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BUCHBESPRECHUNG/137: FrauenWegeNahost - Palästinensische Minderjährige in den Fängen der israelischen Militärjustiz (SB)


FrauenWegeNahost


Palästinensische Minderjährige in den Fängen der israelischen Militärjustiz



Am 16. Mai 2013 wurden der sechsjährige Qassam und der siebenjährige Nasrallah von ihrem Vater Iyad in das Verhörzentrum Al-Mascobiyya gebracht. Soldaten der israelischen Streitkräfte hatten das Haus der Eltern in Ost-Jerusalem aufgesucht und verlangt, die beiden Kinder zu der mutmaßlichen Beteiligung ihres Vetters an der Herstellung und dem Werfen eines Molotow-Cocktails zu verhören. Im Verhörzentrum wurde der Vater vor den Augen seiner Kinder, die in Tränen ausbrachen, von den Soldaten geschlagen. Anschließend wurde er gezwungen, sich bis auf die Unterhose auszuziehen, und in einen anderen Raum gebracht, wo er wieder geschlagen wurde. Anschließend wurden die beiden Jungen von israelischen Verhörexperten einzeln vernommen. Zwar wurde ihnen nicht vorgeworfen, selbst an einer Straftat beteiligt gewesen zu sein. Die Mißhandlung des Vaters in ihrer Gegenwart wird von den Mitgliedern der Familie jedoch dahingehend ausgelegt, daß auf diese Weise Druck auf die Kinder ausgeübt werden sollte, um ihren Vetter zu belasten.

Diese Begebenheit ist dem monatlichen Detention Bulletin der Organisation Defence for Children International Palestine (DCI) für Mai 2013 entnommen [1]. Es ist eine der zahllosen Geschichten von Erniedrigung und Demütigung, von Mißhandlung und Willkür, denen palästinensische Kinder und Jugendliche durch die israelische Militärjustiz ausgesetzt sind. Obwohl die 1991 gegründete Organisation DCI und andere Menschenrechtsgruppen diesen Teil der israelischen Besatzungspolitik ausführlich dokumentiert haben und zahlreiche Verstöße gegen die UN-Kinderrechtskonvention und andere Prinzipien des humanitären Völkerrechts beklagt wurden, scheint die israelische Militärjustiz sakrosankt zu sein.

Nun hat die Initiative FrauenWegeNahost in einer 72 Seiten umfassenden Broschüre zentrale Ergebnisse und Aussagen der DCI-Studie "Bound, Blindfolded and Convicted: Children held in military detention" [2] ins Deutsche übertragen, um den Umgang des Staates Israel mit Kindern und Jugendlichen in den besetzten Palästinensergebieten publik zu machen. Für den DCI-Bericht wurden zwischen Januar 2008 und Januar 2012 Aussagen von der israelischen Militärjustiz betroffener palästinensischer Minderjähriger gesammelt. Die Resultate der Untersuchung decken sich im wesentlichen mit dem im März 2013 veröffentlichten UNICEF-Bericht "Children in Israeli Military Detention - Observations and Recommendations" [3], dessen Ergebnisse in dem Band ebenfalls zusammengefaßt werden. Des weiteren sind bewegende Stellungnahmen von Beobachterinnen des Militärgerichts in Ofer im Westjordanland enthalten, wo im Schnellverfahren gegen Kinder und Jugendliche zumeist wegen des Vorwurfs des Steinewerfens verhandelt wird, ein palästinensischer Anwalt berichtet von seinen Erfahrungen, die er bei der Verteidigung der Betroffenen macht und die in der bitteren Aussage münden, daß er sich als Opfer der Besatzungspolitik nicht von seinen Mandanten unterscheidet, und israelische Soldaten der Organisation Breaking the Silence schildern, wie palästinensische Jugendliche dazu gebracht werden, sich in ein von den Besatzern definiertes Unrecht zu setzen.

