Schattenblick → INFOPOOL → BILDUNG UND KULTUR → REPORT


BERICHT/037: Griechischer Wein - und wenn ich dann traurig werde ... (SB)


Das EU-Regime ist das eigentliche Problem

Griechenland in den deutschen Medien

Themenspecial "This is not Greece" beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg am 7. und 8. August 2015


Blick auf vollbesetzte Zuschauerreihen, vorne leere Sessel und M. Tsomou am Rednerpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Großes Interesse an kritischer Medienanalyse - Margarita Tsomou eröffnet "This is not Greece"
Foto: © 2015 by Schattenblick

Daumenschrauben werden, das liegt in ihrer Natur, nicht nur angezogen, um Druck und Zwang zu erhöhen, sondern auch, sobald die Betroffenen das von ihnen verlangte Verhalten zu zeigen beginnen, wieder gelockert. Bestrafung und Belohnung sind antipodische Zugriffszangen einer Struktur, die darauf abzielt, Menschen zu brechen und zur Annahme von Forderungen zu zwingen, die sie freiwillig niemals akzeptieren würden. Selbstverständlich können derartige Techniken der Herrschaftsausübung und -sicherung, wie sich in der aktuellen sogenannten Griechenlandkrise einmal mehr erwiesen hat, auch gegenüber einem Staat oder einer aus Sicht hegemonialpolitisch dominierender Akteure bzw. Institutionen mißliebigen Regierung zur Anwendung gebracht werden.

In der Nacht vom 13. auf den 14. August wurde in Griechenland eine weitere Eskalationsstufe überschritten. Das Parlament stimmte in fortgesetzter Nutzanwendung eines seit langem gegen Staat und Regierung in Stellung gebrachten Unterwerfungs- und Erpressungsregimes einem Hilfspaket zu, das alles anderes darstellt als das, was es behauptet zu sein. Schon der Erklärung des Euro-Gipfels vom 12. Juli 2015 [1] war zu entnehmen, daß der Athener Regierung mit dem nun vollzogenen Schritt nicht weniger als eine De-facto- Kapitulationserklärung abverlangt werden würde, mit der sie ihre noch verbliebene staatliche Souveränität preisgeben muß.

Daß die der griechischen Regierung gestellten Bedingungen in bundesdeutschen Medien keine große Berücksichtigung oder kritische Kommentierung fanden, kann allerdings nur dann mit Erstaunen zur Kenntnis genommen werden, wenn der erhobene mediale Anspruch, fair, lückenlos und die konträren Positionen der Konfliktbeteiligten in annähernd gleichem Maße zu berücksichtigen, verwechselt wird mit der - wie "freiwillig" auch immer übernommenen - Aufgabe, Zubringerdienste an der Meinungsbildungsfront zu leisten und sich durch die Übernahme und Weiterverbreitung der von den herrschenden Eliten und ihren Interessen dominierten Narrative um der eigenen sozialen und gesellschaftlichen Vorteile willen verdient zu machen.

Die Zurichtung der als links geltenden Syriza-Regierung Griechenlands, die mit dem klaren Votum der Wählerschaft das vorherige Wechselspiel der die politische Landschaft des Landes seit Jahrzehnten bestimmenden beiden Großparteien PASOK und Nea Dimokratia ablöste mit der erklärten Absicht, die sogenannte Austeritätspolitik der EU zu beenden und Alternativen zum Kurs dieser Schuldknechtschaft einzuschlagen, ging selbstverständlich mit operativen Schritten an der sogenannten Meinungsfront einher, was insbesondere auch in Deutschland Früchte getragen hat und noch immer trägt. Die mediale Hetze erreichte vor dem 13. Juli immer wieder neue Höhepunkte, so als gelte es, auf Biegen und Brechen die Politik der Entsolidarisierung gegenüber Griechenland, aber auch anderen EU-Partnern vor der eigenen Bevölkerung zu legitimieren, indem man sie glauben machte, die "faulen" Griechen lebten zu Lasten "deutscher Steuerzahler".

