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BUCHBESPRECHUNG/087: "Der lange Sommer der Theorie" von Philipp Felsch (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Philipp Felsch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. 1960-1990"

von Klaus Ludwig Helf, 8. Dezember 2015


Der erste Anstoß zu seinem Buch war - wie der Autor Philipp Felsch schreibt - der Wunsch eines Redakteurs der "Zeitschrift für Ideengeschichte", einen Beitrag über den renommierten Merve-Verlag zu schreiben. Dessen Gründer und Verleger Peter Gente hatte seine Papiere dem 'Zentrum für Kunst und Medientechnologie' in Karlsruhe verkauft und Felsch versank nun in dessen Hinterlassenschaften, in einem 'Archiv eines epischen Leseabenteuers' (S.15); die ältesten Dokumente seien aus den späten fünfziger Jahren; einen "Enzyklopädisten des Aufruhrs" habe ihn Helmut Lethen genannt, Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien und langjähriger Weggefährte von Gente. Im Gespräch mit Gente über dessen Vergangenheit habe dieser mit dem Autor und mit der Welt immer über Texte interagiert: "Er kannte jede Verzweigung der Debatten aus der Zwischenkriegszeit? Vor unseren Gesprächen legte er sich Bücher, Briefe und Zeitungsartikel zurecht, die er beim Reden abwechselnd in die Hand nahm, um diesen oder jenen Punkt zu unterstreichen ... Im Echoraum der Theorien, den er wie kein zweiter beherrschte, fand er sein Lebenselement" (S.16). Es gehöre zu den Merkwürdigkeiten der theorieversessenen Achtundsechziger - so der Autor -, dass aus ihren Reihen kaum eigene Theoretiker hervorgegangen seien, sondern dass sie sich auf die "Großväter" bezogen hätten; insofern sei Gente der Idealtyp des Neuen Linken gewesen, ein "Partisan des Klassenkampfs in den Archiven" (S.16). Er war ein leidenschaftlicher Sammler von Texten jeglicher Art, ohne je selbst Autor gewesen zu sein. Er gründete 1970 mit befreundeten Genossen den linken Kleinverlag Merve in (West-) Berlin, der dann über zwei Jahrzehnte die Theorielandschaft dominierte und prägte. Hinzu kam noch Heidi Paris, die mit Gente eine Liebes- und Arbeitsbeziehung verband; als Verlegerpaar produzierten sie Bücher auch für Kunst, arbeiteten in Filmprojekten mit Blixa Bargeld und Heiner Müller und "... verwandelten Leser in Fans und Autoren in Denkstilikonen ... Als notorische Szenengewächse waren sie auf ein Milieu von Gleichgesinnten angewiesen, das mit dem Standbein in der Uni, mit dem Spielbein aber schlau im Nachtleben stand. Oder umgekehrt. In den achtziger Jahren wurde die Lektüre von Merve-Bändchen für dieses Milieu zur Pflicht" (S.18).

Die Ära der Theorie in Deutschland werde oft mit dem Suhrkamp-Verlag mit seinen Taschenbuchreihen verbunden oder gar gleichgesetzt, was zutreffend sei («Suhrkamp Culture«); dieser habe den Merve-Verlag zwar erst möglich gemacht, der aber als Kleinverlag unter ganz anderen, nicht-kapitalistischen Prämissen agierte. Die "Akten" des Verlags, die der Autor in Karlsruhe gründlich studierte, ermöglichen eine andere Perspektive: "Sie erzählen den langen Sommer der Theorie aus User-Sicht ... Merve war nicht nur ein Verlag, sondern eine Lektüregruppe und eine Fangemeinde - kurz: ein Rezeptionszusammenhang" (S.19).

Der vorliegende Band ist daher keine Theoriegeschichte der Neuen Linken in der herkömmlichen akademischen Tradition, sondern folgt dem Foucault'schen Konzept der 'Ideenreportage', einer Realhistorie der Ideen, bei der die Analyse des Gedachten immer mit der Analyse des Geschehens in Beziehung gesetzt und abgeglichen wird. Gentes akribisch geführtes Kulturtagebuch und seine dicken Kultur-Dossiers sind der rote Leitfaden und die primären Quellen des Bandes, außerdem 16 Interviews und Gespräche (u.a. auch mit Gente selbst), Archiv-, Audio- und Videomaterial und umfangreiche Sekundär-Literatur.

