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BUCHBESPRECHUNG/169: Richard Sennett, Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens. (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Richard Sennett

Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens

Klaus Ludwig Helf, März 2019


Richard Sennett analysiert im vorliegenden Band die Beziehungen zwischen urbanem Planen und konkretem Leben und entwickelt dabei eine Ethik des Bauens und Wohnens für eine "offene Stadt". Nach "Zusammenarbeit" (2012) und "Handwerk" (2008) ist er der dritte Teil von Sennetts "Homo-Faber-Trilogie". Im Zentrum von Sennetts Denkens stehen die Menschen als gesellschaftliche Wesen und die Frage, was der Kapitalismus, die heutige Arbeitswelt und die zunehmende Verstädterung aus ihnen machen. In dem sehr umfänglichen Werk geht es vor allem um folgende Fragen: Wie können Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt mit unterschiedlichen biografischen, sozialen, kulturellen und religiösen Hintergründen eine friedliche Koexistenz und Interaktion führen? Was hat sich seit dem 19. Jahrhundert gewandelt? Wie kann eine offene Stadt aussehen, die geprägt ist von Komplexität, Vielfalt und Veränderung? Was kann man tun, um lebendige, kommunikative, permissive, friedvolle urbane Räume zu gestalten bzw. zu erhalten?

Richard Sennett (1943) lehrt Soziologie und Geschichte an der London School of Economics und an der New York University; seine Forschungsschwerpunkte sind: "Moderne Massengesellschaft", "Soziologie der Großstadt" und "Kultur des Neuen Kapitalismus". Er ist der Autor von u. a. "Der flexible Mensch". Im Frühjahr 2019 erhält er für sein Gesamtwerk den "Bruno-Kreisky-Preis" des Karl-Renner-Instituts, der politischen Akademie der österreichischen Sozialdemokraten.

Im vorliegenden Band folgen nach einer problemorientierten Einleitung vier Kapitel, ein Schlussteil, Danksagung, Anmerkungen, Bildnachweis und ein Personen- und Sachregister. In der Moderne sei der Glaube an den Homo faber geschwunden, der seit der Renaissance als bewusster und aktiver Veränderer seiner Umwelt gewirkt habe - so die These von Richard Sennett. Der Industrialismus mit seiner Verdrängung der gesellschaftlichen Bedeutung der Arbeit, Faschismus und Staatskommunismus mit ihrer Pervertierung menschlicher Arbeit, sowie das Vordringen von Robotern in der Arbeitswelt verwehre heute zahlreichen Menschen den Stolz auf ihre Arbeit: "Wenn wir die Rolle des Homo faber in der Stadt verstehen wollen, müssen wir die Würde der Arbeit anders begreifen" (S. 23).

Richard Sennett will in seinem Band der Frage nachgehen, wie Homo faber in der Stadt eine stärkere Rolle spielen kann und wie Städte im Sinne ihrer Bewohnerinnen und Bewohner jenseits von Immobilien- und Preisspekulationen und Gentrifizierung funktionieren können. Er plädiert für eine "proaktive Urbanistik", die eine enge Zusammenarbeit von Planern und Bewohnern einschließt, sich auch am Bauchgefühl orientiert und verbunden ist mit ethischer Bescheidenheit, die keine kriecherische Unterwürfigkeit sei: "Der Stadtplaner sollte Partner, nicht Knecht des Städters sein - sowohl kritisch hinsichtlich der Lebensweise der Menschen als auch selbstkritisch hinsichtlich des von ihm Gebauten. Wenn sich solch ein Verhältnis zwischen cité und ville herstellen lässt, kann die Stadt offen sein" (S. 27). Eine Stadt voller Widersprüche dürfe urbanes Erleben nicht einengen, sondern müsse dieses kreativ bereichern.

