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BERICHT/018: "Die Untoten" - Kapitalgespenster - Zur Ästhetik fehlender Theorie (SB)


Der Verwirrung zum Wohlgefallen

"Das Gespenst des Kapitals" wirbelt Marx und Kafka, Untote und Zombies durcheinander

Joseph Vogl und Philipp Ekardt - zwei Poststrukturalisten im Gedankenaustausch - Foto: © 2011 by Schattenblick

Joseph Vogl (links) und Philipp Ekardt (rechts) - zwei Poststrukturalisten im Gedankenaustausch
Foto: © 2011 by Schattenblick

Psst. Nicht weitersagen. Es gibt nichts Gefährlicheres als Kinderfragen oder, genauer gesagt, Menschen, die sich das Privileg, solche Fragen zu stellen und bedingungslos zu verfolgen, im Verlauf ihrer gesellschaftlichen Initiation, genannt Erziehung oder Erwachsenwerden, nicht haben nehmen lassen. Ein Titel wie "Das Gespenst des Kapitals" muß die Neu- und Wißbegierde jüngerer und keineswegs nur jüngerer Menschen geradezu magisch auf sich ziehen, verspricht er doch durch die eher unübliche Verquickung des gemeinhin in Volksglauben und Literatur verorteten Gespensterbegriffs mit einem wirtschaftswissenschaftlichen Ausdruck wie dem Kapital Antworten auf bis dahin ungestellte Fragen. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl, dessen Forschungsschwerpunkte laut Wikipedia [1] unter anderem in der Verschränkung von Wissen und Literatur liegen und der in der "Tradition der poststrukturalistischen Philosophie" steht, hat seinem jüngsten, im vergangenen Jahr erschienenen Buch diesen Titel gegeben.

Auf dem Kampnagel-Untoten-Kongreß trat Vogl zu diesem (Buch-)Thema als Referent auf. Genauer gesagt wurde er von einem Fachkollegen, dem Literaturwissenschaftler Philipp Ekardt, zu seinem Buch befragt, auf daß sich für die Zuhörer ein interessantes Gespräch entspann, so sie denn die Bereitschaft, zwischen im Grunde unzusammenhängenden und bestenfalls lose verknüpften Satz- und Aussagefragmenten Brücken und Verbindungen herzustellen ebenso mitbrachten wie das generelle Interesse an Ausflüchten und Ausweichmanövern angesichts womöglich beängstigender Kinderfragen.

Das Wort "Gespenst" ist etymologisch als "Verlockung, (teuflisches) Trugbild, Geistererscheinung" auf das mittelhochdeutsche Verb "spanen" in der Bedeutung von "locken, reizen" zurückzuführen, weshalb vermutet werden könnte, daß in "Das Gespenst des Kapitals" der Kapitalismus als Herrschaftsform seiner Mystifizierungen entkleidet und unverschnörkelt- nüchtern als inakzeptable Form der Verfügung des Menschen über den Menschen analysiert und bewertet werden könnte. Doch nichts dergleichen lag dem Autoren und Referenten Joseph Vogl im Sinn. Auf Ekardts Eingangsfrage, in der dieser die Behauptung aufstellte, bei Vogls jüngstem Buch könne von "einer kritischen Re-Lektüre der Wirtschaftstheorien bzw. einer kritischen Wiederbetrachtung der westlichen Wirtschaftsformen der vergangenen Jahrhunderte" gesprochen werden, stellte Vogl klar, daß es sich bei dem von ihm gewählten Buchtitel um ein indirektes Zitat handelt, das auf den berühmten Satz aus dem Kommunistischen Manifest ("Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus") zurückgehe und diesen "gewissermaßen ironisch" breche.

Nun offenbart dieser Satz eine Außensicht; wer sich in jener Zeit der kommunistischen Bewegung zugehörig gefühlt und sich die von ihr propagierten klassenkämpferischen Positionen zu eigen gemacht hatte, wird kaum von sich und seinen Mitstreitern als einem in Europa umgehenden Gespenst gesprochen haben. Somit münzte das Autorenteam Marx/Engels diesen in das Kommunistische Manifest einleitenden Satz, wie zu vermuten steht, eher an die Adresse der gegnerischen Klasse, vielleicht, um der Bourgeoisie zu verstehen zu geben, daß sie von nun an einen Gegner zu fürchten habe. So müßig historische Spekulationen dieser Art sein mögen, so fehlangewandt ist diese Deutung auf Joseph Vogl und das von ihm kreierte "Gespenst des Kapitals".

