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BUCHBESPRECHUNG/099: "Digitaler Burnout. Warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist" von Alexander Markowetz (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Alexander Markowetz
Digitaler Burnout. Warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist

von Klaus Ludwig Helf, April 2016


Unser Smartphone scheint zu einem ewigen, allgegenwärtigen und tyrannischen Begleiter in unserem Leben geworden zu sein, wie auch der junge Informatikprofessor Alexander Markowetz in gelebter Zeitgenossenschaft alltäglich feststellen konnte. Ob in Bahn oder Bus, im Auto, im Café, im Büro, in der Schule und in der Vorlesung an der Uni, am Strand und im Sportstudio, im Gehen wie im Stehen oder selbst im Schlafzimmer: Überall ist der kleine elektronische Begleiter präsent und wird fürsorglich von uns gehegt und gepflegt wie einst das Tamagotchi. Wir scheinen uns zu "Smartphone-Zombies" entwickelt zu haben und das hat tiefgreifende Folgen: von Handy-Nacken, Autounfällen über Störungen in der Kommunikation, Workaholic-Attacken, Dauererreichbarkeit, Selfie- und Like-Orgien, Mobbing-Attacken, Shit-Storms bis zu Suchtverhalten, das im "Digitalen Burnout" oder schlimmer endet.

Über das konkrete Nutzerverhalten von Smartphone-Besitzern wollte Markowetz endlich empirisch gesicherte Daten ermitteln, um den nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen wie individuellen Problemen näherzukommen. Gemeinsam mit seinen Informatik-Kollegen und mit dem Psychologen Christian Montag entwickelte Markowetz an der Universität Bonn eine App, mit der aufgezeichnet und untersucht werden kann, was ein User mit seinem Smartphone wann, wie und wie lange tut. Als die Forscher mit dem "Menthal-Projekt" 2014 an die Öffentlichkeit gingen, um für Projektteilnehmer zu werben, trafen sie offensichtlich den zeitgeistigen Nerv: die Downloadzahlen explodierten innerhalb kurzer Zeit, so dass bald über 300.000 User das Programm auf ihr Handy geladen hatten. Die Analyse des riesigen Datenmaterials aus über 60.000 Handybesitzern liegt nunmehr - streng datengeschützt und anonymisiert- als Band in der Verlagsgruppe Droemer-Knauer vor. Das Ergebnis ist erschreckend und besorgniserregend: Im Durchschnitt entsperren die Smartphone-Nutzer allein 53 Mal am Tag ihr Handy, um mit ihm zu interagieren (E-Mails schreiben, Apps nutzen, im Netz surfen); sie unterbrechen damit alle 18 Minuten ihre Tätigkeit, mit der sie gerade beschäftigt sind; die 17- bis 25-Jährigen nutzten das Handy 60 Mal intensiv, also insgesamt drei Stunden. Dieses Nutzerverhalten sei aber kein exklusiver Tick der Jugend:

Es zieht sich unabhängig vom Bildungsstand quer durch alle Altersgruppen und alle sozialen Schichten ... Der Durchschnittnutzer verbringt zweieinhalb Stunden am Tag mit seinem Handy. Die geringste Zeit davon nutzen wir wirklich zum Telefonieren, nämlich nur noch sieben Minuten am Tag ... Den Großteil der Zeit verbringen wir mit Social Media wie Facebook, Messengern wie WhatsApp und Spielen. Unsere ersten Analysen ergaben 35 Minuten am Tag bei WhatsApp, 15 Minuten bei Facebook, fünf Minuten bei Instagram und fast eine weitere halbe Stunde mit Spielen. (S. 13) 

Außerdem habe die "Menthal-Studie" eine beängstigende Marktkonzentration festgestellt: Allein ein Drittel unserer Smartphone-Zeit am Tag gehöre der Firma Facebook mit deren sozialen Netzwerken Facebook, WhatsApp, Instagram und Snapchat. Damit betreibe Facebook als Makler einen regen Handel über einen direkten Zugang zu unserer Aufmerksamkeit, die zu einer heiß begehrten, aber knappen Ware geworden sei: 16 wache Stunden am Tag. Diese wenigen Stunden seien bares Geld wert für die digitale Industrie, die Smartphone-Hersteller, App-Entwickler, Nachrichtenmacher und Social-Media-Lenker:

Je mehr Zeit wir ihren Produkten widmen, desto mehr verdienen sie ... Sie nutzen ... instinktive Mechanismen wie Random Rewards und Instant Gratification, um eine Desire Engine aufzubauen und uns öfter zum Handy greifen zu lassen, als uns lieb sein kann. Dort werben sie um ihre Produkte, verkaufen ihre Apps und Services. Sie entwickeln diese Mechanismen stetig weiter, um uns noch weiter an sie zu binden: Ein Beispiel dafür sind die blauen "Gesehen-Häkchen" bei WhatsApp ... Auf beiden Seiten des Kommunikationskanals baut der Haken Druck auf, noch häufiger mit dem Programm zu interagieren ... um ein Maximum unserer Aufmerksamkeit abzuzapfen. Es geht um Marktmacht, um Geld. (S. 209/210) 

