Hirntod-Diskussion. Angeblich geht es dabei um die keineswegs neue Frage, "wie tot ein hirntoter" Mensch denn nun sei. Angeblich muß auf diese Frage eine neue Antwort gefunden werden, weil sich die lange Zeit als feststehende wissenschaftliche Erkenntnis gehandelte These, der menschliche Organismus werde vollständig durch das Gehirn gesteuert, weshalb es legitim sei, aus dem "Tod" des Hirns auf den "Tod" des Menschen zu schlußfolgern, nicht mehr aufrechterhalten läßt. Diese These gilt als widerlegt; wer an ihr - in wissenschaftlicher Hinsicht - festhält, diskreditiert sich selbst. Doch worum geht es bei dieser vermeintlichen Fachfrage überhaupt? Ist sie, und wenn ja inwiefern, über den Kreis der an ihr aus den verschiedensten Fachdisziplinen beteiligten Experten und Diskutanten hinaus relevant? Und ist sie überhaupt eine Frage oder ein - wenn auch in Frageform gekleideter - propagandistischer Winkelzug und damit nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems?

Wer die Frage aufwirft, "wie tot ist hirntot?", geht mit dem Wörtchen "wie" leichtfüßig über die Frage hinweg, ob ein für "hirntot" erklärter Mensch überhaupt tot ist. Diese Frage kann aus ihrem praktischen Anwendungskontext nicht herausgetrennt werden, weil sie zu keinem Zeitpunkt dem nackten Wissensdurst geschuldet war. Ihr ging ein ganz spezifisches Interesse voraus. Sie ist der zweite Schritt, der, ohne den ersten zu erwähnen und in die kontroverse Debatte miteinzubeziehen, nicht einmal angemessen dargestellt, geschweige denn in einen konstruktiven Prozeß öffentlicher Streitbarkeit übergeführt werden kann. Die medizinhistorischen Fakten, die diesen Zusammenhang aufs Deutlichste veranschaulichen, sind sattsam bekannt und schon im Vorspann des Kongreßprogramms "Die Untoten" nachzulesen [1]:

Auf die erste Herztransplantation in Südafrika folgte die Entscheidung des Harvard-Komitee in Boston, den Gehirntod als Todeskriterium festzulegen. Vorsitzender war Henry K. Beecher, der in den 50er Jahren die amerikanische Folterforschung beraten hat. In der Villa Schuster, in der Nähe von Frankfurt am Main experimentierte die CIA und hier ist er mit dem Dachauer Naziarzt Walter Schreiber häufiger zum "Erfahrungsaustausch" zusammengekommen.

Liegt nicht allein aus der zeitlichen Koinzidenz die Bewertung nahe, daß durch eine administrative Maßnahme, sprich die 1968 von einer aus zehn Medizinern, einem Juristen, einem Historiker und einem Theologen an der Harvard University in Boston gebildete Ad-hoc-Kommission geschaffene Hirntod-Definition, ein neuer "Tod" geschaffen wurde, um den Organraub an lebenden Menschen juristisch zu ermöglichen? Immerhin war in jener Zeit in Japan ein Arzt, der einem hirntoten Patienten Organe zur Transplantation entnommen hatte, wegen Mord verurteilt worden. Es bestand also - aus ärztlicher Sicht und im Interesse all derjenigen, die die Transplantationsmedizin betrieben bzw. von ihr zu profitieren suchten - Handlungsbedarf. Aus der Tatsache, daß seit über vier Jahrzehnten auf Grundlage des sogenannten Hirntod-Konzeptes das legale Ausweiden von Menschen betrieben wird, kann nicht geschlußfolgert werden, daß für hirntot erklärte Menschen tatsächlich tot seien.

Der Diplom-Psychologe und frühere Krankenpfleger Roberto Rotondo ging auf dem Kongreß auf diese und viele weitere Aspekte dieses höchst prekären Themas ein. Wiewohl auch er seinen Vortrag [2] unter den Titel "Wie tot ist hirntot?" gestellt hatte, ließ sich aus seinen Ausführungen, seiner Argumentation und Darbietung unschwer entnehmen, ohne daß der Referent dies hätte explizit ausformulieren müssen, daß "hirntote" Menschen für ihn alles andere als tot sind. Rotondo überließ es seiner Zuhörerschaft, in dieser Frage eigene Schlußfolgerungen zu ziehen, was in diesem Fall keineswegs der generell wie auch auf diesem Kongreß nicht selten anzutreffenden Haltung, eine direkte Stellungnahme zu vermeiden und sich auf einem der vieltausendfach möglichen Pfade herauszureden, geschuldet war. Er tat dies mit Bedacht und überließ es den interessierten Zuhörern, unter denen sich auch viele Menschen aus dem Bereich der Krankenpflege befanden, Schritt für Schritt nach- und mitzuvollziehen, was er ihnen zu vermitteln hatte.