Den besagten Satz und mit ihm stellvertretend die bislang unerfüllt gebliebene Gesellschaftsutopie Kommunismus "ironisch zu brechen", ist weder eine intellektuelle Meisterleistung noch ein durch eine klare politische Stellungnahme bemerkenswertes Ereignis. Es mag sogar sein, daß Vogl den klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Werken, ob marxistisch oder nationalökonomisch, in seiner Verarbeitung und Übertragung inhaltlicher Aussagen und analytischer Ansätze, mögen diese ihrerseits auch in sich gebrochen sein, nicht einmal gerecht zu werden vermag, was einem Literatur- und Kulturwissenschaftler nicht anzulasten wäre, würde er nicht - salopp gesagt - den Mund ein bißchen zu voll nehmen bei dem Versuch, die Welt und ihre Geschichte in ein paar Sätzen (neu) zu deuten:

Man kann - und das ist eine eminent ökonomische Angelegenheit - spätestens seit dem 17. Jahrhundert bemerken, daß die abendländischen, europäischen Gesellschaften ein zentrales Problem entdecken, ein Reichtumsproblem, und das ist die Frage nach der Fruchtbarkeit der Bevölkerung. Der Hintergrund - und das ist durchaus dramatisch - ist der 30jährige Krieg, die Entvölkerung ganzer Landstriche in Europa und der Versuch der nach dem Westfälischen Frieden entstehenden Territorialstaaten, Reichtum zu produzieren. Und Reichtum heißt nun zunächst einmal wirklich, Fertilität zu produzieren. Also dieser christliche Imperativ, dieser biblische Imperativ: Mehrt Euch! wird spätestens seit dem 30jährigen Krieg wirklich zum politischen Imperativ in den europäischen Staaten.

Die Frage von Reichtum und damit logischerweise auch Armut auf die Fruchtbarkeit bzw. den Reproduktionszwang zu reduzieren, kennzeichnet Vogl als einen Vertreter herrschaftskonformer Positionen, der sich nicht nur nicht kritisch zu Kapitalismus oder zum Kapital äußert, sondern, wenn auch auf verschlungenen Pfaden, in das Lied der Akzeptanz und vermeintlichen Alternativlosigkeit herrschender Verhältnisse einstimmt. Man mag Marx vorwerfen, hinter den ersten Schritt, nämlich zu erkennen, daß Arbeit nicht vergleichbar ist, gleich wieder zurückgegangen zu sein, indem er von gesellschaftlich notwendiger Arbeit sprach. Eine Marxkritik könnte insofern konstruktiv sein; Vogl allerdings betreibt mit seinem Buch über "Das Gespenst des Kapitals" das Geschäft derjenigen, die augenscheinlich die 1968 auch ideengeschichtlich noch offene Frage und die nicht zu Ende gebrachte Systemauseinandersetzung vergessen machen wollen.

An anderer Stelle offenbart sich Vogl als "68er". In Anspielung auf die damalige Studentenbewegung, die als Kulminationspunkt einer radikalen, außerparlamentarischen Linken gilt, erklärte er, daß 1968 nicht nur "unser aller freundliches Bewegungsdatum" sei, sondern "auch das Datum, an dem die Zombies sich bewegten". Die Zombies?? Gemeint ist das Aufkommen der Zombiefilmkultur, doch daraus einen inhaltlichen Zusammenhang zu konstruieren, so als gäbe es einen, der auf etwas anderes als eine qualifizierte Verwirrung abzielen könnte, läßt tief blicken.