Philipp Felsch (*1972) studierte Geschichte und Philosophie u.a.in Freiburg und ist seit 2011 Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften am Institut für Kulturwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin; seine Forschungsschwerpunkte sind die Wissenschaftsgeschichte der Alpen und die Geschichte der Kartografie sowie die Geschichte der Theorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Nach der Einleitung (Was war Theorie?) folgen in dem vorliegenden Band vier Hauptkapitel: 1965: Die Stunde der Theorie / 1970: Ewige Gespräche / 1977: Französisch im Deutschen Herbst / 1984: Das Ende der Geschichte; dann ein knapper Epilog, ein sehr umfangreicher Anmerkungsapparat (49 Seiten), ein Literaturverzeichnis, ein Bildnachweis und ein Personenregister.

Gentes kulturelles und philosophisches Erweckungserlebnis war 1957, als er beim Jobben am Fließband bei Siemens von zwei Studenten über Adorno erfuhr und er sich dessen 'Minima Moralia' beschaffte, die er dann fünf Jahre täglich als Vademecum mit sich rumschleppen sollte; diese Erfahrungen waren wohl auch der Ursprung für die Idee, als Verleger nur "ambulatorische Bücher" zu machen, die man beim Ausgehen, Reisen oder in der S-Bahn lesen konnte. Wie Gente sei es vielen Zeit- und Gesinnungsgenossen gegangen: "Mit seiner melancholischen Gegenwartsdiagnose etablierte Adorno eine neue Gebrauchsweise von Philosophie: Seine Bücher ersetzten den Gedichtband in der Manteltasche ... In literarischem Gewand schmuggelte Adorno ein Werk der Gesellschaftsanalyse, das voll von schwierigen philosophischen Bezügen war, unter seine Leser" (S.28/29). Adorno habe mit seinen Schriften die Ästhetisierung der Theorie ebenso wie die Theoretisierung der ästhetischen Erfahrung vorangetrieben.

Die rasche Ausbreitung der Taschenbücher Anfang der sechziger Jahre wurde einerseits von Autoren wie Adorno und Enzensberger als Vorboten einer globalen Massenkultur und als Degradierung der Leserschaft zu flüchtigen Konsumenten kritisiert, andrerseits verdankten sie gerade diesen ihre rasche und große Verbreitung: "Das neue Medium ... schmuggelte schwieriges Denken - zunächst als Konterbande - in wachsende Leserkreise ein. Die Geschichte der Theorie ist ohne die Umwälzung auf dem Buchmarkt nicht zu begreifen. Daher ist Peter Gente, der Büchersammler und Büchermacher, eine für diese Geschichte so exemplarische Figur" (S.36).

Adornos Abkehr von der Veränderung der Gesellschaft und sein Bekenntnis zur reinen Theorie im Wintersemester 1965 fiel auf fruchtbaren Boden: "Dass Adornos Saat in den sechziger Jahren so üppig aufgehen konnte, hat ebenso mit der Kulturbegeisterung der deutschen Kriegskinder wie mit dem Aufstieg dieser ersten Theoriegeneration zu tun" (S.49). Keine Revolution ohne Theorie der Revolution - so lautete das Credo in diesen Jahren. Zu Beginn der sechziger Jahre wollte die Neue Linke statt auf ewige Wahrheiten - wie viele ihrer Professoren - sondern auf die Kritik der Verhältnisse zielen, wobei auch die alltäglichsten Vorgänge gesellschaftliche Relevanz hatten: "Wer die Welt verändern wollte, musste sie in ihren Augen erst durchdenken ... Theorie verhalf nicht nur zu akademischem Kapital, sondern auch zu Sexappeal bei den Kommilitonen" (S.13).

1970 wurde der Merve-Verlag als sozialistisches Kollektiv von Peter Gente, Merve Lowien, Rüdiger Möllering und Michael Kwiatkowski gegründet; das erste inoffizielle Buch war 'Wie sollen wir das Kapital lesen' von Louis Althusser. Der Merve-Verlag mit der unverwechselbaren Raute brachte kleinformatige, minimalistisch gestaltete Bände mit meist kurzen, intellektuell anspruchsvollen und literarisch angehauchten Texten für eine große, obsessive Fan-Gemeinde heraus, so dass es durchaus berechtigt ist, einen Teil der Theoriegeschichte entlang des Merve-Verlags zu erzählen:

Theorie war mehr als eine Folge bloßer Kopfgedanken; sie war ein Wahrheitsanspruch, ein Glaubensartikel und ein Lifestyle-Accessoire. In billigen Taschenbüchern breitete sie sich unter ihren Anhängern aus, in Seminaren und Lesegruppen etablierte sie neue Sprachspiele. Die Frankfurter Schule, der Poststrukturalismus und die Systemtheorie wurden zu Marken mit Bestsellerauflage" (S.12).