Wie ein roter Faden zog sich durch seinen Vortrag die Kernaussage, daß Menschen, die direkt mit der Pflege und Betreuung von als "hirntot" geltenden Patienten befaßt und/oder mit der an ihnen vorgenommenen Explantation unmittelbar konfrontiert sind, diese Patienten nicht als tot empfinden. Es ist dem gesellschaftlichen Konsens geschuldet, sich bei der Beschreibung und Vermittlung all dessen, was aus Sicht der Pflegenden zum Thema Hirntod und Organentnahme zu sagen wäre, auf den Bereich der Empfindungen zurückzuziehen. Die Gründe liegen auf der Hand, haben doch die Transplanteure bzw. die diese medizinische Entwicklung vorantreibenden gesellschaftlichen Kräfte und Institutionen die Deutungshoheit über die Begrifflichkeiten an sich gerissen, so daß Pflegende, die behaupten würden, in dieser oder jener Klinik seien einem lebenden Menschen sämtliche funktionsfähigen Organe entnommen worden, wodurch dieser natürlich ums Leben gekommen sei, mit juristischen Sanktionen zu rechnen hätten.

Einer solchen Aussage würde zudem entgegengehalten werden: Was behauptest du denn da, der Mensch war doch hirntot? Roberto Rotondo hat in seinem Vortrag neben einem informativen und aufschlußreichen medizinhistorischen Exkurs die unmittelbaren Erfahrungen von Menschen aus dem Pflegebereich zur Sprache gemacht. Dabei stellte der Referent keineswegs seine eigenen Erfahrungen in den Mittelpunkt, sondern bezog sich auf die Ergebnisse seiner Diplomarbeit, die unter dem Titel "Belastung und Bewältigung von Pflegekräften in der Transplantationsmedizin" am Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg erstellt wurde und in deren Rahmen er umfangreiche Interviews mit betroffenen Pflegekräften durchgeführt hatte.

Schon im Sprachgebrauch der in der Betreuung "hirntoter" Patienten tätigen PflegerInnen läßt sich - auf der Basis vieler weiterer Veröffentlichungen zum Thema - ablesen, wie wenig diese davon überzeugt sein können, tatsächlich Tote zu pflegen ("Restmensch", "belebte Materie", "Nicht-zu-Ende-Gestorbene"). Der Zugriff, um nicht zu sagen Raubgriff, auf diese Menschen bzw. ihre Organe, die Objekte der transplantationsmedizinischen Begierden, spiegelt sich noch deutlicher im Sprachgebrauch der Pflegekräfte: "Ganzkörper-Lagerstätten", "natürlicher Brutkasten" (in Hinsicht auf eine als "hirntot" geltende schwangere Frau), "menschliches Gemüse" und dergleichen mehr. Zugleich legen die sprachlichen Ausdrücke Zeugnis ab über den Versuch der beteiligten Berufsgruppen, wie zu vermuten steht, die eigenen Zweifel und widerstreitenden Empfindungen zu übertönen durch Begriffe, die das angebliche Totsein "hirntoter" Menschen besonders betonen; so werden beispielsweise in der englischen Fachsprache entnommene Organe als "Cadaveric organ donation" (Kadaverspende) bezeichnet oder mit einem "Stück Holz" verglichen.

Nach Angaben der Deutschen Stiftung für Organtransplantation, so referierte Rotondo, sind bei 75 Prozent aller "hirntoten" Menschen Bewegungen der Arme und Beine festzustellen. Sie liegen - und hier spiegelt der Referent die pflegerische Sicht - im Bett wie "andere bewußtlose Patienten auch". Ihr Herz schlägt und sie fühlen sich beileibe nicht wie Tote an. Kein "Hirntoter" hat Totenflecken oder fällt in Leichenstarre. Keine Pflegekraft würde einen Toten über mehrere Tage hinweg waschen. Bei einem "hirntoten" Patienten können Wunden ausheilen. Sie werden beatmet, und vom Beatmen wird auch gesprochen. Eine Leiche hingegen könnte gar nicht beatmet, sondern bestenfalls "aufgeblasen" werden. Ein "echter" Leichnam würde binnen weniger Stunden von der Station in die Leichenhalle gebracht werden. Kurzum, alles, aber auch wirklich alles, deutet darauf hin, wie sich auf der Basis der vielfältigen Erfahrungen von in Pflegeberufen arbeitenden Menschen, die auch mit Toten in Berührung gekommen sind, sagen läßt, daß als hirntot geltende Patienten anderen Menschen in Zuständen tiefster Bewußtlosigkeit gleichen, aber nicht Toten.