Daß die mediale Diffamierung griechischer Politiker nach dem 13. Juli nachließ, läßt keineswegs darauf schließen, daß die daran beteiligten Medien eine Korrektur oder Zäsur durchgeführt hätten. Die Daumenschrauben wurden, nun, da die Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras, wie von diesem offen zum Ausdruck gebracht, indem er von Erpressung sprach, dem auf sie ausgeübten Zwang nachgegeben hat, ein wenig gelockert - mehr nicht. Engagierte Medienschaffende hatten sich des Themas angenommen und analysiert, wie bestimmte "Wahrheiten" produziert und in der deutschen Medienlandschaft plaziert und durchgesetzt wurden selbst dann, wenn als seriös geltende Quellen gegenteilige Fakten veröffentlichten.

Möglicherweise, um die eigene Glaubwürdigkeit und damit Funktionalität nicht zu beschädigen, ließen etliche der beteiligten Mehrheitsmedien eine kritische Berichterstattung in der Griechenlandfrage zu. Couragierte Journalistinnen und Journalisten machten sich schnell einen Namen. Sie schwammen gegen den Strom oder vielmehr reißenden Wasserfall, widerlegten aber auch kraft ihrer publizistischen Tätigkeit die den eigenen Berufsstand aufs Korn nehmende Kritik in Sachen Griechenland-Berichterstattung. Wäre die Medienzensur bzw. freiwillige Übernahme regierungsnaher Verlautbarungen, so könnte man meinen, tatsächlich so vollständig gewesen, wie es sich für aufmerksame Beobachter darstellte, hätte es diese Form der Gegenaufklärung nicht geben können.

Kritische Medienanalysen wurden zum Thema Griechenland unter anderem auch vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) geleistet. Eine von der Institutsleiterin Margarete Jänger und der Germanistin und Politikwissenschaftlerin Regina Wamper durchgeführte exemplarische Untersuchung der in den vergangenen sechs Monaten in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Texte zu Griechenland ergab, daß sich die Kommentatoren einer "Hintergrundfolie" bedient hätten. Wie Margarete Jäger in einem Interview ausführte, nahm die Zeitung eine durchaus ambivalente Haltung ein, indem sie beispielsweise die Führungsrolle der deutschen Regierung zu akzeptieren schien, zugleich aber auch (Teil-) Kritik zuließ [2]:

Im Großen und Ganzen haben wir durch die Analyse feststellen müssen, dass in der Süddeutschen Zeitung eine grundsätzliche Zustimmung zu der strikten Sparpolitik, die von Griechenland und seiner Bevölkerung durch Europa und hier insbesondere durch die deutsche Bundesregierung gefordert wird, formuliert wird. Insofern folgt die Süddeutsche Zeitung dem technokratischen Herangehen der politischen Akteure, mit denen sie die Krise bewältigen wollen. Zwar werden hin und wieder auch die damit verbundenen sozialen Verwerfungen angesprochen. Diese werden jedoch als bedauerliche, aber notwendige Konsequenz einer insgesamt als vernünftig angesehenen Politik bewertet.

Kurz gesagt: Kritik ist nicht gleich Kritik. Was diese Untersuchungen für die Griechenland-Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung ergeben haben, könnte auch auf weitere Presseorgane des sogenannten Mainstreams zutreffen. Unberührt von einer redaktionellen Hauptlinie, die in der Übernahme der Kernpositionen der deutschen Bundesregierung bzw. der sogenannten Institutionen, vormals Troika, besteht, tauchen in etlichen etablierten Medien immer wieder kritische Beiträge auf, die aus den Federn bestimmter Autoren und Autorinnen stammen. Ob es sich dabei um Texte handelt, die für die jeweiligen Redaktionen eine Feigenblattfunktion erfüllen (sollen) oder ob sich an diesen, wenn man so will, innerredaktionellen Konflikt- und Bruchlinien Widersprüche greifbar machen lasssen, die es um ihrer Brisanz und Relevanz willen wert wären, in einem größeren öffentlichen Disput behandelt zu werden, ist eine noch offene Frage.


