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BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)



Gesundheitsdoktrin und Sterbeverfügung gehen Hand in Hand

Petra Gehring - Foto: © 2011 by Schattenblick

Petra Gehring
Foto: © 2011 by Schattenblick

Es mag wohl so gewesen sein, daß Menschen in grauer Vorzeit, die sich in einer Domäne voller Geheimnisse und Gespenster wähnten, während ihnen die Selbsterkenntnis als lebendiges Wesen fremd war, viel zu sehr damit beschäftigt waren, tödlichen Gefahren aus dem Wege zu gehen und das Notdürftigste zum nackten Überleben aufzustöbern. Wohl kannten sie den Tod, vielleicht nicht unter diesem Namen, aber so doch als Phänomen oder unbegreifliche Macht, die Angehörige unwiderruflich aus dem Kreise ihrer Gemeinschaft riß.

In der Kultur- und Zivilisationsgeschichte des Menschen hat sich über Jahrhunderte der Auseinandersetzung mit dem Tod ein Sammelbecken aus ungelösten Fragen und Fragmenten eigener Ohnmacht angehäuft. Diese resultierten zuweilen in religiös motivierten Ritualen, um die Schrecknisse des Dahinscheidens je nach dem Stand der Epoche entweder in der Scheu symbolhafter Gleichnisse oder der Plastizität allegorischer Figürlichkeit zu rationalisieren. Im Vordergrund eigener Überlegungen war die Existenz stets vergegenwärtigt einesteils durch die Notlagen von Hunger, Kälte und Gewalt und andererseits durch die Furcht vor Krankheit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit. In den Augen der Überlebenden trat und tritt der Tod als finaler Abbruch der Mitteilungsfähigkeit des Verstorbenen in Erscheinung, so daß sein Mysterium nach wie vor die Fantasie und Furcht der Menschen erregt.

Im Vortrag der Philosophin Petra Gehring auf dem Kongreß "Die Untoten" stand der "deregulierte Tod" auf dem Programm. Die Konnotation zu einem Kernbegriff neoliberaler Gesellschaftsideologie macht Sinn, wie sich bald zeigen sollte. Als Einstieg wählte die Referentin eine historische Rückschau auf den gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Tod und Sterben. Den Zeitpunkt dafür verortete sie um das Jahr 1800, als sich ein der Aufklärung verpflichtetes Europa der Fragestellung des Lebens zuwendete, wodurch die vordem in körperlosen Prinzipien wie Seele, Geist oder Gott transportierten Vorstellungen von Lebendigkeit durch den Fortschritt einer systematischen Verstofflichung neu verhandelt wurden.

Gehring wies darauf hin, daß Ärzte von ihrem Berufsverständnis her zwar Krankheiten benötigten, um diese vertreiben oder kurieren zu können, aber daß sie sich nicht notwendig für das Leben zuständig sahen. Das Gebären von Nachwuchs einerseits und der alternde und sterbende Körper zum anderen - in diesem Spannungsfeld von Geburt und Tod habe sich die europäische Geistesgeschichte in einer langen Tradition von der Antike her bewegt und dabei verschiedene kognitive Perspektiven für das Leben entwickelt. Die Beseelung des Körpers als Ursache und Letztbegründung für dessen Lebendigkeit oder das Ein- und Ausgehen eines dynamisierenden Geistes in Form des Atems und schließlich religiös verklausuliert in der Litanei des Lehmklumpens als Gabe Gottes: Denkvoraussetzungen, in denen Leben einem gleichsam toten Körper eingegeben wurde und diese Essenz das Gefäß einst wieder verlassen würde, wie auch das Shakespearesche Poem von Prometheus' Funken, der, einmal erloschen, nie wieder zu entzünden sei, in diese Aufzählung gehört.