Befürworter der Transplantationsmedizin würden solche Einwände selbstverständlich nicht gelten lassen und die Behauptung aufrechterhalten, daß der Menschen vielleicht äußerlich einen noch lebendigen Eindruck macht, obwohl sein Gehirn und damit sein gesamter Organismus schon gestorben sei. Um dies in dieser Weise behaupten zu können, ist die (widerlegte) wissenschaftliche These von der ausschließlichen Steuerungsfunktion aller Lebensvorgänge durch das Gehirn elementare Voraussetzung. Roberto Rotondo zitierte in seinem Vortrag den Philosophen Prof. Dr. phil. Dieter Birnbacher, der 1998 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer war und vier Jahre zuvor zum Hirntod erklärt hatte [3]:

Faktisch ist sowohl die Bewußtseinsfähigkeit wie die Integration der Körperfunktionen von der Funktion des Gehirns abhängig. Deshalb sind mit dem vollständigen und unumkehrbaren Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen auch die Definitionsbedingungen des Todes - irreversibler Verlust des Bewußtseins und irreversibler Verlust der Integration von Körperfunktionen - erfüllt.

Diese Einschätzung eines Philosophen (!) wurde in Deutschland, wie Rotondo ausführte, von vier wissenschaftlichen Gesellschaften, dem Bundestag, der Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der Evangelischen Kirche zur Basis eigener Erklärungen gemacht, mit denen der vermeintliche Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt wurde. Wenn das, was die Persönlichkeit eines Menschen ausgemacht haben soll, aus der Sicht Außenstehender als unumkehrbar verloren eingeschätzt wird, soll der Mensch tot sein. Wer kann wollen, um einmal gedanklich die Perspektive des für tot erklärten Menschen einzunehmen, daß das eigene Leben in einem körperlich extrem reduzierten Zustand davon abhängt, ob andere Menschen glauben oder annehmen, man verfüge noch über kognitive Fähigkeiten oder ein bewußtes Erleben? Das ist schon eine sehr prekäre Frage, die an Brisanz noch erheblich gewinnt, sobald man berücksichtigt, daß hier gänzlich andere Interessen im Spiel sind, nämlich die Begehrlichkeiten der Transplantationsmedizin an der aus ihrer Sicht verwertbaren Substanz des Menschen.

Friedhofskulisse auf Kampnagel - Sinnbild für die Transplantationsmedizin? - Foto: © 2011 by Schattenblick

Friedhofskulisse auf Kampnagel - Sinnbild für die Transplantationsmedizin?
Foto: © 2011 by Schattenblick

Roberto Rotondo kontrastierte in seinem Vortrag die Praxis der Intensivpflege "hirntoter" Menschen mit den Idealen sowie dem Menschenbild in der Krankenpflege, so wie er sie selbst in der Ausbildung erfahren hat und wie sie noch heute in einschlägigen Lehrbüchern nachzulesen sind. Es ist dies ein, modernsprachlich ausgedrückt, ganzheitliches Menschenbild, in dem der Mensch als eine Einheit von Leib, Seele und Geist gedacht wird. Ganz unabhängig davon, ob Pflegende heute noch diesen weltanschaulichen Vorstellungen anhängen oder nicht, mögen sie doch dazu geführt haben, daß Berufsorganisationen aus dem Bereich der Krankenpflege, so beispielsweise der Deutsche Berufsverband für Krankenpflege (DBfK), dem Hirntod-Konzept widersprechen. Dieser Berufsverband, so Rotondo, verstehe den Begriff "Hirntod" als ein Kunstwort und betrachte einen hirntoten Menschen als einen Sterbenden. Als der Verband 1995 in einer Anhörung vor dem deutschen Bundestag wegen des 1997 verabschiedeten Transplantationsgesetzes eine Stellungnahme abgeben konnte, hat er sich, wie auch die Arbeitsgemeinschaft deutscher Schwesternverbände, gegen die Gleichsetzung "hirntot" - tot ausgesprochen. Es ist nahezu überflüssig zu erwähnen, daß diese Berufsverbände, deren Mitglieder die größte Berufsgruppe bilden, die direkt an Organentnahmen und -implantationen beteiligt sind, kein Gehör fanden.

