Ilko-Sascha Kowalczuk
Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute
von Klaus Ludwig Helf, Oktober 2024
Der Ostberliner Zeithistoriker Ilko-Sascha Kowalczuk polarisiert die Meinungen und Gemüter vor allem in den sozialen Medien mit seinen spitzzüngigen und polemischen Beiträgen über Ostdeutschland und den Zustand der deutschen Einheit und sorgt für Empörungserregungen. In seinem neuen Band schreibt er sich die Wut von der Seele, wie er selbst zugibt. Seine zentrale These lautet, dass ein "nicht unbeträchtlicher Teil" der ostdeutschen Gesellschaft ab dem Herbst 1989 einen "Freiheitsschock" erlebt habe, als es darum ging, die Gestaltung eigener Wege selbst in die Hände zu nehmen. Das seien die meisten Ostdeutschen nicht gewohnt gewesen, darauf seien sie nicht vorbereitet worden: "Niemand erklärte ihnen, wie es geht. Sie selbst glaubten sogar, es zu können. Tatsächlich verwechselten die meisten materiellen Wohlstand mit Freiheit [...]. Materieller Wohlstand macht vieles einfacher, er macht aber weder freier noch ist er eine Voraussetzung für Freiheit" (S. 9). Dabei sei die deutsche Einheit eine Freiheits-Erfolgsgeschichte, die nicht genug gewürdigt werde. Der vorliegende Band ist keine vollständige, sondern eine problemorientierte Geschichte Ostdeutschlands seit 1989 unter dem zentralen Gesichtspunkt des Kampfes um Freiheit und somit in "vielerlei Hinsicht" eine Ergänzung seines Buchs Die Übernahme (2019) - so der Autor.
Ilko-Sascha Kowalczuk (*1967 in Ost-Berlin) ist Publizist und Historiker mit Schwerpunkt Aufarbeitung der SED-Diktatur, 1995 bis 1998 sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit des Deutschen Bundestags, 2019 Mitglied der Kommission 30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit, veröffentlichte Die Übernahme: Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde (2019) und die Biografie Walter Ulbricht - Der kommunistische Diktator (2024).
Nach einer Widmung für den DDR-Oppositionellen Gerd 'Poppoff' Poppe und einem Prolog zum Freiheitsverständnis des Autors folgen in dem vorliegenden Band drei Hauptkapitel, Nachbemerkung, Anmerkungen, Personen- und Sach-Register, Vita und Impressum. Ilko-Sascha Kowalczuk geht es vor allem darum, gegen die seines Erachtens selbst verschuldete Unmündigkeit der Ost-Bürgerinnen und -Bürger anzuschreiben mit der Aufforderung, im eigenen Interesse verantwortlich zu handeln, mitzureden und mitzugestalten. Der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes und die Transformation des Staats in eine Demokratie mit kapitalistischer Wirtschaft sei trotz mehrheitlicher Abstimmung in der frei gewählten Volkskammer als "Übernahme" durch die Bundesrepublik verstanden worden. Die Revolution in der DDR sei nicht von der Mehrheit der "Ossis" gemacht worden, sondern nur von einer Minderheit freiheitsliebender Dissidenten, die bald von ihrer Revolution fast gefressen und an den Rand gedrängt wurden. Die Mehrheit habe sich den paradiesischen Wohlstand erträumt, wie er im Westfernsehen gezeigt wurde: "Viele Ostler erstaunte, dass der Westen gar nicht so 'blütenreinweiß' ist, wie Klementine in der Ariel-Werbung immer versprochen hatte. Sie täuschten sich über den Westen, daraus resultierte alsbald eine große Enttäuschung, die dann in Ablehnung umschlug. SED-PDS-Linkspartei und AfD als antiwestliche und Anti-Freiheitsparteien sind Ausdruck davon" (S. 216).
Auf einen Schlag habe sich ab 1990 das Leben von Millionen Menschen der ehemaligen DDR verändert und wurde für viele zu einer Verlusterfahrung, zu einem "Freiheitsschock", der in späteren Jahren zur Abwendung vom westlichen Staats- und Gesellschaftsverständnis geführt habe. Als Ursachenbündel nennt Kowalczuk vor allem: Abwanderung, starke Überalterung der Gesellschaft, hoher Männerüberschuss, kaputte Infrastruktur (Kultur, Gesundheit, Verkehr vor allem im ländlichen Raum) und nicht zuletzt die Folgen der Transformation in eine soziale Marktwirtschaft mit all ihren sozialen, wirtschaftlichen und mentalen Folgen in ihrer neoliberalen Ausgestaltung. Bei etwa zwei Dritteln der Bevölkerung herrsche ein Staats- und Gesellschaftsverständnis vor, nach dem der Staat für alles zu sorgen habe. Viele Ostler fremdelten mit der repräsentativen Demokratie und der Freiheit, ein gesellschaftliches Narrativ, das sie an ihre Kinder und Enkel weitergegeben hätten: Der häusliche Abendbrottisch sei wirkmächtiger als Schule oder Medien. Dazu kämen noch die schwach entwickelte Parteienlandschaft und die defizitäre kritische Zivilgesellschaft, beides wichtige Träger einer funktionierenden repräsentativen Demokratie und eines liberalen Staates. Verlustängste - vor allem im ländlichen Raum - hätten zudem zu grassierendem Rassismus, Nationalismus, Hass auf Eliten und auf den USA-geprägten Westen geführt.
Ostdeutschland - so Kowalczuk - sei eine Art Laboratorium der Globalisierung, wo sich dramatische politische Entwicklungen beobachten ließen, die bald auch allerorten drohten. Hier passiere alles schneller und radikaler. Ein Gegensteuern sei dringend geboten, doch dafür hat auch er - bislang - noch keine überzeugenden Konzepte anzubieten. Wie bereits in seinem Band Die Übernahme präsentiert Kowalczuk unbequeme, schräge, oft auch polemisch zugespitzte und streitbare Thesen. Mit seinen Landsleuten geht er nicht zimperlich um und schreibt an gegen eine "Ostdeutschtümelei", die ein verklärtes, falsches Bild der DDR transportiere. Der Band ist eine wichtige und erfrischend ketzerische Ergänzung zu den aktuellen Beiträgen von Dirk Oschmann, Steffen Mau, Katja Hoyer und Christina Morina über den Zustand der deutschen Einheit und über die mentalen die Befindlichkeiten der Bevölkerung in Ost und West.
Ilko-Sascha Kowalczuk:
Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute.
Verlag C. H. Beck München 2024, 240 S., 22 EURO.
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Quelle:
© 2024 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 24. Januar 2025
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