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BUCHBESPRECHUNG/127: "Das Leben des Antonio Gramsci" von Giuseppe Fiori (Biographie) (Gerhard Feldbauer)


Am 27. April 1937 verstarb Antonio Gramsci

Giuseppe Fiori schrieb eine Biographie über ihn, die auch weniger bekannte Eindrücke aus dem Leben dieses standhaften kommunistischen Führers vermittelt

von Gerhard Feldbauer, 17. April 2017


Am 27. April 1937 verstarb der 1928 von einem Sondertribunal Mussolinis zu 20 Jahren Kerker verurteilte Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens [1], Antonio Gramsci. Wer anlässlich seines 80. Todestages auf der Suche nach Lesestoff ist, dem kann man die 2013 vom Rotbuchverlag Berlin in Deutsch neu aufgelegte Biographie "Das Leben des Antonio Gramsci" [2] empfehlen. Der Verfasser, der 2003 verstorbene Giuseppe Fiori, war selbst ein aktiv am Leben der IKP teilnehmender Politiker. Als unabhängiger Linker auf deren Liste in den Senat gewählt, sympathisierte er mit dem Versuch von Generalsekretär Enrico Berlinguer, das Konzept Gramscis vom Historischen Block in einem Regierungsbündnis mit der großbürgerlichen Democrazia Cristiana (DC) umzusetzen. Dem Vorhaben fehlte ein realer Bezug zu seinem Theoretiker. Denn während Gramsci - wie noch zu sehen ist - das Festhalten an einer Sozialistischen Gesellschaft zur Bedingung eines Historischen Blocks erklärt hatte, verzichtete Berlinguer auf die Benennung einer solchen Alternative, anerkannte die kapitalistische Marktwirtschaft und wollte auf dieser Grundlage mit der Großbourgeoisie zusammenarbeiten und "die Überwindung der Klassenschranken anstreben" ("Unità", 12. November 1971). Als der linksliberale DC-Vorsitzende Aldo Moro, Berlinguers Partner, im Mai 1978 einem von der CIA und der von ihr geführten faschistischen Putschloge Propaganda due (P2) inszenierten Mord zum Opfer fiel, scheiterte das Projekt. Fiori bemühte sich als Chefredakteur des der IKP nahestehenden linken "Paese Sera" (1979 - 1981) um Schadensbegrenzung.

Fiori gibt einen fundierten Einblick in den gewaltigen Beitrag, den Gramsci zur Verbreitung des Marxismus-Leninismus und zur Schaffung einer revolutionären Partei des italienischen Proletariats geleistet hat. Ebenso, dass er ein Mann der revolutionären Praxis war. Er zitiert viele lange Passagen Gramscis, leider meist ohne Quellenangabe. Das Buch enthält 104 Anmerkungen, die auf Zusammenhänge und Personen verweisen, zu denen auch ein Register gehört, das zirka 500 Namen erfasst. Ein ausführliches Literaturverzeichnis umfasst auch zahlreiche in Deutsch vorliegende Titel. Einige in der DDR erschienene Ausgaben, wie "Die süditalienische Frage" und "Briefe aus dem Kerker", Berlin (Ost) 1955 bzw. 1956, sind nicht aufgenommen worden. Auch Togliattis Schrift "Ein Leben für die italienische Arbeiterklasse", die 1954 in der DDR erschien, fehlt. Angesichts der Sorgfalt, die die Herausgeber sonst walten lassen, verwundert das.

Im August 1917 trat Gramsci als einer der Organisatoren an die Spitze des unter dem Einfluss der russischen Februarrevolution 1917 ausgebrochenen Aufstandes der Turiner Arbeiter gegen Hungersnot und für Frieden. In einem Kommentar im PSI-Organ "Avanti" stellte er unter der Schlagzeile "La Rivoluzione contro il Capitale" (Die Revolution gegen das Kapital) klar die von Lenin bezogene Position heraus. Die Arbeiter setzten den reformistischen Turiner ISP-Vorstand ab und wählten eine neue Leitung mit Gramsci an der Spitze. Erst nach viertägigen Barrikadenkämpfen, bei denen Hunderte Arbeiter getötet, noch viel mehr verwundet und Tausende verhaftet wurden, gelang es der Armee, die Erhebung niederzuschlagen.