Die Genannten nebeneinander in großen Sesseln sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Medienschaffende kritisieren Medien - Margarita Tsomou, Harald Schumann, Robert Misik und Georg Diez (v.l.n.r.)
Foto: © 2015 by Schattenblick

Für eine willkommene Gelegenheit, dieser und ähnlich gelagerter Fragen und Diskussionsansätze nachzugehen, hat am 7. und 8. August die deutsch-griechische Journalistin und Aktivistin Margarita Tsomou gesorgt. In Zusammenarbeit mit Eike Wittrock, dem Ko-Kurator des Internationalen Sommerfestivals der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel, das vom 5. bis 23. August stattfindet, organisierte sie das Themenspecial "This is not Greece", das den in den deutschen Medien kursierenden Zerrbildern der griechischen Bevölkerung und Regierung gewidmet war. Nicht das "Für und Wider der Austeritätspolitik" sollte dem Festivalprogramm zufolge im Mittelpunkt dieser zweitägigen Veranstaltungen stehen, sondern der um "griechische Perspektiven aus Kunst, Philosophie und Film" ergänzte analytische Blick auf die Diskurse selbst.

Am 7. August trafen auf Kampnagel in der von Margarita Tsomou selbst moderierten Paneldiskussion zum Thema "Griechenland in den deutschen Medien" mit Harald Schumann (Tagesspiegel), Robert Misik (Tageszeitung, Wiener Falter) und Georg Diez (Spiegel online) drei Journalistenkollegen zusammen, die sich durch ihre mediale Arbeit den Ruf, in der Griechenlandfrage kritisch zu berichten, erworben haben. In ihren einleitenden Worten umriß Tsomou zunächst die aktuelle Lage und nahm Stellung zur Griechenlandpolitik der EU. Den 13. Juli, an dem sich die griechische Regierung unter der Androhung eines Finanzkollaps gezwungen sah, das - inzwischen auch vom Parlament beschlossene - katastrophale sogenannte dritte Hilfspaket zu unterschreiben, bezeichnete sie als einen "point of no return".

Weltweit sei durch die sozialen Medien der Aufschrei "This is a Coup" (Dies ist ein Staatsstreich) gegangen, wurde Griechenland doch durch diesen Schritt in ein Schuldenprotektorat zurückgestuft, in dem es keinerlei Raum für eine souveräne Regierungspolitik mehr gibt. Selbst liberale Kommentatoren hätten festgestellt, daß Wahlen unter diesen Bedingungen keinerlei Relevanz mehr hätten, so Tsomou. Diese Herausforderungen, Brüche und Zweifel würden jedoch auch die Bilder betreffen, die wir uns von der EU und ihrem Charakter machten sowie die grundsätzliche Frage, wie es eigentlich um den Status der demokratischen Souveränität innerhalb des Kapitalismus bestellt ist.


M. Tsomou in Großaufnahme (lachend) - Foto: © 2015 by Schattenblick

Margarita Tsomou
Foto: © 2015 by Schattenblick

Wir sehen ein absurdes Theater, fuhr Margarita Tsomou fort, in dem die griechische Regierung ein Programm verfolge, an das sie selbst nicht glaube, das aber für die Finanzmärkte aufgeführt werden müsse. Zur Begründung bezog sie sich auf den Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl, der in seinem Buch "Der Souveränitätseffekt" dargelegt habe, daß die Souveränität vom Volk auf die Finanzmärkte übergehe. Dies sah die Kuratorin unter anderem bestätigt durch die Aussage Schäubles, daß Europa das Vertrauen der Finanzmärkte - nicht etwa das der öffentlichen Meinung! - zurückgewinnen müsse.

Obwohl durch Experten vielfach nachgewiesen worden sei, daß die Gelder der sogenannten Hilfsprogramme nicht in die griechische Wirtschaft, sondern zurück in den europäischen Finanzsektor fließen, herrsche in Deutschland immer noch die Auffassung vor, daß die Griechen von deutschen Steuergeldern leben würden. Ebenso hartnäckig und faktenresistent halte sich das Gerücht, die Griechen wären faul, würden länger Urlaub machen und früher in Rente gehen als die Menschen in Deutschland, was in der medialen Darstellung längst hätte überprüft und korrigiert werden können.