Allerdings, dies muß an dieser Stelle deutlich gesagt werden, befand sich der Autor auf dem Kongreß mit diesem Ansatz in guter Gesellschaft. Wie schon im Titel "Die Untoten - Life Sciences & Pulp Fiction" angedeutet, wird mit der Jahreszahl 1968 eine recht willkürliche Verknüpfung, deren hintergründiger Zweck nicht unbedingt erkennbar ist, vollzogen. Im Kongreßprogramm werden die Fragen "Wann beginnt ein Leben? Wann endet ein Leben? Und wer bestimmt darüber?" aufgeworfen und mit dem Hinweis versehen, daß sich 1968 drei Ereignisse zu einer Konstellation verknüpft hätten, die diese Fragen radikalisierten. Bei diesen Ereignissen soll es sich um die erste Herztransplantation in Kapstadt, die Festlegung des Hirntodes als Todeskriterium und die Revolutionierung des Zombiefilm-Genres durch den Film "Night of the Living Dead" gehandelt haben. Hätte es damals schon eine Internet- und Google-Kultur gegeben, hätte man eine solche Verknüpfung als das Resultat eines auf der Basis einer solchen Recherche postulierten Zusammenhangs bewerten können.

Vogl zu Ekardt - 'Ich weiß nicht, ob ich mehr Leute als dich dafür interessieren könnte.' - Foto: © 2011 by Schattenblick

'Ich weiß nicht, ob ich mehr Leute als dich dafür interessieren könnte.'
Foto: © 2011 by Schattenblick

Doch zurück zu Joseph Vogl und seiner nicht minder willkürlich und beliebig vollzogenen Verknüpfung zwischen Gespenst und Kapital. Folgendes Zitat aus einem Mitte der 1970er Jahre, also kurz nach 1968, veröffentlichten Neuauflage eines Philosophie-Wörterbuchs [2] soll beispielhaft belegen, daß es in jener Zeit recht klare und keineswegs standpunktlose philosophische Vorstellungen über den "Kapitalismus" gab:

Kapitalismus: ökonomische Gesellschaftsformation, die auf dem Privateigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln in der Hand der Bourgeoisie und auf der daraus folgenden Ausbeutung der Arbeiterklasse beruht.

Der Kapitalismus löste historisch den Feudalismus als neue Produktionsweise ab. (...) Als Ergebnis der bürgerlichen Revolution entstand der bürgerliche Staat als Machtinstrument in den Händen der Bourgeoisie zur Sicherung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. (...) Mit der Bourgeoisie entstand auch das Proletariat. Bourgeoisie und Proletariat sind die beiden Grundklassen der kapitalistischen Gesellschaft. Das Proletariat kämpft von seiner Entstehung an gegen die kapitalistische Ausbeutung. (...) Im Kapitalismus ist die zahlenmäßig kleine Klasse der Kapitalisten Eigentümer der Produktionsmittel, während die Mehrheit der Bevölkerung, die sich vor allem aus Proletariern und Halbproletariern zusammensetzt, der Produktionsmittel beraubt ist. Ihre gesellschaftliche Stellung zwingt sie, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und durch ihre Arbeit den herrschenden Gesellschaftsklassen die Reichtümer zu verschaffen.
(...)

Hier werden Stichworte wie "kapitalistische Ausbeutung" und "Reichtum" in einer Weise verwendet, die bei Vogl nicht einmal ansatzweise auftaucht. In Hinsicht auf Herrschaft bzw. den unmittelbaren und eigentlich durch nichts schönzuredenden Raub, als der das sogenannte Weltwirtschaftssystem bewertet werden könnte, wenn man denn nur wollte und was angesichts Millionen hungernder und hungertoter Menschen nur zu begründet wäre, bleibt der Referent konsequent indifferent. Unterm Strich bleibt bei ihm die mehr oder minder undeutlich formulierte Botschaft übrig - Gespenster hin, Gespenster her -, sich am besten mit den Verhältnissen zu arrangieren. Diesem Zweck dient beispielsweise die Verwendung des Begriffs Zukunft. Vogl erläuterte den von ihm gewählten Buchtitel damit, daß Gespenster in Gespenstergeschichten normalerweise wegen einer Verfehlung oder ungetilgten Schuld aus der Vergangenheit zurückkämen und wieder verschwänden, sobald diese beglichen sei.