Die linke Fraktion dominierte die revolutionären Nachkriegskämpfe der Sozialistischen Partei. In Italien hatte sich noch kein die Arbeiterbewegung beherrschender Reformismus durchgesetzt. Davon ausgehend versuchte Gramsci zusammen mit Palmiro Togliatti [3], Umberto Terracini [4] und Angelo Tasca [5] in der Partei mit der kommunistischen Gruppe Ordine Nuovo (Neue Ordnung) den Bruch mit dem Opportunismus durchzusetzen und sie in eine revolutionäre, was hieß, kommunistische Partei umzuwandeln. "Wer kein revolutionärer Kommunist ist, muss aus der Partei entfernt werden", forderte Gramsci.

Die Gründer der Ordine Nuovo gaben die gleichnamige Zeitschrift heraus, deren erste Ausgabe am 1. Mai 1919 erschien. Fiori gibt einen detaillierten Einblick in die komplizierten Auseinandersetzungen, die in diesem Prozess auch unter den führenden Kommunisten stattfanden.

Es gelang, neben proletarischen Autoren hervorragende Intellektuelle zur Mitarbeit in der Ordine Nuovo zu gewinnen, was vor allem ein Verdienst der talentierten Kunstkritiker Gramsci und Tasca war. In der Zeitung wurde ein Grundsatz des ideologischen Wirkens Gramscis sichtbar, "dem Proletariat die Kultur zu vermitteln, ohne die es sich seiner historischen Funktion nicht bewusst werden konnte", hält Fiori fest. Dem entsprach, dass in der Zeitung neben Arbeiterkorrespondenten und Arbeiterdichtern pazifistische Intellektuelle der Weltliteratur wie Romain Rolland, Henri Barbusse, Walt Whitman und Maxim Gorki schrieben. Dass es sich nicht nur um kommunistische Intellektuelle handelte, verdeutlichte beispielsweise die Mitarbeit des brillanten liberalen Kulturkritikers Piero Gobetti.

1920 wuchsen die revolutionären Arbeiteraktionen sprunghaft an. Millionen streikten nicht mehr nur, um ihre materielle Lage zu verbessern, sondern für den Sturz der Ausbeuterordnung. Die Arbeiter alle großen Unternehmen in Norditalien besetzten die Betriebe, wählten Fabrikräte, übernahmen die Leitung der Produktion (die sie trotz Sabotage des größten Teils des technischen Personals durchweg zu 70 Prozent aufrechterhielten). "Im Fiat-Hauptwerk saß Giovanni Parodi, ein sozialistischer Arbeiter, an Agnellis Schreibtisch".[6] Die Arbeiter bildeten bewaffnete Rote Garden zur Verteidigung der Unternehmen. Im Süden nahm die Inbesitznahme von Ländereien der Latifundistas teilweise Massencharakter an. Die Regierung musste durch Dekret das Vorgehen der Bauern legalisieren.

Am 8. Mai 1920 gab Gramsci in der Ordine Nuovo die Orientierung für die zu schaffende Partei. Sie müsse, zitiert Fiori, "ihre ganze Energie daran setzen, die kampfbereiten Arbeiter zu organisieren", sie müsse "ein Manifest erlassen, das die revolutionäre Eroberung der politischen Macht als ausdrückliches Ziel feststellt und das Industrie- und Landarbeiterproletariat aufruft, sich auf den Kampf vorzubereiten und sich zu bewaffnen, und das auch die sozialistischen Lösungsvorschläge für die aktuellen Probleme benennt: die Aufsicht des Proletariats über Produktion und Distribution, die Entwaffnung der Söldnerkorps, die Kontrolle der Gemeindeverwaltungen durch die Arbeiterorganisationen."