Zur Veranschaulichung sei hier beispielhaft auf einen bei Zeit online am 13. Mai 2014 veröffentlichten Text verwiesen, in dem es unter der Überschrift "Deutsche arbeiten vergleichsweise wenig" hieß: [3]

In kaum einem Industrieland arbeitet ein Beschäftigter im Schnitt so wenig wie in Deutschland. Das zeigt ein internationaler Vergleich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), den das Statistikportal Statista in einer Infografik für ZEIT ONLINE aufbereitet hat. Demnach arbeitete im Jahr 2012 - jüngere Daten lagen nicht vor - ein Beschäftigter in Deutschland im Schnitt 1.393 Stunden. Nur in den Niederlanden ist die Zahl der Jahresarbeitsstunden noch geringer.

Die OECD-Zahlen erfassen die tatsächlich gearbeiteten Stunden, wozu auch bezahlte und unbezahlte Überstunden zählen, ebenso Arbeitszeit in Zweit- oder Drittjobs. Das führt vor allem in Krisenländern wie Griechenland oder Spanien zu Gesamtstundenzahlen, die deutlich über denen in Deutschland liegen, wie die Grafik zeigt. Viele Griechen und Spanier haben einen Zweit- oder gar Drittjob, um finanziell über die Runden zu kommen. Das ist in Deutschland in viel geringerem Maße der Fall.

Daß Griechenland an der Krise allein schuld sei und ihre Ursachen weder strukturell noch ökonomisch, sondern mentalitätsbedingt seien, wurde, wie Margarita Tsomou darlegte, zum dominierenden Mantra. Das Wort von den Pleitegriechen machte die Runde, als sei dies so etwas wie ein Volkscharakter. "Das ist nicht Griechenland!" (This is not Greece!) habe sie in den Talkshows, in die sie eingeladen wurde, rufen wollen. Es sei ein Phantasma, ein Mythos, die Fakten belegten das Gegenteil, und doch glaube die Mehrheit der Deutschen, daß die Austeritätspolitik im Interesse der hiesigen Steuerzahler läge, und selbstverständlich stünde der Stigmatisierung der Griechen das Bild ehrlicher und hart arbeitender Deutscher gegenüber.

In den Fokus der eigentlichen Diskussion stellte die Kuratorin die Frage, was eigentlich mit der deutschen Berichterstattung zu Griechenland in den zurückliegenden Jahren und vor allem in den letzten fünf Monaten passiert sei. Das Narrativ von den faulen Griechen werde als Erklärung dafür, warum der griechische Staat seit sechs Jahren kurz vor der Pleite steht, herangezogen, der deutsche Journalismus habe sich in diesem Punkt in den Merkel'schen Chor eingereiht - bis auf wenige Ausnahmen. Die drei eingeladenen Kollegen seien gute Beispiele dieser Riege von Journalisten, die dem herrschenden Narrativ entgegengeschrieben haben.


H. Schumann spricht - Foto: © 2015 by Schattenblick

Harald Schumann
Foto: © 2015 by Schattenblick

Zunächst ergriff Harald Schumann, bestens bekannt durch die Fernsehproduktionen "Staatsgeheimnis Bankenrettung" (2013) und "Macht ohne Kontrolle - die Troika" (2015) [4], das Wort. In 32 Berufsjahren als Journalist habe er so etwas, nämlich daß sämtliche deutsche Qualitätsmedien bei einem Thema - Griechenland - über Monate hinweg grundlegende journalistische Standards brechen, noch nicht erlebt. Selbst von ihm geschätzte Kollegen, von denen er wisse, daß sie einen "kritischen Geist" hätten, seien "irgendwie abgeschaltet" worden. Er, Schumann, habe "verzweifelt" versucht, sich das zu erklären. Offenbar scheint selbst ein aufklärend tätiger Journalist vor einem Rätsel stehen zu können, wenn er sich mit den Interessen bzw. den offenbar vorherrschenden Absichten des Berufsstandes konfrontiert sieht; nicht wenige im Saal schienen dieses Erstaunen zu teilen.