Kurz gesagt werden durch die Hirntod-Kriterien Lebende zu Toten, von einer Sekunde zur nächsten, allein kraft der administrativen Entscheidung und ohne daß sich unmittelbar an ihrem Zustand irgendetwas verändert hätte. Rotondo sprach in seinem Vortrag ein weiteres (Definitions-) Problem an. Der (vermeintliche) Hirntod wird in verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich festgestellt. In Italien beispielsweise müssen die Ärzte dreimal ein EEG [4] messen, was in Deutschland nicht einmal in jedem Fall vorgeschrieben ist. Auch unterscheiden sich die Gehirnareale, die ausschlaggebend sein sollen für den Hirntod. Während in Deutschland der Gesamthirntod nachgewiesen werden soll, genügt in Großbritannien der "endgültige Ausfall des Hirnstamms, um den Tod oder den Hirntod festzustellen". Doch all dies ist ohnehin mehr oder minder blanke Theorie. Rotondo wies darauf hin und berief sich dabei unter anderem auch auf Dr. Zieger [5], daß sachkundige Mediziner 1995 vor dem Gesundheitsausschuß des Deutschen Bundestages dargelegt haben, daß der Ausfall der gesamten Hirnfunktionen überhaupt nicht feststellbar ist. Ein EEG messe nur drei Millimeter tief unter der Schädeldecke; alles, was darunter liege, könne überhaupt nicht erfaßt werden.

Rotondo zitierte in seinem Vortrag Aussagen namhafter Transplantationsbefürworter, die es ungeachtet ihrer positiven Einstellung gegenüber diesem Medizinbereich augenscheinlich für möglich halten, daß hirntote Menschen Schmerzen empfinden können. Als Beispiel nannte der Referent den Neurologen Dr. Klein, der in seinen Organspendeausweis hineingeschrieben habe, man möge ihm im Falle einer Organentnahme Schmerzmedikamente geben. Dies würde ohnehin recht häufig geschehen, wie Rotondo im weiteren Verlauf darlegte, und zwar entgegen der offiziellen Anweisungen. Vielfach scheinen Anästhesisten auf diese Weise ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen; offenkundig halten auch sie den für hirntot erklärten Menschen, bei dem nun eine "Multiorganentnahme" gemacht werden soll, nicht, wie sie von Berufs wegen müßten, für tot. Schmerzmittel für Tote gelten im Medizinbetrieb als Verschwendung.

Eine weiterer, sehr wesentlicher Themenkomplex in Hinsicht auf die angebliche Hirntoddiskussion und die Transplantationsmedizin insgesamt ist die Frage, wie es denn um die Menschen bestellt ist, denen Organe implantiert wurden. Immer und immer wieder, wenn Kritik, aus welcher Richtung und mit welcher Argumentation auch immer, gegen die Transplantationspolitik vorgebracht wird, stellen sich Befürworter und Betreiber auf den Standpunkt, daß etwaige Nachteile oder Fehlentwicklungen hinzunehmen und zu rechtfertigen seien, weil schließlich anderen Menschen auf diese Weise geholfen werden könne. Der Vortrag Roberto Rotondos war unter anderem auch deshalb so wertvoll und informativ, weil sich der frühere Krankenpfleger und heutige Supervisor im Krankenpflegebereich genau dieser Frage widmete. Seiner Meinung nach können Menschen durch Organtransplantationen nicht geheilt werden. Sie müssen mit negativen körperlichen, seelischen und sozialen Folgen rechnen.

Ein ständiges Problem ist die Gefahr der Organabstoßung, mit der ein Organempfänger für den Rest seines Lebens leben muß und die zu Folgeschäden führt durch die medikamentöse Unterdrückung solcher Reaktionen des Immunsystems. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation müßten 30 Prozent der Empfänger einer Niere von einem "hirntoten" Menschen fünf Jahre später erneut ein neues Organ bekommen. Das Sterberisiko sei nach Angaben des Internisten und Nephrologen Dr. Beige bis zu drei Monate nach der Transplantation höher als das von Dialysepatienten. Müdigkeit, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Schwächegefühle träten häufig auf, Krebserkrankungen, insbesondere Hautkrebs, seien ein großes Problem. Psychische Probleme seien auch sehr häufig. Viele Organempfänger haben Schwierigkeiten, das "fremde" Organ sozusagen psychisch zu integrieren; sie spüren es wie ein externes Organ und haben Identitätsprobleme, haben Angst, sich zu verlieren oder nicht mehr zu wissen, wer sie sind.