Es ging Gramsci also zunächst nicht darum, eine neue, kommunistische Partei zu gründen. Lenin bezog sich ausdrücklich auf die von Gramsci vorgeschlagene "Partei des revolutionären Proletariats in Italien", die "zur wirklichen Vorhut des revolutionären Proletariats" werden müsse (Bd. 30, DDR-Ausgabe S. 373-385). Gramsci suchte eine Übereinkunft mit den Zentristen unter Führung Giacinto Menotti Serratis.[7] Auf dem PSI-Kongress, der am 15. Januar 1921 in Livorno begann, vertraten die Zentristen 98.028 Mitglieder, Ordine Nuovo 58.783 und die Reformisten 14.695. Serrati beugte sich jedoch dem Argument, die Einheit der Partei zu wahren, mit dem die Zentristen den Ausschluss der Reformisten ablehnten. Daraufhin verließen die Linken am 21. Januar 1921 den Kongress und gründeten die IKP. Serrati brach 1924 mit den Reformisten und trat der IKP bei, die ihn in ihr Zentralkomitee aufnahm. Das entsprach der Empfehlung Lenins, solchen Genossen die Rückkehr zur Partei, wenn sie mit dem Opportunismus brechen, nicht zu verwehren (Bd. 30, S. 381).

Auf die Gründung der IKP reagierte der Faschismus mit einer Verschärfung seines Terrors gegen die Arbeiterbewegung, den er auf ganz Norditalien und die Toskana ausdehnte. Ordine Nuovo berichtete am 23. Juli 1921, dass 1920 2.500 Italiener (Männer, Frauen, Kinder und Greise) unter den Kugeln der Faschisten und der öffentlichen Sicherheitskräfte auf Straßen und Plätzen den Tod fanden, im ersten Halbjahr 1921 ungefähr 1.500 Menschen durch Kugeln, Messer und Schlagstock der Faschisten getötet, 20.000 Bewohner der Städte ausgewiesen oder durch Drohungen gezwungen wurden zu fliehen. In der Emilia, der Romagna, der Toskana, in Umbrien und dem Veneto terrorisierten die Sturmabteilungen 15 Millionen Menschen. Die Behörden sahen dem blutigen Treiben tatenlos zu.


KP-Gründung war unumgänglich [8]

Gramsci ist oft nachgesagt worden, er habe die Trennung von den Opportunisten als einen großen Fehler gesehen. Das entstellt seine Haltung. Tatsächlich sah er, wie Fiori zitiert, im Misslingen der Umwandlung der ISP in eine revolutionäre Kampfpartei des Proletariats "den größten Triumph der Reaktion".

Gramsci begann als Erster in der kommunistischen Weltbewegung eine Analyse des im Oktober 1922 in Italien an die Macht gekommenen Faschismus. "Er kam dem wahren Charakter des Faschismus auf die Spur, analysierte die reaktionäre Einstellung seiner führenden Vertreter, die Borniertheit der Kleinbürger, die ihm wie Schafe nachliefen, und vor allem die Gefahr, die von ihm drohte und die von den meisten Kommunisten damals noch unterschätzt wurde", schreibt Fiori. Gramsci schätzte ein, dass das nicht lediglich ein Führungswechsel innerhalb der Bourgeoisie war, sondern der "Faschismus als Instrument einer Industrie-Agraroligarchie (handelt), um in den Händen des Kapitals die Kontrolle des gesamtem Reichtums des Landes zu konzentrieren."

In seiner Faschismus-Analyse hielt Gramsci fest, dass die herrschende Klasse in den kapitalistisch hochentwickelten Ländern politische und organisatorische Reserven besitzt, die sie z. B. in Russland nicht hatte, und so auch schwerste Wirtschaftskrisen keine unmittelbare Rückwirkung auf das politische Leben haben, sondern die Politik immer eine Verspätung gegenüber der ökonomischen Entwicklung aufweist. Das Verlangsamen der Massenaktionen erforderte von der revolutionären Partei eine sehr viel komplexere Strategie und Taktik, die weit von der entfernt ist, die für die Bolschewiki zwischen März und November 1917 notwendig war. Er schlussfolgerte nun, dass die Frage der proletarischen Revolution zunächst nicht mehr auf der Tagesordnung stand, die Arbeiterklasse ihre politische Hegemonie auf der Grundlage der Freiwilligkeit und Überzeugung erringen müsse, ihr Masseneinfluss voraussetze, das Sektierertum zu überwinden.