Wie Schumann erzählte, sei in seiner Redaktion, nachdem in Griechenland eine linke Regierung gewählt worden war, keine rationale Auseinandersetzung mehr möglich gewesen. So habe er vorgeschlagen, doch einmal darauf zurückzukommen, was die Sparpolitik für die Leute vor Ort konkret bedeutet und wie es wohl bei uns wäre, wenn ein Drittel der Bevölkerung keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung mehr hat und Menschen nur deswegen sterben, weil sie die Medikamente nicht bezahlen können? Wäre das nicht Grund genug, eine revolutionäre Regierung an die Macht zu bringen? Von gutinformierten Kollegen habe er sich Antworten anhören müssen wie: "Ich war gerade drei Wochen in Griechenland, ich habe keine sterbenden Kinder gesehen", und dies nicht etwa, weil sie wirklich so dächten, sondern um zu demonstrieren, daß sie darüber nicht diskutieren wollten und es ihnen völlig egal sei, wie es den Menschen dort gehe.

Bei dem Versuch, dieses Verhalten Medienschaffender dann doch zu erklären, griff Schumann auf psychologistische Deutungsmuster zurück. Was "in den Köpfen der Journalisten, aber auch eines großen Teils der Bevölkerung" passiere, sei "ein Akt der Selbsterhöhung" durch Menschen, die stark unter Druck stünden, unter Statusängsten litten, hart arbeiten müßten etc. Ihnen sei eine Projektionsfläche geboten worden, mit deren Hilfe sie sich "selbst erhöhen" könnten, und zwar dadurch, daß sie sagen können: "Wir Deutschen sind besser als die Griechen."

Daß dies von Anfang an Quatsch gewesen sei, begründete Schumann damit, daß die Verantwortung für das, was in der Eurozone - und zwar in den Überschuß- wie Krisenländern - schiefgegangen sei, bei allen Regierungen gemeinsam läge, weil sie als Kollektiv die Eurozone eingeführt, die EU-Verfassung beschlossen und all die Maßnahmen ergriffen hätten. Damit bietet Schumann zum Ersatz der (ausschließlichen) Bezichtigung Griechenlands (und anderer Krisenländer) das Narrativ der Kollektivschuld an, durch das an dieser Stelle jedoch immer noch vermieden wird, die Frage auch nur aufzuwerfen, ob nicht die Kern-EU-Staaten und insbesondere die deutsche Bundesregierung als maßgebliche Akteure und Profiteure der Gemeinschaftswährung und der zu ihrer Einführung durchgesetzten Politik in erster Linie für die katastrophalen Folgen dessen in Griechenland und anderen EU-Peripherieländern verantwortlich zu machen wären.

Gegenüber Griechenland habe es schnell, so fuhr Schumann fort, nationalistische Ressentiments gegeben, die - mehr oder weniger amtlich - von seiten der deutschen Regierung sanktioniert wurden. Kein Mensch und keine Institution, die eine höhere Autorität genießt als Gregor Gysi, habe sich dagegen ausgesprochen, und so hätten sich viele Menschen, unter ihnen auch zahlreiche Journalistenkollegen, ermutigt gefühlt, "'mal so richtig die Sau rauszulassen" und sich zu verhalten wie Bluthunde, die von der Leine gelassen wurden. Seinen Troika-Film habe er gemacht, weil ihn die Tendenz zur Entdemokratisierung "wahnsinnig aufgeregt" habe. Häufig sei ihm vorgehalten worden, daß er nicht gezeigt hätte, wie dysfunktional der griechische Staat sei, doch das sei gar nicht das Thema des Films gewesen. Er habe darstellen wollen, "wie dort eine paralegale Struktur geschaffen wurde jenseits aller demokratischen Strukturen, die Macht ausübt, ohne dafür kontrolliert zu werden". Von der Diskussion an diesem Abend und seinen anwesenden Kollegen erhoffe er sich Anregungen dafür, was man denn noch dagegen tun könne, denn einfach nur ein paar Artikel zu schreiben und böse Filme zu machen, habe ganz offensichtlich nicht geholfen.


