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BUCHBESPRECHUNG/116: "Zehntausend Jahre Sex" von Nansen & Piccard (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Nansen und Piccard (Redaktionsleitung):
Zehntausend Jahre Sex

von Klaus Ludwig Helf, August 2016


Sex ist in seinen vielfältigen Ausprägungen beim Menschen ein Teil seiner sozialen Interaktion, die Gefühle, Zärtlichkeit, Zuneigung und Liebe ausdrückt, er befriedigt die Libido und dient in Form des Geschlechtsverkehrs der Fortpflanzung. Im Gegensatz zum Tier (mit Ausnahmen wie bei den Bonobos und Delfinen) ist Sex beim Menschen kein reines Instinktverhalten, sondern unterliegt bewussten kognitiven und sozialen Entscheidungsprozessen. Der Mensch entwickelte im Laufe seiner Entwicklung eine große Vielfalt von sexuellen Praktiken, die Ausdruck seiner kreativen Fähigkeiten und seiner Freude am körperlichen Miteinander sind. Die "Liebenden von Ain Sakhri", eine zehn Zentimeter große Calcit-Plastik, die im heutigen Israel gefunden wurde, ist etwa 10.000 Jahre alt und gilt als die älteste bekannte Darstellung des menschlichen Geschlechtsaktes. Damit beginnt der vorliegende Band eines Autorenkollektivs, das sich mit der Geschichte der Sexualität beschäftigt:

"Dieses Buch zeigt, dass die Menschheit schon immer oversexed war. Der Homo sapiens interessiert sich seit 10 000 Jahren auf fast manische Weise für seine Sexualität. Er hat Pornoportraits in Höhlenwände geritzt, Sexsprüche auf Papyrus versandt und sich seltsame Gebote, Verbote und Stellungen ausgedacht. Sex war immer sehr viel mehr als das bloße Zusammenstecken der Geschlechtsteile zu Reproduktionszwecken. Er will mit dem Alltag, dem eigenen Selbstbildnis und den geltenden Moralvorstellungen nichts zu tun haben" (S.195/196).

Was wir als menschliche Sexualität bezeichnen, entwickelte sich - so die Autoren unter Bezug auf anthropologische Forschungen - erst mit der "neolithischen Revolution", mit dem sesshaft Werden und dem Bau von Häusern und Siedlungen, mit der Zähmung und Züchtung von Tieren, dem Ackerbau und der Vorratsspeicherung - ein Prozess, der gegen 8000 v.Chr. abgeschlossen war:

"Es ist der Beginn der menschlichen Kulturgeschichte. Und damit auch der Beginn der schrecklich schönen, verwirrenden, chaotischen Sache, die wir Sexualität nennen. Und sie meint mehr als: nur Sex" (S.10).

In 100 Kapiteln werden interessante, spannende, skurrile, lustvolle und witzige Anekdoten aus der Kulturgeschichte der Erotik erzählt - keine billigen Zoten oder schmierige Pornografie. Fazit des Buchs - es gibt heute fast nichts, was es zuvor noch nicht gab; u.a. wird über folgende Themen berichtet: Intimrasur im alten Ägypten (2200 v.Chr.), der androgyne Pharao Echnaton in Frauenkleidern (1350 v.Chr.), die spartanischen Sugardaddies, der öffentlich onanierende Punk unter den Philosophen, Diogenes von Laertes (360v. Chr.); nach unserer Zeitrechnung: Ovids Liebes-Ratgeber im alten Rom ("Ars Amatoria" im Jahr 2), die Sex-Graffitis in Pompeji (im Jahr 79), Porno-Vasen in Peru (500), Partnertausch am Polarkreis (1100), Hildegard von Bingen über weibliche Lust (1150), Scheik Nefzauis Sex-Ratgeber (1519), Erfindung des Keuschheitsgürtels (1405), John Marten über die "Sünde der Selbstbefleckung" (1712), schwule Gangs im Berlin der Weimarer Republik, der Aufbau von Swinger-Clubs auf Air-Force-Basen während des Zweiten Weltkrieges, Beate Uhse und der erotische Versandhandel, die Erfindungen des Pettings, der Verhütungspille und des "Blauen Wunders" (Viagra), die Bekämpfung von HIV und der Aufbau von Pornhub durch Mia Khalifa. Wer hätte gedacht, dass der große ägyptische Herrscher, Begründer des Monotheismus und Gatte der Nofretete, Echnaton, den androgynen Lifestyle hoffähig gemacht hat oder dass der berühmte Maler Oskar Kokoschka aus Sehnsucht nach seiner geliebten Alma Mahler deren Nachbildung als erste Sexpuppe in Auftrag gab?

Spätestens nach der Lektüre dieses spannenden Bandes wird klar, dass Sexualität in der Kulturgeschichte der Menschen immer schon ein kreativer, lustvoll-leidenschaftlicher, aber auch gesellschaftlich und moralisch-religiös hoch normierter und umkämpfter Bereich war und heute noch ist; Sexualität war immer wild und hat immer Grenzen überschritten.

Mit Recht prangern die Autoren zeitgenössische Tendenzen an, Sexualität zu kontrollieren, in vernünftige Bahnen zu lenken:

"Der größte Gegner der Lust sitzt heute nicht im Lehrerzimmer, im Sittendezernat oder im Pfarrhaus - sondern in unseren eigenen Köpfen. Sex hat nichts verloren in einer Reihe mit Genussmitteln wie Massagen, Whiskey oder Drei-Gänge-Bio-Menüs ... Die Heldinnen und Helden der Liebe haben alles vom Sex verlangt ... Von diesem Mut kann man sich viel abschauen"(S.196).

Der Band ist ohne Anspruch auf Vollständigkeit ein unterhaltsames und spannendes Kompendium über das Sittenbild der menschlichen Sexualität im Wandel der Kulturgeschichte.


Nansen und Piccard (Redaktionsleitung): Zehntausend Jahre Sex. Ecowin Verlag Wals bei Salzburg 2016; Hardcover mit Schutzumschlag und zahlreichen Illustrationen von Jörg Dommel; 2004 Seiten; 19,95 EURO; als E-BOOK 14,99 EURO.

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2016

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