Die Konzeption des "Historischen Blocks"

In seiner These vom "Historischen Block" entwickelte Gramsci ein System von Bündnissen der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft, den Mittelschichten und der Intelligenz, in dem er den katholischen Volksmassen großen Stellenwert beimaß. Er ging, was Fiori nicht erwähnt, von Lenins Hinweisen für die italienischen Kommunisten auf dem III. KI-Kongress aus, dass die Partei im revolutionären Kampf "die Massen", die "Mehrheit der Arbeiterklasse" gewinnt (Bd. 32, S. 491 ff.). Gramsci hielt Zugeständnisse für notwendig, betonte gleichzeitig, was von Berlinguer (siehe oben) nicht beachtet wurde und auch heute oft übersehen wird, es müsse es sich um einen "ausgeglichenen Kompromiss" handeln, bei dem die Zugeständnisse der KP "nicht das Wesentliche", nämlich "die entscheidende Rolle (...), die ökonomischen Aktivitäten der führenden Kraft" betreffen dürften, worunter die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft und die Herstellung einer sozialistischen Ordnung zu verstehen war. Auch bei Fiori bleibt das unterbelichtet. Hervorgehoben wird, dass Gramsci den Kampf für den Sozialismus mit der Verteidigung bzw. der Eroberung der Demokratie verband. Seine Konzeption wurde auf dem Parteitag in Lyon 1926 als Parteiprogramm ("Thesen von Lyon") angenommen und er als Nachfolger Amadeo Bordigas [9] zum Generalsekretär gewählt.

Gramsci lehnte die auf dem VI. KI-Kongress aufgestellte Sozialfaschismusthese ab. Die IKP stimmte ihr zunächst zu, wandte sie aber in der Praxis nicht an. Schließlich anerkannte sie die Sozialdemokratie als Teil der Arbeiterbewegung. Das war die Voraussetzung, 1934 mit der ISP ein Aktionseinheitsabkommen zu schließen, das im Juli 1937 in Spanien mit einem klaren antiimperialistischen Bekenntnis vertieft wurde.

Ausführlich geht Fiori darauf ein, wie Gramsci auf die Strategie und die aktuelle Politik der Partei aus dem Kerker heraus großen Einfluss nahm und unerschütterlich die Politik seiner Partei verteidigte. Vom Vorsitzenden des Sondertribunal, das ihn im Juni 1928 zu 20 Jahren Kerker verurteilte, nach der Bedeutung der in seinen beschlagnahmten Schriften gebrauchten Begriffe Krieg und Machtübernahme gefragt, gab der IKP-Generalsekretär die berühmte Antwort, dass alle Militärdiktaturen früher oder später zu einem Krieg führen und dass es in einem solchen Fall dem Proletariat zukomme, die herrschende Klasse zu ersetzen und die Zügel des Landes zu ergreifen, um das Schicksal der Nation zu wenden. Als der Staatsanwalt ihn unterbrechen wollte, fügte er hinzu: "Ihr werdet Italien ins Verderben führen, uns Kommunisten wird die Aufgaben zufallen, es zu retten." Mussolinis Propagandaminister Michele Isegre erklärte, "dieser Kopf muss für 20 Jahre gehindert werden zu arbeiten".