R. Misik im Porträt - Foto: © 2015 by Schattenblick

Robert Misik
Foto: © 2015 by Schattenblick

Der österreichische Journalist und Buchautor Robert Misik stieg zunächst auch in die Analyse ein. Es gäbe da etwas, das man einen "Wirtschaftsrassismus" nennen könnte, mit dem die Dysfunktionalitäten eines Systems oder auch eines Landes aus Mentalitätsprojektionen heraus erklärt werden. So habe es in den letzten Monaten häufig geheißen, die griechische Regierung sei frech und unprofessionell, was am 13. Juli seinen Höhepunkt gefunden habe und danach weg gewesen sei. Misik bezeichnete dies als eine "positive Geschichte", obwohl sich diese Beobachtung auch als eine leichte Lockerung der Daumenschrauben bewerten ließe, nachdem die griechische Regierung vollzogen hatte, wozu sie gezwungen wurde. Misik nahm gegenüber der deutschen Bundesregierung deutlich Stellung, indem er erklärte, seit dem 13. Juli herrsche in vielen EU-Staaten die Auffassung vor, die Deutschen betrieben eine "totale Machtpolitik".

Die von Schumann aufgeworfene Frage, wie sich das Narrativ von den faulen Griechen in den deutschen Medien so massiv habe durchsetzen können, versuchte Misik mit einer Art Rückkopplungsgeschichte zu beantworten. Wenn 70 Prozent der Journalistenkollegen hinter der Merkel'schen Linie stünden und 30 Prozent dissident seien, dann würden letztere auch noch verstummen, weil sie keine Außenseiter sein wollten. Daß diese Entwickung gerade in Deutschland so kraß ausgefallen sei, führte Misik auch auf die Hartz-IV-Reformen zurück. Die Arbeitsmarktsituation sei in Deutschland doch noch eine andere als in einem Land mit sechs Millionen Arbeitslosen, und deshalb würden viele Menschen hierzulande glauben, daß es uns noch besser gehe, weil wir den Gürtel enger geschnallt hätten, und wenn andere, beispielsweise die Griechen, dies auch täten, würde es ihnen auch besser gehen.

Misik stellte klar, daß das ganze Problem nicht allein mit der Dysfunktionalität deutscher Medien zusammenhänge. Am 13. Juli habe sich gezeigt, welch ein Autoritarismus und technokratischer Pragmatismus innerhalb der EU bzw. Eurozone herrsche. Da gehe es schlicht um Disziplinierung und Unterwerfung. Die Menschen in Griechenland wurden vor die Alternative gestellt: Unterwerft euch und kapituliert, oder wir zerstören euer Land. Das eigentliche Problem sei also das in der EU etablierte politische Regime.


G. Diez in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Georg Diez
Foto: © 2015 by Schattenblick

Georg Diez, der sich, wie Margarita Tsomou einleitend erläutert hat, in seiner Spiegel-online-Kolumne [5] als scharfsinniger Analyst der deutschen Berichterstattung über die Griechenlandkrise und der politischen Rhetorik der europäischen Regierungen erwiesen habe, bezeichnete das, was in Griechenland bzw. der EU passiert, als eine "Aufkündigung der Grundbeziehung zur Vernunft". In ökonomischer Hinsicht sei die Vernunft schon 2010 aufgekündigt worden, als ein Schuldenschnitt und damit auch ein Neuanfang für Griechenland hätte gemacht werden können, was aber wegen der Interessen der Banken nicht geschehen sei. Diez bezeichnete Griechenland als einen Ort, an dem der Finanzkapitalismus die Demokratie bekämpfe.

Zu der Frage, was da nun eigentlich in den Medien passiert sei, würde er "erst einmal mit Ratlosigkeit antworten". Die deutsche Kanzlerin sei nicht schuld, sondern ihrerseits ein Symptom für eine Zeit, der das Vokabular des Politischen und des Kampfes fehle. Zum Amüsement der Zuhörenden beschrieb Diez das offenbar von Komplizenschaft bzw. übereinstimmenden Interessen bestimmte Verhältnis zwischen Medien und Politik mit recht zotigen Umschreibungen ("strandbadhafte Bordellatmosphäre"). Die Sprache habe sich auf eine "DDR-hafte Weise verändert", die Begriffe hätten "einfach nichts mehr bedeutet", so Diez. Der vielverwendete Satz "Merkel rettet Griechenland" würde auf verschiedenen Ebenen keinen Sinn machen. Das Ganze sei "wie eine Droge", was allerdings nicht das "tiefe Systemversagen" erklären könne in den Medien, aber auch bei von ihm eigentlich sehr geschätzten Politikern wie Frank-Walter Steinmeier, die Fakten wie zum Beispiel die, daß 90 Prozent der Gelder der sogenannten Griechenland-Hilfen zurück an die europäischen Banken gingen, nie erwähnten.