Von der exzessiven Nutzung des Smart-Phones sei vor allem unser Geist betroffen als "unser heute wichtigster Rohstoff", da wir in einer Wissensgesellschaft lebten. Die "digitale Daueralarmbereitschaft" überfordere unsere kognitiven, psychischen und sozialen Fähigkeiten und gefährde unsere Jobs und unsere sozialen Beziehungen. Es entstehe ein "psychosoziales Beben", das zu einer "kollektiven Verhaltensstörung" führe, die der Autor als "Digitalen Burnout" bezeichnet; dieser resultiere aus übermäßiger emotionaler und psychischer Anstrengung und führe zu einem geistigen Erschöpfungszustand, vergleichbar mit einem Burnout bei einem Workaholic. Als "Homo Digitalis" erlebten wir damit die negativen Auswirkungen der digitalen Revolution, also der vollständigen und permanenten Vernetzung unserer Welt, unseres Alltags und unseres Geistes mit dem Internet: Die Smartphones potenzierten das Problem des dauernden "On" und der ständigen Erreichbarkeit um einen weiteren Faktor:

Die permanenten Unterbrechungen durch unsere Smartphones haben zu einer totalen Fragmentierung unseres Alltags, unserer Arbeit und unserer Freizeit geführt. Die Folge ist, dass neben der Tätigkeit, mit der wir uns eigentlich befassen wollen, eine Vielzahl weiterer Aufgaben und Informationen auf uns einprasselt, die bearbeitet und verarbeitet werden wollen. (S. 17/18) 

Smartphone-Apps funktionieren wie Glücksspielautomaten: Wir betätigen sie immer wieder, um uns einen kleinen Kick zu holen, so Markowetz. Der "Digitale Burnout" sei ein Nebeneffekt des Kampfes um unsere Aufmerksamkeit, da wir durch die hochfrequente Nutzung unter Stress gerieten und durch ständige Unterbrechungen eine gestörte Aufmerksamkeit und Zerstreuung antrainierten, die uns langfristig unproduktiv und unglücklich machten; Burnout sei eine Erschöpfungsdepression, die materialisierte Form des Unglücks. Es sei dringend erforderlich, den kausalen Zusammenhang zwischen steigenden Burnouts und der Allgegenwart von Smartphones zu betrachten, wie Ulrich Warnke, einer der Autoren des "Stressreport", betont.

Alles in allem machen Smartphones potenziell abhängig, unproduktiv und unglücklich - so das Fazit von Alexander Markowetz über die dramatischen Folgen für unser Privatleben und die Arbeitswelt. Zwar findet man "Handysucht" als diagnostische Kategorie noch nicht in den neuesten Einstufungsmanualen für Psychologen und Psychiater, aber eine Anwartschaft ist sicher gegeben. Was also tun? Empirisch gesicherte Erkenntnisse lägen nunmehr vor, aber es fehle nach wie vor an Grundlagenforschungen, um wissenschaftlich fundierte pädagogische Empfehlungen zu geben: "Das, was unsere Kinder lernen müssen, um gegen die Gefahren und Versuchungen der Digitalisierung gewappnet zu sein, muss nämlich erst noch entwickelt werden." (S. 187) Bis dahin gelte als allgemeiner Maßstab: Reduktion und bewusstes Leben stünden im Vordergrund; Ziel sei vor allem ein einfacheres, aufgeräumteres Leben, entrümpelt von überflüssigen Dingen und Tätigkeiten:

Unsere zentrale Aufgabe wird es sein, unseren Kindern einen Anker in der realen Welt zu geben - Entschleunigung, Entrümpelung, Achtsamkeit, Natur, Arbeit, Kunst und ein bewusstes Leben - und sie für den bewussten Umgang mit den Geräten zu sensibilisieren ... Unsere Kinder müssen Abstand gewinnen. Abstand zu den negativen Nebenwirkungen digitaler Technik, also den ständigen Unterbrechungen, den Mechanismen des Glücksspielautomaten, dem fragmentierten Alltag und der gestörten Aufmerksamkeit. (S. 190) 

Diesen Abstand bezeichnet der Autor als "gesunde Arroganz"; diese basiere auf einem intakten Selbstwertgefühl und der Wertschätzung der eigenen Zeit. Aufmerksamkeit werde zukünftig einen immer höheren Wert haben. Als (Haus-)Aufgabe für die erwachsenen Smart-Phone-Besitzer fordert er mehr Selbst-Reflexion und Handlungs-Initiative ein:

Wir müssen uns über den Wert unserer Aufmerksamkeit klar werden und die Initiative ergreifen ... eine digitale Diät machen, eine Etikette aufstellen und umsetzen ... Smartphones sind eine technologische Neuerung, die unser Leben schon jetzt stark bestimmt. Indem wir sie verstehen und den Umgang mit ihnen meistern, haben wir eine großartige Chance: Wir können an ihnen lernen, wie wir den Wandel managen ... Meistern wir unsere Smartphones. (S. 213-215) 

Markowetz ist sicher kein "Bilderstürmer", der die Smartphones generell abschaffen oder verteufeln will. In seinen medienpädagogischen Überlegungen ist er auch nicht originell, sondern greift auf bereits bewährte Maßnahmen zurück, die aber konsequent angewendet durchaus erfolgreich wirken. Der vorliegende Band gibt nicht nur die erschreckenden empirischen Ergebnisse der Smartphone-Nutzung wieder, sondern reflektiert diese in Verbindung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Psychologie und sensibilisiert uns für die alltäglichen Gefahrenpotenziale, die in der unreflektierten Nutzung von Smartphones im Besonderen und von netzbasierter Kommunikation im Allgemeinen liegen. Ein hervorragender Band, der wachrüttelt aus dem selbstgewählten Digital-Koma; klar gegliedert, gut zu lesen und zu verstehen soll er nicht nur von Medienpädagogen gelesen werden, sondern von allen kritischen Zeitgenossen und Kommunikatoren.

Alexander Markowetz
Digitaler Burnout
Warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist
Droemer Knaur, Oktober 2015
Hardcover
220 S.
19,99 Euro

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2016

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