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BUCHBESPRECHUNG/143: Martin Scorsese, Psychoanalyse und Filmtheorie, von P. Bär und G. Schneider, Hg. (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Peter Bär, Gerhard Schneider (Hg.)
Martin Scorsese. Buchreihe: Im Dialog
Psychoanalyse und Filmtheorie, Band 13.

von Klaus Ludwig Helf, August 2017


Martin Scorsese ist einer der bedeutendsten und einflussreichsten zeitgenössischen Filmregisseure, der auch als Drehbuchautor und Produzent einen Namen hat; er steht in der Tradition des europäischen Autorenfilms und wurde weltberühmt mit seinem Film «Taxi Driver« (1976) und erhielt 2007 einen Oskar für seinen Film «Departed - Unter Feinden«. Im November vor 75 Jahren wurde Scorsese in Queens (New York City) geboren und wuchs dann in Little Italy auf. Als Hommage erschien jetzt in der Schriftenreihe «Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie« ein Band über ihn, der sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Regisseur und seinen Filmen auseinandersetzt; dabei werden Themen, Motive, Strukturen und filmisches Erzählen analysiert. Die Beiträge sind Ergebnisse des gleichnamigen Mannheimer Filmseminars im Filmkunsthaus «Cinema Quadrat«.

Nach Einleitung und Überblick folgen ein Aufsatz des Filmwissenschaftlers und Journalisten Georg Seeßlen über zentrale Aspekte des Gesamtwerks von Scorsese und drei monothematische Arbeiten über prominente Dimensionen in Scorseses Filmen: Opfertheorie, Gewalt als Selbstheilungsmittel und Musik als Inspirationsquelle und Resümee des Films. Die weiteren Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit einzelnen Filmen, die aus den verschiedenen Schaffensperioden Scorseses beispielhaft ausgesucht wurden. Am Schluss des Bandes wird der Film «Hugo Cabret« sowohl psychoanalytisch als auch in einer Bild-Collage quasi-filmisch interpretiert. Die einzelnen Beiträge werden jeweils abgerundet mit einer knappen Literaturliste, einer Zusammenfassung und mit Schlüsselwörtern in deutscher und englischer Sprache.

Georg Seeßlen analysiert in seinem Beitrag Scorseses Publikum, die Motive, Themen, Methoden und den sozio-biografischen Kontext seines gesamten Filmschaffens und weist ihm seinen gebührenden Platz in der amerikanischen und europäischen Filmgeschichte zu. In der Auseinandersetzung mit der Traumfabrik Hollywood habe Scorsese aus den Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend (u.a. Arbeitermilieu in «Little Italy«, Mafia, Priesterseminar) eine eigene künstlerische Welt geschaffen: "In diesem Kosmos werden bestimmte Themen wie Gewalt und Sünde in immer wieder anderen Blickwinkeln untersucht. Die charakteristischen Elemente der filmischen Handschrift des Regisseurs sind der Blick, das Bild und die damit verbundenen Verbote" (S. 27).

So tauchen von Beginn an in Scorseses Filmen Kreuzigungen, Blutopfer und Gewaltakte auf. Im «Team-up« mit langjährigen Weggefährten sei er auch in intensive Kommunikation zu seinem Publikum getreten, so vor allem mit Thelma Schoonmaker (Cutterin), Michael Ballhaus (Kamera) und den Schauspielern Robert De Niro und Leonardo DiCaprio. Feelgood-Filme mit strahlenden Helden oder mit Happy End - so Seeßlen - könne man sich bei Scorsese nicht vorstellen: "Stattdessen brechen sich stets Wirklichkeit und Mythos aneinander ... so dass wir in seinen Filmen weder an eine ungebrochene Wirklichkeit noch an einen ungebrochenen Mythos glauben können. Dies macht die innere Unruhe seiner Filme aus ... Seine Filme handeln nicht nur von unglücklichen Menschen, sie handeln vom Unglück des Menschen" (S. 18). Scorsese interessiere sich insbesondere für die Gewalt, die Menschen einander zufügen und auch dafür, woher sie kommt und was sie mit ihnen macht: "Er fragt ... auf eine sehr spezifische Weise nach Sünde, nach Schuld, nach Gnade und Erlösung (S. 17).