Margarita Tsomou versuchte, die Diskussion unter Bezugnahme auf den französischen Soziologen und Sozialphilosophen Pierre Bourdieu nach vorn zu bringen, der quasi beschrieben habe, daß Journalisten, wenn ihre Artikel von den Zitaten des Politikers abhängig sind, ständig an ihm dran wären und ihren gesamten Habitus, ihr Verhalten und die psycho-soziale Struktur dem Feld des Politikers angleichen würden. Als Lösung käme da nur in Betracht, sich unabhängig zu machen und andere Räume zu suchen. Sie habe schon in Talkshows gesessen, in denen sich alle Beteiligten vor der Kamera heftigst gestritten hätten, und erst hinterher habe sich dann herausgestellt, wie sehr sie alle miteinander befreundet waren. Da wurde ihr gesagt, daß sie sich alle schon total lange kennen würden und nur sie hier neu wäre...

Die Kapitalinteressen, so Tsomou, seien keineswegs irrational. Es gäbe auch ein positives Narrativ, nämlich das der "Rettung" und der "Solidarität", von Begriffen also, die komplett umgedreht worden sind. Das sei ein Nationalismus, der sich europäisch gäbe. Die Kuratorin von "This is not Greece" formulierte die These, dies sei ein "ökonomischer Wirtschaftsnationalismus", der nicht an die Fahne, sondern eine ökonomisch bessere Rationalität gebunden sei. Sein politisches Subjekt sei der deutsche Steuerzahler, der die Nicht-Zahler zum Feind habe, wozu nicht nur die Griechen, sondern auch die Hartz-IV-Empfänger gehörten. In Deutschland sei der Haß auf die unteren Schichten dominant.

Harald Schumann widersprach der Auffassung, daß Schäuble und Merkel das Interesse des deutschen Kapitals exekutierten und führte zur Begründung an, daß, wenn dies so einfach wäre, wir ja wüßten, "wo der Feind ist". Außerdem lägen zwei Drittel der DAX-Unternehmen in ausländischer Hand, der deutsche Mittelstand sei extrem von der Stabilität in Europa abhängig. Würde die Eurozone rückabgewickelt werden, würden deutsche Unternehmen die größten Verluste machen, weil sie mit Abstand die größten Gewinne gemacht hätten, erläuterte der Wirtschaftsjournalist.

Würde eine Gegenbewegung gegen dieses Europa bzw. das Eurozonenregime in Gang gesetzt werden, läge dies objektiv nicht im Interesse des deutschen Kapitals. Er habe es sich zur Aufgabe gemacht, so Schumann, innerhalb des deutschen Diskurses die Stimmen aus den anderen Eurozonenländern viel stärker zu Wort kommen zu lassen und Betroffenheitsperspektiven zu erzeugen. Das größte Problem sei nach wie vor die Verselbständigung der Machtstruktur und daß die Menschen in Europa es bislang nicht vermocht hätten, als Zivilgesellschaft über die Grenzen hinweg und unabhängig vom EU-Apparat zusammenzuarbeiten.

Robert Misik wies darauf hin, daß die politische Entdemokratisierung in der EU sogar offen eingestanden wird. So habe beispielsweise Jens Weidmann, derzeit Chef der Bundesbank und zuvor Leiter der Abteilung für Wirtschafts- und Finanzpolitik im Bundeskanzleramt, zu den von den Institutionen gegen Griechenland verhängten Disziplinierungsmaßnahmen erklärt, daß dies genau die Mechanismen seien, um die notwendigen Strukturreformen in den einzelnen Mitgliedstaaten durchzusetzen, auch wenn es unmöglich wäre, parlamentarische Mehrheiten dafür zu bekommen.

