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BUCHBESPRECHUNG/260: Jean-Philippe Kindler - Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf (Klaus Ludwig Helf)


Jean-Philippe Kindler

Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf.
Eine neue Kapitalismuskritik.

von Klaus Ludwig Helf, September 2024


Der vorliegende Band von Jean-Philippe Kindler ist schon von seiner Aufmachung her eine Provokation: knallroter Einband mit radikaler Absage an Selbstliebe und Kapitalismus. Er steht auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und hat im Juli 2024 bereits die 4. Auflage erreicht. Jean-Philippe Kindler versteht sich selbst als Provokateur und landet auch hier einen Rundumschlag gegen eine neoliberale, marktradikale "Verliererphilosophie". Auch die identitätspolitisch orientierte Linke kriegt ihr Fett ab. Diese habe sich längst mit der Alternativlosigkeit einer marktwirtschaftlich organisierten, liberalen Demokratie abgefunden und übe sich in "tarifpartnerschaftlicher Schadensbegrenzung": "In den allermeisten öffentlich ausgetragenen linken Diskursen geht es im Kern um kosmetische Forderungen: Hier ein paar Prozent mehr Gehalt, dort eine Frauenquote für Großkonzerne. Vielen Akteurinnen scheint es bloß mehr ein Anliegen zu sein, ihren alternativlosen Kapitalismus möglichst diskriminierungsfrei zu gestalten. Radikale Ideen, die das Allgemeinwohl betreffen, stehen immer im Verdacht, träumerisch, zynisch oder gar pervers zu sein" (S. 12/13). Jean-Philippe Kindler wirbt dagegen offensiv für die Abschaffung des Kapitalismus und fordert das "Recht auf ein gutes Leben für alle".

Jean-Philippe Kindler (*1996) ist Satiriker, Slam-Poet, Autor, Moderator, Podcaster und erhielt für seine Bühnenprogramme viele Auszeichnungen.

Nach der orientierenden Einleitung folgen in dem Band sechs weitere Kapitel über die Repolitisierung zentraler politscher Lebens- und Politikbereiche wie Armut, Glück, Klimakrise, Demokratie, Linkssein und über das gute Leben. Danksagung und Anmerkungen stehen am Schluss. Im Anschluss an Albert Camus' 'Der Mensch in der Revolte' versteht der Autor sein Buch als "Aufruf zur politischen Aktion" und als "Konzeption eines guten Lebens für alle", indem er mit Beispielen ausgewählter "politischer Kampfzonen" methodisch den Kapitalismus aus dem "Unbewusstsein ins Bewusstsein" bringen will. Es brauche den Mut zu einer radikalen Repolitisierung der Fragen nach dem guten Leben, zu einer Überwindung der individualistischen Obsession und der Selflove: "Solidarität bedeutet in diesem Kontext, dem omnipräsenten, scheinpolitischen Ich-Bezug eine trotzige Absage zu erteilen [...]. Wir können den Kapitalismus ohnehin nicht wegatmen, wir können ihn bloß bekämpfen" (S. 24).

Jean-Philippe Kindlers Lösung der Probleme bei sozialen, wirtschaftlichen, klimapolitischen wie identitätspolitischen Fragen ist die Wiederentdeckung der "Klasse" als Gemeinsamkeitsangebot. Menschen sollten sich unabhängig von ihrer Herkunft oder politischen Einstellung als Schicksalsgemeinschaft verstehen, die ein ähnliches Leid teilt: "Es ist die Zugehörigkeit zu einer Klasse, die nichts besitzt, außer der eigenen Arbeitskraft, die man gegen Lohn eintauscht" (S. 16). Alle essenziellen Lebensbereiche seien heute durch den neoliberale Glauben an den sozialen Aufstieg durch Leistung entpolitisiert und selbst in einigen "bauchlinken" Kreisen präsent, ebenso bei den Mainstream-Medien. So seien prekäre Lebenslagen wie Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg, Armut oder psychische Erkrankungen keine nur selbstverschuldeten Einzelschicksale, sondern auch eine Folge unserer Arbeits- und Lebensweise, daher müsse die Linke zum Antikapitalismus zurückfinden.

Jean-Philippe Kindler macht einen konstruktiven und bedenkenswerten Vorschlag zur Versöhnung materialistischer und identitätspolitischer Positionen jenseits von "Selflove": "Das gemeinsame Ziel muss doch sein, jene Verhältnisse zu überwinden, welche die Klasse der Ausgebeuteten davon abhält, ein gutes Leben zu leben, weil sie dazu gezwungen ist, ihre Arbeitskraft denjenigen zu verkaufen, die daraus einen Mehrwert erzeugen" (S. 130/131). Jean-Philippe Kindler gelingt es, brillant, trennscharf und radikal die klassischen Instrumente der Gesellschaftsanalyse von Karl Marx, weiterentwickelt von Denkern wie Michael Sandel, Mark Fisher, Harry G. Frankfurt oder Slavoj Zizek, zusammenzuführen, die herrschenden Verhältnisse zu vermessen und Konturen eines realistischen linken Utopie-Konzepts zu entwerfen. Die Linken müssten wieder "Meister der Erpressung" werden und notfalls auch bereit sein zu einer Generalbestreikung gesellschaftlich wichtiger Branchen und Lebensbereiche wie Infrastruktur, Gesundheit und soziale Einrichtungen. Dann stehe "die Welt, wie wir sie kennen und wie wir sie nicht weiter hinnehmen sollten, kopf. Lassen wir es darauf ankommen" (S. 144). Ein radikales Buch, das zum Nachdenken zwingt.


Jean-Philippe Kindler:
Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritik.
Rowohlt Taschenbuch 2023, 4. Auflage 2024, 160 Seiten, gebundene Ausgabe, 12,00 EUR.

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Quelle:
© 2024 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 24. Januar 2025

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