Unter diesen Auspizien wurde Leben als eine dem Menschen zugerechnete Zeitspanne verstanden, eine befristete Leihgabe der Ewigkeit, während das persönliche Dasein als reproduzierbarer Erzählstoff herhalten mußte, der Form nach vergegenständlichte Vergangenheit, die den Faden verloren geglaubter Erinnerungen an Abenteuer oder Mißgeschicke zur Gegenwart spannte. "Leben war der Name für die Zeit, die wir haben", zog die Philosophin Resümee über ein noch nicht in die biologische Stofflichkeit gebanntes Vermögen, dessen Objektivierung den Zugang zu einer fremdnützigen, der Verwissenschaftlichung des Körpers gemäß zusehends abstrakt begründeten Verwertbarkeit eröffnete.

"Ab etwa 1800 beginnt sich die Medizin, die frühe Physiologie, das Leben als etwas Naturstoffliches vorzustellen. Ein Naturstoff, der sozusagen identisch ist mit dem, was unseren Körper ausmacht", beschreibt die Referentin den Übergang zur neuen Materialität des Körpers, um sogleich die Frage aufzuwerfen, was das für eine stoffliche Angelegenheit sei, die das physische Leben bedinge und deren Schwinden sein Ende einleite?

Die Frage markiert die Geburtsstunde der modernen medizinischen Wissenschaft und aller Disziplinen, die mit kategorialen Zuschreibungen zu ihrer Beantwortung beigetragen haben. In jener Zeit war es vor allem die Physiologie, die die Entdeckung der Nerven auf die Entwürfe des Lebens übertrug und den zuckenden Froschschenkel zur Signatur einer biostofflichen Methodik erhob, die das Agens des Lebens parallel zur Elektrifizierung der Städte und Fabriken im Funken dieser neuen Energieform ansiedelte. Daraus entwickelte sich ein verallgemeinernder Grundbegriff des Lebens, der für alle Bioorganismen gleichermaßen geltende Prozesse des stofflichen Werdens postulierte.

Über die Stoffvorstellung hinaus differenzierte sich das Bild des Körpers als eines funktionell definierten, die einzelne Zelle als Grundeinheit physischer Organisation bestimmenden und in seinen zentralnervösen Steuerungselementen hierarchisch strukturierten Systemverbunds aus. Die Etablierung der Biologie als eine der Chemie und Physik gleichrangige Naturwissenschaft nahm damals ihren Anfang, um heute im Rahmen der Life Sciences Grundlagenforschung molekularbiologischer und humangenetischer Art zur biomedizinischen Zurichtung des Menschen zu leisten.

Es ist ein Schritt im gleichen Lauf, daß das Postulat eines Natur- oder Biostoffs, das unterschiedslos auf alle Organismen bezogen wird, in seiner Funktionslogik Anwendung auch auf ganze Populationen findet. Damit kam ein Begriff von Bevölkerung auf, der die Verwaltbarkeit und Bewirtschaftung eines Staatsvolkes zum Gegenstand hat, standen die Regierungen doch vor der Herausforderung, zusehends komplex formierter und aufwendig zu regulierender bürgerlicher Gesellschaften Herr zu werden.

Damals entstanden auch Soziologie, Anthropologie und eine Medizin, die sich nicht mehr auf den prototypischen Patienten, dessen Krankheiten sie zu heilen hatte, beschränkte. Man arbeitete an einem positiven, an Optimierungseffekten orientierten Gesundheitsbegriff, der nicht zuletzt integraler Bestandteil volkswirtschaftlicher Leistungsfähigkeit sein sollte. Daß sich in jener Zeit auch der Leistungssport und die Vorstellung von der Trainierbarkeit des Einzelnen etablierte, paßt ins Bild einer programmatischen Individualisierung, die jedoch im Binnenbereich der gesellschaftlichen Normierung des gesunden Körpers zu verbleiben hat, wenn sie den sozialen Wert einlösen will, der ihr zugeschrieben wird.