Nach dem Auseinanderdriften des Verlags-Kollektivs 1974 gab es eine Auffrischung des Verlags durch Heidi Paris, die wieder Schwung reinbrachte und Foucault als Autoren-Mitgift in den Verlag mitbrachte. Bis zum Tod von Heidi Paris im Jahr 2002 bestimmten beide gemeinsam das Verlags-Programm; während Gente den enzyklopädischen Part spielte und jeden Zeitungsausschnitt sammelte, der relevant sein konnte, reagierte sie auf Texte mit einer "scharfen Intuition" (S.96). Das neue programmatische Motto: "Wir sind keine Profis, sondern Leseratten" wurde zum Merve-Mantra. Während in der neomarxistischen Frühphase des Verlags ein Schwerpunkt auf Italien lag (u.a. ILucio Colletti, Toni Negril Manifesto, Lotta Continua), verlagerte er sich seit den 70er Jahren auf Theoretiker aus Frankreich - fast alle ehemalige Marxisten -, enttäuscht über die nicht erfolgte Revolution. Die Texte von Michel Foucault sowie von Gilles Deleuze und Félix Guattari sind heute noch Bestseller. In den 80er Jahren publizierte Merve Werke von Autoren der Postmoderne und des Poststrukturalismus; renommierte Verlags-Autoren waren u.a. Jean Baudrillard, Rainald Goetz, Jean-Luc Godard, Jean-François Lyotard, Heiner Müller, Wolfgang Müller, Michel Serres, Jacob Taubes und Paul Virilio. So versorgte der Verlag alle, die wild denken wollten, mit Lese- und Diskussionsstoff - vom studentischen Kader, Neomarxisten, Hausbesetzer über Spontis, Punks, Öko- und Technikkritiker bis zu den Avantgarden des Kultur- und Kunstbetriebs; gleichzeitig spiegelte der Verlag auch die jeweiligen Trendwenden (u.a. Marxismus, Ökologie und Technologie) und die aufkommende Theoriemüdigkeit in den 90er Jahren. Das Denken in Theorien verlagerte sich in die Kunst, vor allem in die Bildende Kunst. Mit der Implosion des 'Realen Sozialismus' schien auch zunächst eine Ära des hoffnungsvollen utopischen Denkens vorbei zu sein.

Peter Gente zog sich 2007 aus dem Verlag zurück und starb 2014 in Thailand; auf seiner Beerdigung und vor allem auch unmittelbar danach gab sich die "alte West-Berliner Intelligenz" ein Stelldichein: "Die Zukunft des Verlags scheint bis auf weiteres gesichert. Die Zukunft der Theorie ist ungewiss" (S.240). Damit endet auch das Buch von Philipp Flesch.

Man kann mit Recht einwenden, dass in dem Band zu wenig Analyse und Kritik der jeweiligen Theorien / Theoretiker vorkommt, dass der Diskurs weitgehend fehlt -, aber das war ja auch nicht die Absicht des Autors, das mag anderen - vielleicht Berufeneren (?) - vorbehalten sein; ein solider Grundstock dafür ist gelegt. Robert Misik hat kürzlich in einem schmalen Band an die ehemalige Debattier- und Denklust angeknüpft und die ins Unbewusste 'abgesunkenen' Produkte der damaligen zeitgenössischen philosophischen und theoretischen Diskurse sichtbar gemacht und neu reflektiert. Flesch hat eine spannende Gattungsgeschichte der Theoriebildung und -rezeption anhand der Geschichte des Merve-Verlags geschrieben; der Band lässt sich trotz seines wissenschaftlichen Anspruchs sehr gut und verständlich und zum Teil auch mit Vergnügen lesen, da er gerade auch aus der Sicht der Lesenden geschrieben wurde.

Philipp Felsch:
Der lange Sommer der Theorie.
Geschichte einer Revolte. 1960-1990.
Verlag C. H. Beck, München 2015,
327 Seiten,
mit zahlreichen SW-Fotos,
24,95 Euro

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Quelle:
© 2015 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2015

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