Die bis zur Folter reichenden Mißhandlungen, denen mit 12 Jahren strafmündige Kinder bei Verhaftung und Verhör zum Opfer fallen können, ihre weitere Traumatisierung durch die zum Teil Monate anhaltende Untersuchungshaft und die systematische Unterbindung des Kontakts zu ihren Eltern insbesondere durch die Verbüßung der Haft in einem Gefängnis auf israelischem Territorium, ihre Verurteilung aufgrund von Schuldeingeständnissen im Rahmen von Vereinbarungen mit dem Gericht, die ihnen mit der Aussicht abgepreßt werden, bei einem regulären Verfahren ebenfalls schuldig gesprochen zu werden, dafür aber weit länger eingesperrt zu werden, zeichnen das Bild einer Kolonialjustiz, deren legalistischer Schein nur notdürftig das alles bestimmende Gewaltverhältnis zwischen Besatzern und Besetzten überdecken kann.

Wenn Kinder und Jugendliche Steine werfen, weil sie ihr ökonomisch chancenloses Leben eingezwängt in ein stetig weiter um sich greifendes Netz aus israelischen Siedlungen und den Siedlern exklusiv vorbehaltenen Verkehrswegen verbringen müssen, weil sie einer Militärverwaltung, deren Macht aus den Mündungen der Gewehre wie zahlloser administrativer Schikanen stammt, ohnmächtig ausgeliefert sind, dann liegt der originäre Rechtsbruch ganz auf der Seite der Besatzer. Wenn sie erleben müssen, wie die eigenen Familien entwürdigt werden, wenn ihre Häuser und Felder zerstört werden, wenn politischer Widerstand mit jahrelanger Haft unterdrückt wird und die sozialen Verhältnisse in der palästinensischen Gesellschaft durch von außen initiierte Denunziation und Spitzelei vergiftet werden, dann sind Akte des Widerstands so absehbar wie legitim. Wenn minderjährige Palästinenser dafür von einer Militärjustiz abgeurteilt werden, deren Willkür das Unrecht der Okkupation repräsentiert, dann ist der Versuch, diesem Gewaltverhältnis durch den Schein rechtsstaatlicher Instanzen und Verfahren Legitimität und Legalität zuzuweisen, bloßer Ausfluß des opportunistischen Versuchs, einen auf diese Weise nicht zu bewältigenden Mißstand zu beschönigen.

Schlußfolgerungen dieser Art sind nicht Gegenstand der vorliegenden Broschüre, liegen jedoch nahe, wenn man die Rechtspraxis der israelischen Militärjustiz in ihrer Konsequenz analysiert und bewertet. Dies zu tun ist um so notwendiger, als die Umwälzungen in der arabischen Welt das Problem der israelischen Besatzungspolitik an den Rand der internationalen Aufmerksamkeit gerückt haben, obwohl die postkoloniale Ordnung der Region großen Anteil an all den verheerenden Entwicklungen hat, die sie heimsuchen. Nimmt man die Regierungen der NATO-Staaten beim Wort, wenn sie sich vorgeblich für die Sache unterdrückter Bevölkerungen einsetzen, dann verlangt die Frage, wieso sie dies nicht im Fall der Palästinenser tun, erst recht nach einer Antwort.

Fußnoten:

[1] http://www.dci-palestine.org/documents/detention-bulletin-issue-41-may-2013

[2] http://www.dci-palestine.org/sites/default/files/report_0.pdf

[3] http://www.scribd.com/document_downloads/129582444?extension=pdf&from=embed&source=embed


FrauenWegeNahost
Palästinensische Kinder und Jugendliche in den Fängen der israelischen Militärjustiz
Im Selbstverlag 2013
Interessentlnnen können die Broschüre zum Preis von 5.- Euro zuzüglich Versandkosten bestellen bei:
Sabine Werner, Fronhof 27, 53 639 Königswinter, email: frauenwege@outlook.de


28. Juli 2013