Petra Gehring mit Publikum - Foto: © 2011 by Schattenblick

Vollbesetzter Saal zeugt von Interesse des Publikums
Foto: © 2011 by Schattenblick

Vom Leben als persönliche Geschichte über die Verstofflichung des Vitalen bis zur biopolitischen Normierung des Körpers - diesen keineswegs zufälligen Entwicklungsstrang dem Publikum zugleich nüchtern und engagiert begreifbar gemacht zu haben war der wesentliche Ertrag des Vortrags der Darmstädter Wissenschaftlerin. Die Konnotierung der Schwerpunkte und Widerspruchslagen in der Thesenbildung bis in die Neuzeit fortreichender Gesundheitsmythologien, die im Laufe des 19. Jahrhunderts den Anfang eugenischer und völkischer Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitiken nahmen, erweitert das Verständnis für die Risiken und Gefahren moderner Sterbepolitik. Daß sich im Zuge der Ökonomisierung des Lebens nach Maßgabe der Rentabilität auch eine Tabuisierung bis Unsichtbarmachung des Todes und damit der weitreichenden Verdrängung von Schmerz, Hilflosigkeit und Verzweiflung im letzten Lebensabschnitt eines Menschen einstellen, kann nicht verwundern: "Der Entwertung steht die Inwertsetzung entgegen." [1]

Mit dieser treffenden Aussage Petra Gehrings, die dem während des Kongresses "Die Untoten" ausliegenden Magazin der Kulturstiftung des Bundes zu entnehmen war, wird der Finger in eine besonders schmerzhafte Wunde gelegt. Es sind die Todesumstände, die Nutzen erbringen sollen, wenn der sterbende Körper zur Rohstoffquelle funktionalisiert und am noch durchbluteten Leib die Organentnahme vorgenommen wird. Daß eine Gesellschaft solches rechtlich mit dem zerebralen Kriterium des Hirntods deckt, ist nicht grundlos Anlaß zu Sorge und Empörung. Aus nach Maßgabe einer von fremden Nutzungsinteressen dominierten Todesdefinition für tot erklärten Körpern das letzte zu kapitalisierende Substrat herauszulösen belegt, daß "rund um die stofflichen, zeitlichen und qualitativen Potenziale von Leben ein Markt entstanden ist" [1]. Die Deregulierung des Todes findet statt, wird er doch durch "Szenarien eines vorgezogenen Sterbens ersetzt" [1]. Das Sterbebett ist eines dieser Szenarien willkürlicher Verletzlichkeit. Die Inwertsetzung des Lebens allerdings läßt sich bis auf die Anfänge des Begriffs zurückdatieren.

Daß die Sterbehilfe schon im ausgehenden 19. Jahrhundert konzeptionell vorgedacht wurde, lag auf der Linie eugenischer Entwürfe, die durchaus von Protagonisten fortschrittlichen Selbstverständnisses artikuliert wurden. So hatte Adolf Jost, ein pyschologisch ausgebildeter Ökonom, 1895 ein Pamphlet herausgegeben, in dem er einesteils ein Recht auf den Tod einklagte, womit aber nicht der Freitod gemeint war, und andererseits Kriterien dafür formulierte, unter welchen Umständen es für eine Gesellschaft rechtens sei, den Tod eines Individuums einzufordern. Nur unter diesem Doppelstern ist Sterbehilfe denk- und praktizierbar.

Der Wunsch, schwerstkranken und unter unerträglichen Schmerzen leidenden Menschen durch einen Gnadentod die Erlösung ihrer Qualen bringen zu wollen, schlägt in seiner gesellschaftlichen Verselbständigung leicht in die Herabwürdigung ihres Daseins als lebensunwert um. Das unschwer zu dechiffrierende Motiv der politischen Beschlußfassung zum deregulierten Tod ist wirksam tabuisiert. Dieser sozusagen von Amts wegen angebotene Sterbehilfetod war von Jost zum Beispiel Psychiatriepatienten zugedacht. Wer noch alles unter die Ratio einer mörderischen Lebenswertideologie fallen konnte, wurde in der Euthanasiepolitik des NS-Staats vorgeführt. Der angeblich minderwertige Mensch, der damals als "Ballastexistenz" zum gesamtgesellschaftlichen Schadensfall erklärt wurde, wird in der Bezichtigungsdemagogie sozialrassistischer Volkstribune auf unheimliche Weise erneut zum Ziel eliminatorischer Logik.