Durch "langsames Sterben" ermordet

Das gelang nur teilweise. Zweifelsohne hätte dieser geniale Kopf aber in Freiheit einen noch größeren Beitrag für die IKP, für den antifaschistischen Widerstand und auch die kommunistische Weltbewegung leisten können. Denn schon das, was er im Kerker erarbeitete, war ein ungeheures Pensum an theoretischen Erkenntnissen für den revolutionären Kampf. Gramsci, der einen Buckel hatte und von zwergenhafter Gestalt war, litt von früher Kindheit an unter einer schwachen Gesundheit. Während die bisherigen Publikationen zu Gramsci das verbal abhandeln, geht Fiori detailliert darauf ein, mit welch geradezu übermenschlicher Willenskraft Gramsci arbeitete. "Die Wahrheit war, dass Antonio Gramsci schon zu dieser Zeit (1933) sich in einem Prozess des langsamen Sterbens befand", schreibt Fiori. "Seine Zähne waren ausgefallen und er hatte ein schmerzhaftes Magenleiden. Fortschreitende Lungentuberkulose, Arterieosklerose und Pott'sche Krankheit (eine tuberkulöse Wirbelsäulenentzündung) verursachten unerträgliche Schmerzen." Mit der jahrelang abgelehnten medizinischen Betreuung und der Weigerung, den Gefangenen in ein Gefängniskrankenhaus zu verlegen, betrieb das Mussolini-Regime systematisch die Ermordung Gramscis. "Ohne ärztliche Hilfe seinen Krankheiten ausgeliefert, starb er unter schrecklichen Qualen einen langsamen Tod". Versuche, ihn zu einem Gnadengesuch zu bewegen, die nicht nur von Mussolini, sondern auch von seiner Familie und Freunden ausgingen, lehnte Gramsci ganz entschieden ab, da er darin eine Distanzierung vom antifaschistischen Widerstand und eine Auswirkung auf dessen Kampfkraft sah. Trotz dieses Krankheitszustandes arbeitete Gramsci weiter. Aus dem Jahr 1933 stammen die Gefängnishefte 1 (Notizen zu verschiedenen Themen), 2 (Grundlagen der Politik), 4 und 22 (Verschiedenes).

Für die Anschuldigung, die Christoph Nix im Vorwort gegen Togliatti erhebt, dieser "wollte Gramsci lieber im Kerker als in Freiheit sehen", finden sich in der Biographie Fioris keine Belege. Dem steht auch entgegen, dass Togliatti, unterstützt von Luigi Longo [10], nach dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 in einer Palastrevolte im April 1944 mit der "Wende von Salerno" (Eintritt der Kommunisten und Sozialisten zusammen mit den bürgerlichen Parteien in die nach dem Sturz des "Duce" von Marschall Pietro Badoglio gebildete Regierung) Gramscis These vom "Historischen Block" in der Praxis verwirklichte. Er bestätigte sich damit, wie Georg Lukas einschätzte, als "eine der bedeutendsten taktischen Begabungen, welche der Arbeiterbewegung hervorgebracht hat" [11] und verdeutlichte so die überragende Bedeutung der theoretischen Leistung Gramscis.[12]

Fiori führt auch an, dass von der UdSSR durch den Volkskommissar Auswärtige Angelegenheiten, Maxim Maximowitsch Litwinow, über den italienischen Botschafter in Moskau ein Austausch Gramscis versucht wurde, was Mussolini "schroff abgelehnt" habe.

Im März 1933 bildete eine breite antifaschistische Protestbewegung in Paris ein internationales Komitee, dem u. a. Romain Rolland und Henri Barbusse angehörten. Es machte die unmenschlichen Haftbedingungen Gramscis publik und forderte seine Freilassung. Danach wurde Gramsci im November 1933 in ein Gefängniskrankenhaus in Citavecchia nordöstlich von Rom und später nach Formia in der römischen Region Latium in eine kleine Klinik unter strenger polizeilicher Bewachung verbracht. 1934/35 verfasste er hier elf seiner Gefängnishefte und überarbeitete frühere Aufzeichnungen.