Das Gespenst des Kapitals hingegen, so Vogl, käme nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft und zeige an, daß in dieser etwas "nicht in Ordnung" sei. Und was es sich dabei handeln soll, ist schnell beantwortet: Nicht eine Schuld aus der Vergangenheit, sondern Schulden kämen als Heimsuchung aus der Zukunft. Dabei soll es sich nicht um eine tiefe Verschuldung, sondern um Insolvenz handeln. "Eine in der Zukunft lauernde Insolvenz bringt das Gespenst des Kapitals in die Gegenwart zurück", so der Referent wörtlich. Damit spiegelt er eine Realerfahrung, die nicht die seine ist. Die rapide anwachsenden "Privatinsolvenzen" - ein Begriff, hinter dem sich in einem der reichsten Staaten der Erde verzweifelte Lebenssituationen und Menschenschicksale verbergen, auf die die ebenfalls ansteigenden Selbsttötungen und Familientragödien traurige Hinweise geben - beziffern für immer mehr Menschen längst eine bedrohliche Realität und Gegenwart.

Hilft es - wem auch immer - zur Bewältigung, Inangriffnahme oder auch nur Analyse dieser mit dem Begriff "Wirtschaftskrise" noch bagatellisierten Problematik, den Begriff "Gespenster des Kapitals" hinzuzuziehen für Vorgänge, die genaugenommen nicht so kompliziert sind und als gesellschaftliche Umlastung oder Raubstruktur von unten nach oben bewertet werden könnten? Joseph Vogl und Philipp Ekardt, die beiden dem Poststrukturalismus zuzurechnenden Gesprächspartner, hätten diese Frage wahrscheinlich bejaht. Die Analogie zu Gespenstern, ihren Mythen und Geschichten wurde in ihrem Gespräch immer wieder bemüht, ohne daß erkennbar geworden wäre, inwiefern diese Ausflüge oder vielmehr Ausflüchte in die Bereiche von Kultur und Literatur, die gar nicht den Anspruch erheben wie beispielsweise das kapitalistisch-neoliberale Wirtschaftssystem, zur Lösung drängender Menschheitsfragen etwas beizutragen, in diesem Sinne nützlich werden könnten.

Ekardt'sche Fragen - 'Haben die Kapitalgespenster ihren territorialen Bezug gekappt?' - Foto: © 2011 by Schattenblick

'Haben die Kapitalgespenster ihren territorialen
Bezug gekappt?'
Foto: © 2011 by Schattenblick
Es mag für den einen oder anderen Zuhörer faszinierend gewesen sein, sich der in diesem Gespräch aufgeworfenen Frage zu widmen, ob die Kapitalgespenster, auch Wertgespenster genannt, im Unterschied zu "normalen" Gespenstern ihren territorialen Bezug, also ihre Ortsgebundenheit, gekappt haben oder nicht. Vogl erläuterte in diesem Zusammenhang, daß die Geschichte der Neuzeit, ausgehend vom Mittelalter, als eine "schrittweise Mobilisierung unserer Kultur" begriffen werden könne. Diese Kulturen seien Unruhekulturen geworden, und unter Unruhe schien der Referent den aufkommenden Handels-, Schiffs- und schließlich Geldverkehr zu verstehen. Kurzum, alles geriet immer mehr in Bewegung; die zunehmende Mobilisierung und Modernisierung führten schließlich zur Verselbständigung finanztechnischer Institutionen. Schließlich erläuterte Vogl den sattsam bekannten und den gängigen Modellen entsprechenden Zusammenhang zwischen Warentermingeschäften und einer, wie er es nannte, Risiko-Pyramide damit, daß es ausgehend vom amerikanischen Immobilienmarkt zu einem zusammenbrechenden Kartenhaus infolge von Preisunsicherheiten gekommen sei.

Damit sei dann "das Gespenst" aus der Zukunft zurück in der Gegenwart aufgetaucht. Geld- und Kapitalverkehr hätten, als "Systeme, die strukturell immer insolvent sind", zusammen mit der Versicherungsstruktur diese "Zukunftslastigkeit", diesen "futuristischen Sog" erzeugt. Der einzige erkennbare Nutzen, der aus dem Zukunftsbegriff in diesem Zusammenhang gezogen werden kann, besteht darin, die heutigen wirtschaftlichen Verhältnisse, die selbstverständlich weder natur- oder sozialwissenschaftlich determiniert sind oder sonstige Schicksalseigenschaften aufweisen, sondern als Ausdruck, Folge und Ursache höchst konkreter und greifbarer Herrschaftsstrukturen bewertet werden könnten, in Sphären der Un(an)greifbarkeit zu manövrieren.