Wem daran gelegen ist, der Zurichtung Griechenlands in ein Protektorat zur Drangalisierung der Bevölkerung entgegenzutreten nicht zuletzt deshalb, weil an diesem Exempel die der gesamten EU von den sogenannten Institutionen vorgedachte Zukunft offenkundig wird, wird den Verlust von Hoffnungen und guten Ratschlägen bestens verkraften können. Von dem eingangs aufgeworfenen Thema, nämlich die Griechenlandbilder deutscher Medien zu analysieren, waren die Medienschaffenden auf dem Podium wie auch im Publikum recht schnell dazu übergegangen, auch die eigene berufliche Situation zu reflektieren, was in der Forderung gipfelte, die im Internet kostenfrei verfügbaren Texte in einen Bezahl-Modus überzuführen, um ihren Produzenten ein finanzielles Auskommen und bessere Berufsperspektiven zu gewährleisten zu dem Zweck, auf diese Weise die erforderliche Qualität der Medienarbeit sicherzustellen.

Im Verlauf der Diskussion wurde aber auch die Auffassung vertreten, daß sich die EU von einem demokratisch-legitimierten in ein finanzpolitisch-dominiertes Bündnis gewandelt habe, was eine schleichende Entwicklung zu einem Modell des 21. Jahrhunderts sei. Schließlich gäbe es kein Naturgesetz, daß die Demokratie erhalten bleiben würde, auch in Deutschland würde sie nicht mehr länger als 30 Jahre bestehen. Mehr oder minder unausgesprochen zog sich durch die Äußerungen der Referenten wie auch der Diskutanten aus dem Publikum eine Spur der Ratlosigkeit, um nicht zu sagen Hoffnungslosigkeit. Margarita Tsomou brachte dies mit einem Zitat des slowenischen Philosophen und Kulturkritikers Slavoy Zizek auf den Punkt: Das Licht am Ende des Tunnels sei der Zug, der auf einen zukomme ...

Fraglos ist dies ein schmaler Grat, denn - um im Bilde zu bleiben - ein solcher Zug, der demokratische wie soziale Errungenschaften in ganz Europa in rasendem Tempo niedermalmt, könnte in seiner Unerträglichkeit Fluchtreflexe ohne Ende auslösen. Logisch ist aber auch, daß das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen ist, und so könnte die an diesem Abend offen gebliebene Frage, was denn nun zu tun sei, ungeachtet der spürbaren Ratlosigkeit auch zu einer Radikalisierung führen, die dem Regime sehr wohl die Akzeptanz zu entziehen vermag. Daß die Akteure keine Anleihen bei linksideologischen Rezepturen nahmen, so diese ihrerseits Gefahr laufen, allzu schnelle Antworten zu liefern, wo sich Fragen, die konsequent weiterentwickelt werden, in ungeahnter Weise als konstruktiv erweisen könnten, muß dabei nicht unbedingt ein Nachteil sein.


Blick ins Innere der Kampnagelhallen, mit Palmen und blauem Lichtspiel - Foto: © 2015 by Schattenblick

Sommerabendliche Wohlfühlatmosphäre auf Kampnagels Festivalgelände
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Siehe im Schattenblick die redaktionell kommentierte Erklärung des Eurogipfels vom 12. Juli 2015:
GRIECHENLAND/001: Grexit auf Raten - Bankett der Banken ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/brennpunkt/p1gr0001.html

[2] http://www.heise.de/tp/artikel/45/45696/1.html

[3] http://www.zeit.de/karriere/2014-05/arbeitszeit-oecd-infografik

[4] Siehe im Schattenblick die Interviews zu "Die Spur der Troika" vom 7. Mai 2015 in Hamburg:
INTERVIEW/033: Die Spur der Troika - Zum Beispiel Geld ...    Harald Schumann im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/euri0033.html
INTERVIEW/034: Die Spur der Troika - das Kind im Brunnen ...    Fabio De Masi im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/euri0034.html

[5] http://www.spiegel.de/thema/spon_diez/

17. August 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang