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BUCHBESPRECHUNG/081: "Was Linke denken" von Robert Misik (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Robert Misik
"Was Linke denken. Ideen von Marx über Gramsci zu Adorno, Habermas, Foucault & Co"

von Klaus Ludwig Helf, 20. Oktober 2015


Die Linke zumindest in Westeuropa hat sich schon immer untereinander gestritten. Nach der Implosion des realsozialistischen Staatensystems hat sie jedoch zum Sinkflug angesetzt; es ist still um sie geworden, ihre Debattier- und Denklust ist verebbt, ihr theoretisches Feuerwerk scheint aus- und abgebrannt zu sein. So grenzt auch Philipp Flesch den "langen Sommer der Theorie" in seinem jüngst erschienenen Band auf die Jahre 1960 bis 1990 ein.

Der Picus-Verlag aus Wien hat jetzt ein neues Buch zum linken Denken vorgelegt; Autor ist der österreichische Journalist und politische Schriftsteller Robert Misik (*1966), ein ausgewiesener Kenner der Linken. In den 1980er Jahren war er Sympathisant der Gruppe Revolutionäre Marxisten (GRM), heute vertritt er links-sozialdemokratische Thesen und attackiert oft den Neoliberalismus; er schreibt regelmäßig für die Berliner »tageszeitung«, die »Berliner Zeitung«, die »Neue Zürcher Zeitung« und für den Wiener »Falter«; er produziert die wöchentliche Videoshow »FS Misik«; er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt »Erklär mir die Finanzkrise« (2013).

Die weit verbreitete These, dass bei den Linken das systematische Lesen und damit auch das fundierte Denken "hoffnungslos out" seien, hält Misik für "zumindest fragwürdig", ebenso dass die Linke heute antiintellektuell, theorievergessen oder entideologisiert sei: "Eher ist es so: Es ist in gewisser Hinsicht wahr, und in anderer unwahr" (S.15). In nostalgischer Verklärung der Vergangenheit und mit einer Portion Ignoranz gegenüber der Gegenwart komme man zu dieser Fehleinschätzung; die linken Bücherwürmer und "Theoriegurus und Diskursjockeys" seien schon damals eine Minderheit gewesen (als aseptische Besserwisser und Buchstabengläubige gefürchtet und verlacht) und es gebe sie auch heute noch, wenn auch in kleinerer Anzahl. Entscheidend sei vielmehr, dass das, was der "gemeine Durchschnittslinke" denke, nicht bloße Gefühls- und Gutmenschen-Reflexe seien, sondern das Produkt der damaligen zeitgenössischen philosophischen und theoretischen Diskurse. In Anlehnung an den italienischen marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci stellt Misik die These auf, dass jede philosophische Strömung eine Ablagerung von "Alltagsverstand" hinterlasse; dieser sei die Folklore der Philosophie. Dieser Prozess gelte auch für viele Elemente linker theoretischer, gesellschaftskritischer und philosophischer Analysen, die sich in einer Art "Sickerprozess" verbreiten:

Eine kluge Person - oder eine Gruppe von Theoretikern und Theoretikerinnen - entwickelt eine philosophische Analyse; eine kleine Gruppe philosophisch oder gesellschaftskritisch interessierter Leser eignet sich diese Analyse an; sie übernimmt sie entweder vollends oder Bruchstücke davon, kombiniert sie möglicherweise mit Versatzstücken anderer Theorien; sie verbreitet sich im allgemeinen an intellektuellen Fragestellungen interessierten Milieu; sie findet Eingang in Medien, in Leitartikeln oder die Essayistik; sie wird erst gelegentlich, dann immer häufiger aufgegriffen, sei es in öffentlichen Diskussionen, in Kneipengesprächen oder anderswo". [S.12/13]

Einflussreiche Theorien - so Misik - seien deshalb einflussreich, weil viele Leute deren Postulate ganz oder teilweise teilen, auch dann, wenn ihnen das nicht einmal bewusst sei. In den folgenden acht Kapiteln seines Bandes konzentriert sich Misik auf die folgenden Themenkomplexe: Verhältnis von materieller Produktion und Gesellschaft / Geschichte und Bewusstsein / Regierung, Herrschaft und hegemoniales Denken / Fortschritt und Aufklärung / das Ich (Individualität, Entfremdung, Kreativität) / Macht und Diskurse und Kultur und der Identität. Dabei versucht der Autor plausibel nachzuweisen, " ... dass weite Kreise der Linken in diesen Fragen eine klare und konzise eigenständige linke Sicht haben und dass diese durchaus weit verbreitet ist" (S.145/146). Er bevorzugt den Begriff der "Theorie" gegenüber dem der akademischen "Philosophie"; "Theorie" integriere unterschiedliche Disziplinen (Geschichte, Philosophie, Ökonomie, Soziologie u.a.), sei prinzipiell offen anschlussfähig, nicht streng systematisch und unabgeschlossen. Zwar sei die Linke extrem bunt und heterogen, aber es gebe genügend Überzeugungen, die von einer überwiegenden Mehrzahl der vielstimmigen und vielfärbigen Linken ("Marmor- oder Mosaik-Linke") geteilt werde; man müsste diese nur dazu bringen, gemeinsam darüber zu reden. Robert Misik legt keine akademische Abhandlung vor, sondern eine flott, humorvoll, zuspitzende und allgemeinverständlich geschriebene Wirkungsgeschichte der philosophischen und theoretischen Grundlagen linken Denkens der letzten hundertfünfzig Jahre, eine "Kartografie des zeitgenössischen linken Denkens ... eine Werbung für das Abenteuer Denken, für den Sturm im Kopf, den spannende Thesen und bisher ungedachte Assoziationen auslösen können" (S.21). Und dies ist ihm auch vortrefflich gelungen - macht Lust auf mehr. Er nimmt uns mit auf einer flotten und aufregenden Achterbahn-Fahrt durch die Theorie-Geschichte des linken Denkens von Autoren wie Adorno, Gramsci, Marx, Marcuse, Foucault, Habermas, Butler, Camus, Deleuze, Sartre, Jaeggi, Barth, Eagleton und Lacan und kann diese treffend identifizieren als "... Ideenlieferanten für eine neue Politisierung junger Aktivisten, aber auch von Künstlern, Globalisierungskritikern und anderen" (S.142); Begriffe wie Kapitalismus, Entfremdung, Hegemonie, Zivilgesellschaft, Revolution, Reform, Diskurs, Entfremdung, Individualismus, Vernetzung, Gender, Postmoderne oder Macht sind in den zeitgenössischen linken Haltungen und gesellschaftskritischen Milieus weitgehend fest verankert; Misik zeigt uns, aus welchen theoretischen Quellen und Diskursen diese sich speisen und zusammenfügen und entstaubt diese auch gelegentlich. Schade, dass Misik in seinem Band die ökonomischen und ökologischen Zusammenhänge im linken Denken vernachlässigt (er versucht diese Lückenhaftigkeit in seinem Text unzureichend und z.T. unzutreffend zu rechtfertigen), aber man kann ja auch nicht alle Aspekte umfassend auf schmalen 150 Seiten würdigen! Robert Misik macht mit seinem pfiffig und intelligent geschriebenen Buch Mut zur Veränderung, und gibt kraftvollen, inspirierenden Schwung zum weiteren "linken" Nachdenken und Handeln. Auch zeitgenössische, kraftvolle linke Theoretiker und Denker wie Sedlácek, Graeber, Zizek, Mouffe oder Crouch stehen auf den Schultern der in diesem Band wiederbelebten Denktraditionen, die in den linken Alltagsverstand hinabgesickert sind. Misiks Band endet mit der berühmten Formel der mexikanischen Zapatisten-Bewegung: "Fragend schreiten wir voran!". Ein wunderbarer, hoffnungsfroher Schluss und Anfang zugleich.

Robert Misik
Was Linke denken.
Ideen von Marx über Gramsci zu Adorno, Habermas, Foucault & Co
Picus Verlag, Wien 2015
160 Seiten
14.90 EURO

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Quelle:
© 2015 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2015

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