Zum Abschluß des Vortrags widmete sich der Referent der Situation der Pflegekräfte, die er aus eigener Anschauung wie auch aus seiner Beratertätigkeit kennt. Laut Transplantationsgesetz soll "die Würde des Verstorbenen während der Organentnahme gewährleistet sein" und das Äußere des Leichnams nach der Entnahme wiederhergestellt werden. Zu der Frage, wie diese gesetzlichen Anforderungen in der Praxis umgesetzt werden - wenn überhaupt -, ließ er in Interviewzitaten die Pflegekräfte sprechen, die er im Rahmen seiner Diplomarbeit zu ihren Erfahrungen befragt hat. Diese Zeugnisse haben einen hohen Stellenwert infolge ihrer Glaubwürdigkeit, zumal sie überwiegend von Pflegekräften stammten, die ihrem Beruf und auch der Transplantationsmedizin positiv gegenüberstanden. Damit hat Roberto Rotondo den ihm möglicherweise entgegengebrachten Einwand, es könnte sich um Beschreibungen von Transplantationskritikern handeln, schon im Vorwege entkräftet.

Diese Dokumente sind aussagekräftiger als wissenschaftliche Untersuchungen oder empirische Daten, da sie ein für jeden Menschen unmittelbar nachvollziehbares Empfinden zum Ausdruck bringen und dadurch eine ganz eigene Überzeugungskraft entfalten. So untermauert der Referent seine Überzeugung, daß ein Sterbender während der Organentnahme sein Leben beendet und dies nicht bereits, wie behauptet wird, zuvor geschehen sei, mit Schilderungen von Pflegekräften, die unmittelbar an der Entnahme beteiligt waren. Eine von ihnen äußerte sich demnach folgendermaßen [6]:

Also, dass das da jetzt, dass du jetzt hier plötzlich aus, aus 'nem Spendepatienten 'ne Leiche also ... jetzt irgendwie wirklich 'nen Toter wird, ehm. Das wird eigentlich dann erst offensichtlich, wenn, wenn's ruhiger wird irgendwie, wenn die Hektik jetzt vorbei ist und die Organe weg sind, die Anästhesie tritt ab. ... Und so ganz offensichtlich ist es dann erst dann, wenn man die Abdeckung dann wegnimmt und dann wirklich nunmehr 'ne Leiche auf 'n Tisch ...

Ein weiterer Einwand könnte darin bestehen, daß die Pflegekräfte durch ihre langandauernde und immer wiederkehrende Belastung besonders empfindlich oder vielleicht traumatisiert sein könnten und aus solchen Gründen, ohne daß ihnen dies vorzuwerfen sei, die Geschehnisse drastischer erleben würden, als sie es tatsächlich seien. Doch auch Menschen, die nie zuvor etwas Ähnliches erlebt haben, reagieren extrem, um nicht zu sagen sehr extrem, wie eine weitere Beschreibung, diesmal von der Diplom-Psychologin Sibylle Storkebaum, die beruflich mit Transplantierten arbeitet und sich deshalb einmal eine solche Entnahme angesehen hat [7], zu belegen imstande ist:

Das Chirurgenteam nimmt die Leber heraus. Ich will gehen. Ich kann nicht mehr, will nicht mehr erleben, wie alle Körperhöhlen so leer aussehen werden wie der Brustkorb, will nicht mehr Zeuge des Zunähens, Waschens, Herrichtens für die Beerdigung sein. Ich sehne mich nach warmen Armen, die mich liebevoll bergen, nach einer Seele, die meinen Kummer mittragen wird [...].

Worte, die stärker sind als Bilder und deshalb auch diesen Bericht beenden sollen.


Fußnoten:

[1] http://www.untot.info/4-0-Programm.html

[2] http://www.transplantation-information.de/veroeffentlichungen/vortraege/wie_tot_ist_hirntot_die_untoten_2011.html

[3] Im Vortrag von Roberto Rotondo zitiert aus: Prof. Dr. phil. Dieter Birnbacher. Einige Gründe, das Hirntodkriterium zu akzeptieren. In: Johannes Hoff & Jürgen in der Schmitten (Hrsg.). Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium. Rohwohlt März 1994. S. 35.

[4] EEG - Abkürzung für Elektroenzephalogramm, das durch am Kopf angelegte Elektroden das elektrische Potential der Gehirnzellen aufzeichnen soll

[5] Andreas Zieger, siehe BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)

[6] Im Vortrag von Roberto Rotondo aus seiner Diplomarbeit zitiert:
Rotondo, R. Belastung und Bewältigung von Pflegekräften in der Transplantationsmedizin. Diplomarbeit im Studiengang Psychologie des Fachbereichs Psychologie der Universität Hamburg. Klassifikation: 428

[7] Im Vortrag von Roberto Rotondo zitiert aus: Storkebaum, S. Jetzt ist's ein Stück von mir! Alles über Organtransplantationen. Kösel 1997, S. 46


Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)

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27. Mai 2011