Der Vorgriff auf und die Vorwegnahme von Umständen und Dispositionen des Sterbens, die sich für einen davon noch nicht betroffenen Menschen in keinen Situationszusammenhang stellen lassen, tragen zur Verunsicherung bei. Nichts spricht gegen ein Testament, in dem man seine Vermögensangelegenheiten vor dem Ableben regelt, einen Ehevertrag, mit dem Vorkehrungen für den Fall der Scheidung getroffen werden, oder eine Versicherung für den noch nicht eingetretenen Schadensfall. Das alles erfüllt einen Zweck auch in der augenblicklichen Wahrnehmung der eigenen Situation. Jedoch in einer Patientenverfügung für den Fall einer Einwilligungsunfähigkeit vorweg einen Punktekatalog gegen die zahlreichen Arten zu sterben zu erstellen, wann und ob Sterbehilfe zu leisten wäre, inwieweit lebenserhaltende Maßnahmen zu treffen oder mögliche Lebensrettungen gegen zu erwartende Schädigungen an Leib und geistiger Verfaßtheit vorzuentscheiden sind, fordert dem Verfasser ab, Zustände zu vergegenwärtigen, die meist jenseits seines Erfahrungshorizontes liegen.

In den aktuell verhandelten Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung der Bundesärztekammer werden hinsichtlich der Veränderung des Behandlungszieles zwei Gruppen von Patienten unterschieden, bei denen keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr verpflichtend sind, worunter auch der Entzug von Wasser und Nahrung fällt. Die eine Gruppe betrifft die von Lebensbeginn an nichteinwilligungsfähigen Patienten, die andere solche, die im Laufe ihres Lebens die Fähigkeit, ihren Willen zu bilden und zu äußern, verloren haben. Das betrifft auch Patienten mit Demenz, was eine dramatische Veränderung im Zu- und Vorgriff auf die Patientenrechte darstellt bis hin zu dem Punkt, daß zum Beispiel Locked-in-Patienten, die ihren Willen zwar bilden, aber nicht äußern können, weil sie einen bestimmten Typus von Lähmung aufweisen, aber im Prinzip keine Komapatienten sind, im Sinne nichtvorhandener Äußerungsfähigkeit ebenfalls unter die weitreichend auslegbare Formulierung fallen. Gehring, die sich besonders interessierten Zuhörern nach ihrem Vortrag im Vorhof des Kampnagelgebäudes für weitere Fragen zur Verfügung stellte, zufolge könne man dies auch so deuten, daß man an einer Großformel arbeite, durch die zumindest in einer nahen Zukunft alle Fälle von Demenz und anderen Formen der Kommunikationsinsuffizienz in die Sterbehilfe-Administration geraten könnten. Demente sind keine Sterbenden, und doch könnte an ihnen aufgrund einer Abwertung des Lebens vor dem Tode die gleiche Richtschnur angelegt werden. Dies und der merkwürdige Umstand, daß die Berufsgruppe der Ärzte und Intensivpfleger nur in kleiner Zahl Patientenverfügungen ausstellen, während diese bei weiter von der realen Entscheidungssituation entfernten Menschen auf wachsende Akzeptanz stoßen, lassen aufhorchen.

Fußnote: [1] Petra Gehring: Leben frisst Tod? Sterben in einer Epoche des Lebens; Magazin der Kulturstiftung des Bundes, Nr. 16

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)

Petra Gehring nach dem offiziellen Ende des Vortrags - Foto: © 2011 by Schattenblick

Im kleineren Kreis offengebliebene Fragen diskutieren ...
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30. Mai 2011