Ein Beispiel für die Herangehensweise des Autors, Dinge, Inhalte und Aussagen miteinander in Beziehung zu setzen, die nichts miteinander zu tun haben, ist der Begriff der "unsichtbaren Hand", den er eingangs bemühte, um überhaupt einen Bogen zwischen Gespenstern und Gespenstergeschichten sowie wirtschaftlichen Vorgängen herzustellen. Er bemühte den Nationalökonomen Adam Smith, der im 18. Jahrhundert diesen Begriff benutzt hatte, und schlußfolgerte daraus, daß dies ein erster Beleg dafür wäre, daß "das Wirtschaftsleben eine gespenstische Eigenbewegung" vorführe, die allerdings "interpretiert" werden müsse. Tatsächlich hat Smith mit dem Begriff der "unsichtbaren Hände" eine Rechtfertigung kapitalistischer Systeme aus der Behauptung ableiten wollen, daß, wer auf dem Markt handele, dies zwar aus Eigennutz täte, daß dadurch jedoch insgesamt die unterschiedlichen Interessen so ausbalanciert werden würden, daß dies der gesamten Gesellschaft zum Besten gereiche.

Eine "gespenstische Eigenbewegung" des Wirtschaftslebens ist darin schon deshalb nicht zu erkennen, weil es sich bei dem vermeintlichen optimalen Nutzen aller, wenn nur "dem Markt" keine Zügel auferlegt werden, um eine Zweckbehauptung, um nicht zu sagen -lüge, handelt, deren Widerlegung sich durch den Hinweis auf das anwachsende Armutsheer der Hartz-IV-Verwalteten wie auch im internationalen Maßstab durch die Erinnerung an den zumeist totgeschwiegenen millionenfachen Hungertod im Alleingang erledigt. Vogl bezog in keinem Moment klar Stellung und vernebelte seine im Grunde pro-kapitalistische Parteinahme hinter vielen vieldeutigen Worten. So bemühte er Karl Marx, warf Worte wie Waren- und Tauschwert in die Runde und erklärte dann, Marx habe im Zusammenhang mit dem Fetischcharakter der Ware "von den theologischen Mucken der Ware" gesprochen und

"... beispielsweise auch davon, daß ein normaler Tisch mit vier Beinen auf der Erde steht. Wenn er aber als Ware umgesetzt wird, legt er sich auf den Rücken und wackelt mit den Beinen."

Karikatur eines Tisches, der auf dem Rücken liegend die Beine bewegt - Foto: © 2011 by Schattenblick

'... legt er sich auf den Rücken und wackelt mit den Beinen'
Foto: © 2011 by Schattenblick

An anderer Stelle stellte Vogl zwar fest, daß Geld keinen Gegenwert besäße und daß das System bankrott wäre, würden wir "für die Euros, die wir besitzen, materielle Gegenwerte haben wollen". Die Erkenntnis, daß Geld nur "als Prinzip des uneingelösten Versprechens" funktioniere, hat jedoch keinerlei Neuwert; mit einer solchen Aussage schwimmt Vogl voll und ganz in konventionellen Gewässern. Darüber hinausgehend stellte er nichts in Frage - weder die vermeintliche Neutralität des Geldes, das als abstrakte Verfügungsgewalt verstanden werden könnte, noch die Frage, ob nicht die Befreiung des Menschen die grundsätzliche Infragestellung und Inangriffnahme wirtschaftlicher Verhältnisse beinhalten bzw. voraussetzen würde.

In ihrem Zwiegespräch bauten Joseph Vogl und Philipp Ekardt ein Lösungsversprechen auf, wie es zusammenhangsloser kaum hätte sein können. Vogls Behauptung, Geld- bzw. Kreditverkehr und Versicherungsstruktur hätten den "futuristischen Sog", also die aus der Zukunft kommenden und in der Gegenwart auftauchenden Gespenster des Kapitals, erzeugt, nimmt Ekardt zum Anlaß für die Frage, ob "der Trick" nun darin bestünde, durch "gegenseitige Beschwörungsrituale das Gespenst in der Zukunft zu halten"? Ja, lautete Vogls Antwort, und als Beispiel nannte er den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Josef Ackermann, und dessen Beschwörungsformel "Wir müssen wieder Vertrauen schaffen". Wenn Menschen Gold kauften, sei das ein Versuch, die "Wertgespenster" mit "Gewicht" zu versehen; wenn Finanziers statt in Finanzprodukte zu investieren auf Rohstoffe spekulierten, sei dies der Versuch, diese "geisterhaften Operationen" mit festen Werten, nämlich etwas Eßbarem, zu versehen.

Ekardts nächste Stichwortthese lautete, das sei in Vogls Buch der "Verschuldungszusammenhang", woraufhin Vogl zustimmend und Walter Benjamin zitierend ausführte, der Kapitalismus sei "ein Kultus, der sich in der Logik von Schuld und der Verschuldung installiert, ohne Erlösung zu versprechen". Ist das ein Nein? Ist das eine wie auch immer geartete Kritik oder Stellungnahme? Vogls nächster Satz lautete, die einzige Erlösung, die dieses System versprechen könne, sei "die Krise, aber die erlöst nicht von Schulden, sondern führt letztlich nur dazu, die Mittel für die Schaffung der nächsten Gespenster gewissermaßen zu sammeln." Wenn also, um einmal den Versuch zu unternehmen, diese Ausführungen inhaltlich zusammenzufassen, dem Kapitalismus anzulasten sei, daß er kein Erlösungsversprechen anzubieten habe und dies, wie vermutet werden kann, die einzige Kritik der beiden Gesprächspartner darstellt, liegt es in der Logik ihrer Argumentation, daß sie in diesem Punkt helfend in die Bresche springen.

Es gäbe, so Ekardt, an einer "relativ unvermuteten Stelle" den Versuch, "sich aus diesem Verschuldungszusammenhang zumindest phasenweise zu verabschieden", und das sei in der Literatur Franz Kafkas, genauer gesagt in dessen Figur Odradek, einem mysteriösen Holzspulenwesen, von dem man nicht wisse, ob es ein Mensch oder kein Mensch, ein Ding oder kein Ding sei. Es folgte ein längerer Dialog zwischen den beiden Literaturwissenschaftlern zu Kafka bzw. Odradek, der in der Aussage gipfelte, dieser sei "offensichtlich auf eine andere Art animiert als die Weltgespenster". Zum Verständnis muß man wissen, daß Vogl unter Animation eine Art Beseelung meint; wenn Dinge "animiert" seien, hätten sie eine Seele oder auch Waren-Seele bekommen. In direkter Anlehnung an Kafka präsentierte Vogl ein Lösungsversprechen etwa dergestalt: Was wir Leben nennen, sei ein von der Verwaltung stimuliertes Leben. Um diesen Mächten zu entgehen, müßten wir "Vitalität herauslassen", weil diejenigen, die "weniger" leben, mehr Widerstandskraft hätten. Wie es allerdings ein Mehr und ein Weniger an Leben geben kann, wurde von dem Gesprächsduo nicht thematisiert. Begriffspaare wie "mehr und weniger", "oben und unten" spiegeln gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, die an dieser Stelle akzeptiert und zur unabwandelbaren Voraussetzung erklärt werden.

Vogl als Kafka-Kenner - 'Die Untoten sind die besseren Überlebenskünstler' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Kafkaeske Erkenntnis - 'Die Untoten sind die
besseren Überlebenskünstler'
Foto: © 2011 by Schattenblick
So nimmt es nicht wunder, daß Vogl im weiteren Verlauf darauf zu sprechen kam, daß es - wie auch im Christentum - eine innige Verbindung zwischen Leben und Schuld gäbe und daß fortzuleben hieße, sich weiter zu verschulden. Als Ausflucht aus einer solchen Fundamentalbezichtigung bot der Referent, diesmal in Anlehnung an Thomas von Aquin, den er als mittelalterlichen Begründer des Christentums bezeichnete, einen eigenen Bereich zwischen Himmel und Hölle an, nämlich die Vorhölle oder den Limbus, der von Wesen bevölkert sei, die - wie ungetaufte Neugeborene - nicht von der Erbsünde gereinigt, aber noch nicht sündig geworden seien.

Dies mag an dieser Stelle genügen, um deutlich zu machen, wie nahtlos die Inhalte, Begrifflichkeiten und unausgesprochenen Botschaften dieses Gesprächsvortrags in sattsam bekannte Positionen eingebunden sind bzw. diese repräsentieren. Allein durch die thematische Verknüpfung wirtschaftstheoretischer und literaturwissenschaflicher Fragmente entsteht, wenn schon jeder einzelne Bestandteil es wert wäre, genauer geprüft und präziser auf die in ihm getroffenen Aussagen hin abgeklopft zu werden, kein stringenterer Inhalt.

"Das Gespenst des Kapitals" mag attraktiv und vielversprechend erscheinen und dieses Versprechen auch erfüllen - allerdings nur dann, wenn interessierte Leser die Bereitschaft mitbringen, von einem zum anderen zu hüpfen und sich in der vermeintlichen Vielfalt eines solchen Verwirrspiels, bei dem Marx- und sonstige wirtschaftstheoretischen Aussagen und Zitate fröhlich durcheinandergewirbelt werden mit literarischen Versatzstücken und Aussagefragmenten aus der Welt des Zombie-Films, zu verlieren bzw. sich von einem solchen Wirrwarr unterhalten zu lassen. Ernste Fragen nach den Konsequenzen aus einer krisenhaften Entwicklung, die vielfach bereits mit dem ihr angehefteten Etikett "Der Kapitalismus ist die Krise", einem allzuschnellen Verstehen anheimgegeben wurde, bleiben dabei allerdings auf der Strecke.

Somit dokumentierten die beiden Gesprächspartner aufs Anschaulichste und beispielhaft die Herangehensweise poststrukturalistischer Denker. Der Begriff des Poststrukturalismus werde laut Wikipedia als "philosophiegeschichtliche Fremdbezeichnung" [3]) aufgefaßt, die sich dadurch auszeichnet, daß für die unter diesem Sammelbegriff zusammengefaßten Theoretiker nur schwer gemeinsame Thesen formuliert werden können. Wie viele Poststrukturalisten betonten, ginge es ihnen "bewusst nicht um die Aufstellung einer alternativen umgreifenden philosophischen Theorie", sondern "um eine bestimmte Methode oder eine denkerische oder analytische Haltung" [3]. Was sich mit marxistischen oder auch humanistischen Positionen im Sinne Sartres verbunden hätte, so erläutert Wikipedia, sei im Blick früher Poststrukturalisten mehr und mehr fragwürdig geworden. Joseph Vogl hat sich mit "Das Gespenst des Kapitals" in diese Riege hineingeschrieben mit Thesen und einer Herangehensweise, denen es ihrerseits an Fragwürdigkeit nicht mangelt, wie an diesem durchaus unterhaltsamen Abend auf Kampnagel allemal deutlich geworden ist. Und da niemand den beiden Literaturwissenschaftlern mit Kinderfragen zu Leibe rückte, konnte ihr angeregt-konzentriertes Gespräch auch in gelöster Atmosphäre seinen wohlverdienten Ausklang nehmen.

Vogl und Ekardt - Konzentriertes Gespräch in gelöster Atmosphäre - Foto: © 2011 by Schattenblick

Konzentriertes Gespräch in gelöster Atmosphäre
Foto: © 2011 by Schattenblick



Fußnoten

[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Vogl

[2] Philosophisches Wörterbuch Band 1, A bis K, 11. Auflage 1975, Herausgeber Georg Klaus und Manfred Buhr, deb - verlag das europäische Buch - Westberlin, Stichwort: Kapitalismus

[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Poststrukturalismus


Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)
BERICHT/016: "Die Untoten" - Sandy Stone ... aus einem bewegten Leben (SB)
BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)
INTERVIEW/005: "Die Untoten" - Sander L. Gilman zu Fragen der kosmetischen Chirurgie (SB)


6. Juni 2011