Fiori geht auch auf die problematische Ehe Gramscis mit seiner Frau Giulia Schucht ein, die er während seines Aufenthaltes als Delegierter der IKP bei der Komintern 1922/23 kennenlernte und heiratete und mit der er zwei Söhne hatte. "Er war 31 Jahre alt und zum ersten Mal verliebt", schreibt Fiori, der kein Urteil fällt. Aber was er darlegt, vermittelt den Eindruck dass Giulia nicht dazu fand, Antonio in den letzten und schwersten Jahren seines Lebens im Kerker auch nur annähernd beizustehen und ihm ein Trost zu sein. Vergeblich wartete Gramsci auf einen Besuch von ihr im Gefängnis, ja oft erhielt er monatelang nicht einmal Post von ihr. Das erschwerte sein Schicksal zusätzlich. "Er hatte", so Fiori, "seine Vergangenheit schonungslos analysiert und war zu der Überzeugung gekommen, dass er Giulia gegenüber 'schuldig' sei, was er mit seiner politischen Aktivität" in Zusammenhang brachte. Sie an sich gebunden zu haben, sah er als einen "Irrtum". Er habe "nicht den Mut gefunden, allein zu leben, niemanden an sich zu binden, keine Zuneigung und kein enges Verhältnis usw. Entstehen zu lassen", gibt Fiori ihn wieder. Gramsci befasste sich mit der Lösung, das wiedergutzumachen, "in die Einsamkeit zurückkehren und Giulia freizugeben". Menschlich tief ergreifend sind auch die einfühlsamen Briefe Gramscis an seine beiden Söhne Delio und Giuliano (Delio hat er nie gesehen), die er ihnen bis kurz vor seinem Tod schrieb.[13]

Der Haltung Giulias steht die entgegengesetzte ihrer Schwester Tanja gegenüber, die in Italien verblieb und Gramsci aufopferungsvoll zur Seite stand, ihn im Gefängnis besuchte, Literatur besorgte und alles tat, um sein schweres Los etwas zu erleichtern. Mit ihr besprach er auch die Probleme mit seiner Frau.

Anfang April 1937 wurde der todkranke Gramsci aus der Haft entlassen. Er verstarb am 27. April um 4.10 Uhr. Er wurde nur 46 Jahre alt. Fiori schließt die Biographie mit einem Brief, den Gramsci vor der Verkündung des Urteils 1928 an seine Mutter geschrieben hatte: "Damit ich ganz ruhig sein kann, möchte ich, dass Du nicht erschrickst oder Dich aufregst, wie immer auch das Urteil ausfallen mag. Ich möchte, dass Du verstehst und fühlst, dass ich ein politischer Gefangener bin und dass ich mich dessen nicht schäme und nie schämen werde. Ich möchte dir sagen, dass ich es im Grunde genommen nicht anders gewollt habe, weil ich nie meine Meinung aufgeben wollte, und ich bin bereit, dafür nicht nur ins Gefängnis zu gehen, sondern sogar mein Leben zu opfern. Deshalb kann ich ruhig und mit mir selbst zufrieden sein. Liebe Mamma, ich möchte Dich gern ganz fest umarmen, damit du spürst, wie lieb ich dich habe und wie ich Dich für diesen Kummer trösten möchte, den ich Dir bereitet habe - aber ich konnte nicht anders handeln. Das Leben ist sehr hart, und manchmal müssen die Kinder ihren Müttern großes Leid zufügen, wenn sie ihre Ehre und Menschenwürde bewahren wollen."


Anmerkungen:

[1] Sie nannte sich Kommunistische Partei Italiens, Sektion der Kommunistischen Internationale (KPI), nach der Auflösung der KI 1943 Italienische Kommunistische Partei (IKP). Der allgemein übliche Name wird vom Rezensenten durchgängig benutzt.

[2] Die Originalausgabe "Vita di Antonio Gramsci" erschien 1966 bei Laterza Rom. 1970 in Paris "La vie de Antonio Gramsci".