Sennett plädiert für eine "offene Stadt", die Gebautes und Gelebtes in Einklang bringt und die sich auch leichter reparieren ließe als eine geschlossene: "Sie operiert flexibler, die Machtbeziehungen sind eher interaktiven als direktiven Charakters, und sie vermag sich daher besser anzupassen und zu erneuern..." (S. 354). Wie der Handwerker bei der Reparatur z. B. einer Vase könne auch der Stadtplaner bei der Reparatur einer offenen Stadt drei Strategien verfolgen: Restaurierung, Sanierung oder Neubau. Diese müssten in einem vernünftigen und ausgewogen Verhältnis zueinander stehen mit variablen architektonischen Typen und Formen und mit durchlässigen Membranen an den Rändern mit offenen Räumen und Plätzen für freie Entfaltungsmöglichkeiten, soziale Interaktion und Koexistenz.

Als Leser begleiten wir Richard Sennett auf seinen flanierenden Streifzügen durch alle Welt und dürfen so geglückte und misslungene Beispiele von Stadtarchitekturen und urbanem Leben kennenlernen. Beim Spaziergang durch die Kantstraße in Berlin erleben wir, wie - bedingt durch die Einwirkungen des Krieges und dem Fehlen eines stadtplanerischen Masterplanes nach 1945 - ein nach Sennett gelungenes, eher zufällig gewachsenes, buntscheckiges Mixtum von Bauwerken und architektonischen Formen entstanden ist und sich darin ein ebensolches Soziotop wohlfühlt an Orten und Plätzen mit besonderem Charakter. In der Kantstraße findet Sennett ein kosmopolitisches, reibungsloses Nebeneinander von Menschen und Häusern vor. Nach Sennett brauchen wir solch offen gestaltete und gewachsene Stadträume, die Vielfalt, Veränderung und soziale Durchlässigkeit ermöglichen. Als Stadtplanung sei eine "proaktive Urbanistik" gefordert, die Wohnen und Erleben nicht einenge, sondern erweitere und ständig erneuere, die keine neuen Ghettos errichte und dadurch reglementiertes Bauen, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Ausgrenzung und damit auch Diskriminierung, Hass und Kriminalität erzeuge. Eine neue "Ethik des Bauens und Bewohnens" würde - so Sennett - Städteplaner und Städtebewohner dazu bringen, in einem offenen, demokratischen Diskussionsprozess das Verhältnis von Gebautem und Gelebtem immer wieder zu synchronisieren und neu zu bestimmen.

Wohin es führt, wenn Städteplaner die Bewohner nicht einbeziehen, demonstriert Sennett mehrfach. Als klassisches Beispiel nennt Sennett die Schaffung und Gestaltung des "Central Park" in New York. Diese wurde von Politikern ohne Rücksprache mit den Bewohnern beschlossen und durchgeführt. Hehres Ziel war es, aus einer verwilderten Sumpflandschaft einen künstlichen Freizeit-Park für Mitglieder aller Klassen und Rassen zu schaffen, die sich hier ohne Diskriminierung miteinander vergnügen sollten. Stattdessen sei durch den Bau von Häusern mit teuren Apartments im Umfeld des Parks die soziale Abschottung gefördert worden. Bei seinen vielen und ausgiebigen Spaziergängen durch die urbanen Räume der Welt werden wir von Richard Sennett so ganz beiläufig mit vielen Zitaten von Denkern aus Philosophie, Soziologie, Literatur, Geschichte und Kunst bekannt gemacht, die er mit seiner Ethik des Bauens und Bewohnens verschränkt.

Wer sich für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen interessiert, wird in diesem Handbuch sicher viele interessante und anregende Ideen, Pläne und Beispiele finden, wie eine Stadt offener, demokratischer und sozialer gestaltet werden kann, so dass unterschiedliche soziale Gruppen miteinander friedlich und gelassen koexistieren können. Der Band ist auch eine unterhaltsame und vergnügliche Lektüre für politisch und soziologisch interessierte, neugierige Menschen, denen die das Leben in der Stadt am Herzen liegt.

Richard Sennett
Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens
Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff
Hanser Berlin 2018
mit 15 s/w-Abbildungen
400 Seiten
32 Euro

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Quelle:
© 2019 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2019

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