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BUCHBESPRECHUNG/184: Einsame Inseln, gefährliche Fahrten - Neue und alte Leseabenteuer (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2019

Einsame Inseln, gefährliche Fahrten
Neue und alte Leseabenteuer

von Hanjo Kesting


Vor 300 Jahren, im April 1719, erschien Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe. Der Ruhm des Buches wuchs so schnell an, dass sein Autor lange Zeit ganz in den Hintergrund gerückt wurde. Die Frage, ob für diese außerordentliche Erfindung eine Spur von Genie - und wahrscheinlich mehr als eine Spur - erforderlich war, wurde gar nicht erst gestellt. Edgar Allan Poe schrieb: "Man betrachtet das Buch einfach nicht unter dem Gesichtspunkt eines literarischen Erzeugnisses. An Defoe denkt keiner dabei; an Robinson jeder." Aber auch das Buch selbst wurde ein Opfer seines eigenen Ruhms, da es bis in die Gegenwart zahllose Bearbeitungen und andere Verunstaltungen zu erleiden hatte. Nun hat der mareverlag zum Jubiläum eine Ausgabe des Romans in neuer Übersetzung herausgebracht. und man registriert dankbar, dass es sich dabei um den originalen und unverkürzten Robinson Crusoe handelt.

Defoe war sich der Reichweite der Robinson-Gestalt zweifellos nicht bewusst, als er den Roman nach seiner Gewohnheit in wenigen Wochen niederschrieb. Nach Herkunft und Haltung ein Puritaner, erhob er keinen Anspruch auf Dichterruhm, teilte vielmehr das puritanische Vorurteil gegen Romane und Fiktionen, gegen erfundene Geschichten und Ausgeburten der Fantasie, sofern sie nicht geistlichen Zwecken dienten. Seinen Roman gab er als Tatsachenbericht aus - und verstand ihn auch so. Heute gilt Robinson Crusoe als Ausgangspunkt der modernen realistischen Erzählliteratur, und der Held des Buches imponiert als Figur von prophetischem Reiz: der puritanische Welteroberer, der Gründer von Kolonien, die Portalfigur des britischen Empire.

Leider ist über die Neuübersetzung nicht viel Lobendes zu sagen, sie ist unbeholfen und fehlerhaft. Einige Beispiele: Bevor das Rettungsboot mit Robinson und seinen Kameraden vor der Küste der Insel kentert, heißt es im Original: "After we had row'd (...) about a League and a Half (...)". Daraus macht der Übersetzer Rudolf Mast: "Wir waren etwa eineinhalb Wegstunden gerudert (...)". Das Wort "Wegstunde" ist völlig sinnwidrig. League ist die alte Bezeichnung für Seemeile. Der Übersetzer hätte nur in die ältere Übersetzung von Hannelore Novak (Hanser, München 1968) schauen müssen, wo das Wort richtig übersetzt ist. League kommt im Roman 28 Mal vor, und ebenso häufig wird es mit "Wegstunde" übersetzt. Wenn Robinson später westlich seiner Insel zwei kleine Inseln entdeckt, heißt es, dass sie "etwa drei Wegstunden westlich lagen". Wie weit sind sie also entfernt? "Drei Seemeilen westlich" wäre die richtige und sofort einleuchtende Antwort. Der nächste Absatz beginnt mit den Worten: "Nothing can describe the Confusion of Thought which I felt when I sunk into the Water; for tho' I swam very well, yet I could not deliver my self from the Waves so as to draw Breath (...)". In der Neuübersetzung wird "when I sunk into the Water" mit "als ich ins Wasser tauchte" wiedergegeben. Sie macht aus dem Versinken ein Tauchen, also etwas Aktives, obwohl Robinson nicht mal Kraft genug hat, Atem zu holen. "(...) for tho' I swam very well" wird mit "obwohl ich ein guter Schwimmer bin" übersetzt, statt des Imperfekts wird das Präsens verwendet, obwohl Robinson seinen Bericht fast 30 Jahre später niederschreibt und sich lediglich daran erinnert, dass er damals ein guter Schwimmer war. So findet man bereits auf einer einzigen Seite ein Dutzend Ungereimtheiten und Ungenauigkeiten, was fürchten lässt, die ganze Übersetzung sei voll davon. Die denkwürdige Entdeckung des Fußabdrucks am Strand (nach Stevenson "eine dieser epochalen Szenen, die einer Erzählung das letzte Zeichen der Wahrheit aufdrücken") leitet Defoe mit dem Satz ein: "But now I come to a new Scene of my Life" ("Doch nun komme ich zu einem neuen Abschnitt meines Lebens"). Daraus wird in der neuen Übersetzung: "Doch nun will ich über einen neuen Abschnitt meines Lebens berichten." Das Knappe, Lakonische des Originaltextes, das, was Defoe charakterisiert und "modern" macht, kommt nicht heraus.

Ein ethnografisches Meisterwerk

Gleichfalls im mareverlag ist eine Ausgabe von Herman Melvilles Erstlingswerk Typee erschienen, neu übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. In diesem Fall ist die Edition aufgrund ihrer guten Lesbarkeit und sorgfältigen Kommentierung nicht hoch genug zu loben. Melville beschrieb in diesem Buch seinen Aufenthalt auf den Marquesas-Inseln, nachdem er im Juli 1842 von einem Walfangschiff desertiert war.