[3] Nach Gramscis Verhaftung 1926 amtierender Generalsekretär, nach dessen Tod 1937 im Amt bestätigt. An der Seite Georgi Dimitroffs seit 1934 zweiter Mann an der Spitze der KI. Erarbeitete auf der Grundlage der von Gramsci ausgearbeiteten nationalen Strategie die Konzeption des Eintritts der IKP zusammen mit den antifaschistischen Oppositionsparteien in die Regierung von Marschall Badoglio ("Wende von Salerno" im April 1944) und setzte sie zusammen mit Luigi Longo durch.

[4] Terracini war Delegierter zum III. KI-Kongress. Von Mussolinis Sondertribunal 1926 zu 20 Jahren Kerker verurteilt, aktiv in der Resistenza.

[5] Tasca nahm 1922 am IV. Kongress der Komintern teil, wurde danach Mitglied des Sekretariats des ZK der IKP, auf dem VI. KI-Kongress in deren Sekretariat berufen. 1929 mit Begründung der Fraktionsbildung (Tasca-Gruppe) und Anhänger Bucharins aus der IKP ausgeschlossen. Befasste sich danach in Frankreich mit Faschismusforschung und schrieb das bedeutende Werk "Aufstieg des Faschismus in Italien". Er blieb, wie Ignazio Silone im Vorwort dazu schrieb, "ein Sozialist der alten Garde" und hat sich nie zu Denunziationen gegenüber der IKP oder der kommunistischen Bewegung hergegeben.

[6] Giovanni Agnelli, 1889 Begründer und Besitzer des stärksten italienischen Auto- und Industriekonzerns, einer der größten Gewinner im Ersten Weltkrieg.

[7] Seit 1914 Chefredakteur der sozialistischen Tageszeitung "Avanti" vertrat er konsequent die Antikriegsposition, die die ISP als einzige westeuropäische Sektion der II. Internationale bezog, was Lenin "eine Ausnahme für die Epoche der II. Internationale" bezeichnete und die Partei "einen gewaltigen Schritt vorwärts d. h. nach links" brachte (Lenin, Bd. 21, S. 100; Bd. 28, S. 106). Auf den Konferenzen in Zimmerwald 1915 und Kienthal 1916 näherte er sich Lenin an.

[8] Zwischentitel vom Rezensenten

[9] Bordiga war ab 1910 Mitglied der ISP, verteidigte den Marxismus gegen die Reformisten, bezog 1914 Antikriegspositionen. Seit 1919 führender Vertreter der Kommunisten in der ISP, 1921 Mitbegründer der IKP, bis 1926 ihr Generalsekretär. Repräsentierte sektiererische Positionen, trat gegen die Teilnahme der IKP an Wahlen und des parlamentarischen Kampfes ein, wurde deswegen 1931 auf dem illegalen Parteitag in Köln aus der IKP ausgeschlossen.

[10] Mitbegründer der IKP. Teilnahme am IV. und VI. KI-Kongress, seit 1933 Mitglied des EKKI. Seit 1927 Mitglied des Politbüros, bereitete er das Aktionseinheitsabkommen mit ISP vor und unterzeichnete es 1934 mit dem ISP-Vorsitzenden Pietro Nenni. In Spanien Generalinspekteur aller Inter-Brigaden. Aktiv an der Ausarbeitung und Durchsetzung der "Wende von Salerno" beteiligt. In der Partisanenarmee zusammen mit Sandro Pertini (ISP) einer der beiden Befehlshaber.

[11] In: Theo Pinkus: Gespräche mit Georg Lukas. Hamburg 1967, S. 71.

[12] Siehe dazu auch Togliatti: Antonio Gramsci. Ein Leben für die italienische Arbeiterklasse. Berlin/DDR 1954.

[13] Nachzulesen in: Gedanken zur Kultur, Leipzig 1987, S. 115 ff.


Giuseppe Fiori: Das Leben des Antonio Gramsci. Eine Biographie. Rotbuch Verlag, Berlin 2013. ISBN 9783867891899. Gebunden, 416 Seiten, 24,99 EUR.

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Quelle:
© 2017 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2017

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