Isolde Böhme greift in ihrer Analyse des Films «Departed - Unter Feinden« das Thema Gewalt auf und zeigt anschaulich, wie Scorsese in der selbstzerstörerischen Welt des neoliberalen Kapitalismus in der der Ethikkodex der Mafia mächtiger ist als staatliche Gesetze, filmisch umsetzt: In der letzten Einstellung des Films nach dem Tod des Helden Colin läuft eine Ratte über das Balkongeländer des Hauses, das auf die vergoldete Kuppel des Regierungsgebäudes blickt. In «Taxi Driver« offenbart sich das Ausmaß an chronischer Schlaflosigkeit, bedrückender Ausweglosigkeit und quälender Einsamkeit in der obsessiven und brutalen Gewalt, die der Taxifahrer Travis gegen den «Dreck und Abschaum« in seiner Umwelt anwendet. Es ist eine der Schlüsselszenen im Film, wo er - vor dem Spiegel stehend, bis an die Zähne bewaffnet - gegen einen imaginären Feind kämpft, der er gleichzeitig selbst ist: "Unfähig zur Selbstbegegnung bzw. Selbstreflexion muss er den ganzen depressiven Gefühls-«Dreck« auf andere projizieren. Gewalt wird zum alternativlosen Selbstheilungsversuch, kulminierend in einem Blutbad" (S. 63). Der brutale Gewaltausbruch habe aber nur scheinbar kathartische Wirkung auf Travis, wie Helmut Däuker in seiner Analyse zu Recht vermutet; am Endes des Films wuchert die Gewalt weiter.

Auch Marcus Stiglegger betätigt in seinem Aufsatz über die Opfertheorie in Scorseses Filmen, dass die Opferkulte in der Binnenlogik der Filme zunächst kathartisch und reinigend wirkten: "... letztlich aber erweisen sie sich als Teil einer gesellschaftlich determinierten Gewaltspirale, die sich unaufhörlich weiterbewegt und gelegentlich etwas Neues hervorbringt" (S. 39). So erwächst am Endes des Films «Gangs of New York« die Stadt wieder aus den Gräbern der Gang-Toten, die Türme des «World Trade Centers« aber verschwinden wieder.

In Scorseses Filmen habe auch die Musik eine prominente Rolle, die neben der emotionalen Begleitung der Handlung auch als ein Dokument einer Zeit, eines Lebensgefühls oder sozialer Verhältnisse eingefügt werde - so Dietrich Stern in seinem Beitrag: "Besonders Rock- und Popmusik schien ihm geeignet, die Filmerzählung zu einem größeren Realismus hin zu erweitern. Ihr gezielter Einsatz kann über die psychosoziale Disposition der Filmprotagonisten aufklärend Auskunft geben" (S. 50). Da es am Ende seiner Filme kein Happy End gebe, setze Scorsese bewusst Musik ein, um ein Resümee und emotionales Nachsinnen zu ermöglichen, Gefühle und Gedanken zu integrieren und zu glätten, und den "... Übergang in die Realität außerhalb des Kinos erträglich zu machen, also Trost zu bieten" (S. 49).

Der vorliegende Band ist ein vorzüglich gestalteter Geburtstagsband für Martin Scorsese, der mit anspruchsvollen und scharfsinnigen Analysen das Gesamtwerk des genialen Regisseurs angemessen würdigt - ein Muss für jeden Cineasten, aber auch für filmbegeistere «Anfänger« als Appetitanreger.

Peter Bär, Gerhard Schneider (Hg.):
Martin Scorsese.
Buchreihe: Im Dialog
Psychoanalyse und Filmtheorie, Band 13
Psychosozial-Verlag, Gießen 2017
Broschur mit Fotos,
196 Seiten
24.90 EURO

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Quelle:
© 2017 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2017

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