Bei Melville denkt man zunächst an den gewaltigen Moby Dick, aber auch Typee ist auf andere Weise ein großartiges, ja, großes Buch. Die ersten 100 Seiten über die Flucht liest man vollständig gebannt, auch wenn es scheinbar um nichts anderes geht, als sich einen Weg durch die unwegsame Insel zu bahnen. Die Spannung ist hier so intensiv, dass man alles andere darüber vergisst. Bringt man tiefer, dann scheint das Buch wie aus einer Traumvorstellung heraus geschrieben, wie die Geschichte einer Neugeburt, die Melville zurück ins Paradies führt, auch wenn seine Gastgeber in dem Ruf stehen, Kannibalen zu sein. Die Darstellung ist nicht frei von rousseauistischen Zügen, gipfelnd in einer entschiedenen Kritik an der westlichen Zivilisation: "Man kann behaupten, ohne Widerspruch fürchten zu müssen, dass, wann immer Polynesier Untaten begangen haben, Europäer irgendwann zuvor als Aggressoren aufgetreten sind (...)". Besonders die Missionare sind für Melville die Vorboten des Verderbens.

Das wiedergefundene Paradies erlebt er berauscht und beglückt, zumal er die reizende Fayaway, die ihr natürliches Kleid aus dem Garten Eden trägt, an seiner Seite hat. Damit kommt ein romantisches Element in die Erzählung. Keineswegs romantisch ist Melvilles Darstellung des polynesischen Lebens. Die Beschreibungsenergie und ethnografische Genauigkeit, womit er es über viele Kapitel hinweg beschwört, aus dem Gedächtnis und dem Abstand mehrerer Jahre, ist schon deswegen erstaunlich, weil er sich offenbar keine Notizen gemacht hatte. Dennoch bleibt nicht verborgen, dass Melville sein Paradies möglichst bald wieder verlassen wollte. Aus Angst vor den Kannibalen? Oder weil er entdeckt hatte, dass es ihn auf Dauer nicht glücklich machen würde? Darüber sind nur Mutmaßungen möglich.

Typee brachte Melville literarisches Ansehen und finanziellen Erfolg, so dass er, Lord Byron zitierend, schreiben konnte: "Ich wachte eines Morgens auf und war berühmt." Dieser Ruhm war bald verflogen. Als er 45 Jahre später starb, erinnerte die New York Times nur an dieses Erstlingswerk eines gewissen "Hiram" Melville. Als Autor von Moby Dick war er damals weitgehend vergessen.

Eine ungeheure Geschichte

Einen der wichtigsten Anstöße zu Moby Dick erhielt Melville von dem Bericht eines gewissen Owen Chase über die Katastrophe des Walfangschiffes Essex, das 1820 im Pazifik von einem Wal gerammt und versenkt worden war. Chase konnte sich mit wenigen Matrosen in drei Booten nach langer Fahrt retten. "Die Lektüre dieser ungeheuren Geschichte hatte eine verblüffende Wirkung auf mich", schrieb Melville. Unter dem Titel Tage des Grauens und der Verzweiflung ist Chase' Niederschrift jetzt bei Morio erschienen, erstmals ins Deutsche übersetzt und herausgegeben von Michael Klein. Es ist ein Buch, das sich auch unabhängig von Melville behauptet, nämlich ein von Anfang bis Ende fesselnder Bericht in Tagebuchform von großer literarischer Qualität. Owen Chase fungiert dabei als Zeuge und Chronist in einer Person, der die Stationen der Odyssee aufs Genaueste beschreibt: den Schiffbruch selbst, die Rettung des Lebensnotwendigen vom Wrack (ganz ähnlich wie in Defoes Robinson), die wochenlange Fahrt auf dem Pazifik in zerbrechlichen, offenen Booten, den Aufenthalt auf der Insel Henderson mit der verzweifelten Suche nach Wasser, den Tod eines Gefährten, dessen Fleisch sie verzehren (wie Poe es in Arthur Gordon Pym geschildert hat), schließlich die Rettung vor der chilenischen Küste. Dass Chase die wichtigsten Notizen bereits während der bewegten Bootsfahrt mit einem Bleistiftstummel zu Papier brachte, ist kaum zu glauben, aber wahr. Es liegt darin etwas Großes, ja Unerhörtes als Versuch menschlicher Selbstbehauptung am Rande des Untergangs.


Daniel Defoe: Robinson Crusoe (aus dem Englischen von Rudolf Mast). mareverlag, Hamburg 2019, 416 S., 42 EUR. - Herman Melville: Typee (aus dem Amerikanischen neu übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann). mareverlag, Hamburg 2019, 448 S., 38 EUR. - Owen Chase: Tage des Grauens und der Verzweiflung (herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Michael Klein). Morio, Heidelberg 2019, 208 S., 20 EUR.


Hanjo Kesting

ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bei Wallstein sind 2019 seine dreibändige Studie Große Erzählungen der Weltliteratur sowie der Essay Theodor Fontane. Bürgerlichkeit und Lebensmusik erschienen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2019, S. 66 - 69
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
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Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2020

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