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REZENSION/031: Krauss - Nehmen wir an, die Kuh ist eine Kugel (Physik) (SB)


Lawrence M. Krauss


Nehmen wir an, die Kuh ist eine Kugel ...

Nur keine Angst vor Physik



Endlich ein Buch, das dem interessierten Laien die Grundlagen der Physik auf unterhaltsame und leicht verständliche Weise nahebringt, denkt der erwartungsvolle Leser, der das Buch von Lawrence M. Krauss in der Hand hält. Zumal der Titel "Nehmen wir an, die Kuh ist eine Kugel ..." Humorvolles statt staubtrockener Erörterungen verspricht und der Untertitel "Nur keine Angst vor Physik" selbst denjenigen die Bedenken nimmt, die aus ihrer Schulzeit noch unerquickliche Erinnerungen an den Physikunterricht mit sich herumtragen.

Inwieweit die Enttäuschung, die dem Leser schon bald nach der Lektüre der ersten 20 Seiten zuteil wird, auf das Konto des Übersetzers geht, ist schwer zu sagen. Der vielversprechende Anfang, den Krauss - Professor für Physik und Astronomie sowie Leiter des Instituts für Physik an der Case Western Reserve University in Cleveland - in seinem ersten Kapitel macht, verliert sich bald in einem Wust unanschaulicher Beispiele und verwirrender Nebenbemerkungen.

Und noch ein Beispiel. Was ist richtig: Eine Strecke ist gleich Geschwindigkeit mal Zeit, oder: eine Strecke ist gleich Geschwindigkeit durch Zeit? Obwohl man mit den einfachsten Kenntnissen des Rechnens mit Dimensionen unmittelbar die richtige Antwort geben kann, haben Generationen von Physikstudenten immer wieder versucht, so etwas durch Auswendiglernen von Formeln zu packen - und dabei tappten sie immer wieder daneben. Alle Dimensionen von Geschwindigkeit sind Länge durch Zeit. Die Dimension von Entfernungen ist die Länge. Also, wenn auf der linken Seite der Gleichung die Dimension der Länge steht, und die Geschwindigkeit hat Dimensionen nach dem Muster Länge durch Zeit, dann ist doch klar, daß man die Geschwindigkeit mit der Zeit multiplizieren muß, um auf der rechten Seite der Gleichung Dimensionen der Länge zu haben. Diese Art von Analysis kann Ihnen niemals die komplette richtige Antwort liefern, aber sie gibt Ihnen ein Warnsignal, wenn Sie auf dem falschen Weg sind. Auch wenn es keine Garantie dafür gibt, daß Sie bei der Lösung von unbekannten Problemen richtig gerechnet haben, so ist es doch zweckmäßig, Argumente der Dimensionen zu benutzen um weiterzukommen. Sie geben Ihnen einen passenden Rahmen, in den Sie das Unbekannte einpassen können - in das, was Sie bereits wissen. (S. 57)

Krauss lässig hingeworfene Bemerkung (..."ist doch klar, daß ...") kann einen Laien, den gerade der mathematische Teil der Physik abschreckt, an einem empfindlichen Punkt treffen. Denn wenn ihm die nur mäßig gelungene Erläuterung nicht unmittelbar einleuchtet, stellt sich wieder das unangenehme Gefühl ein, "zu dumm" für die Physik zu sein. Und gerade das wollte der Autor angeblich vermeiden.

Beispiele wie das folgende, das die unglückliche Ausdrucksweise und den für Laien zu komprimiert dargestellten Sachverhalt veranschaulichen soll, sind in Krauss Buch zahlreiche zu finden:

Nehmen wir an, es wird ein neues Elementarteilchen entdeckt, das die dreifache Masse eines Protons hat, oder in Energieeinheiten ungefähr drei Milliarden Elektronenvolt - kurz gesagt 3 GeV, Gigaelektronenvolt. Falls das Teilchen nicht stabil ist: Wie groß mag wohl seine Lebensdauer sein, bis es zerfällt? Es scheint unmöglich, dies abzuschätzen ohne irgend etwas über die physikalischen Prozesse zu wissen, die damit verbunden sind. Wir können jedoch die Dimensional- Analysis benutzen, um zu einer Abschätzung zu kommen. Die einzige dimensionale Größe bei dem Problem ist die Ruhemasse oder die äquivalente Ruheenergie des Teilchens. Da die Dimension der Zeit äquivalent ist der Dimension 1/Masse in unserem System, gibt es eine vernünftige Abschätzung der Lebensdauer: k/3 GeV. Dabei ist k eine dimensionslose Zahl. Wenn wir nichts weiter wissen, können wir nur hoffen, daß diese Zahl nicht allzu verschieden von 1 ist. Nun kehren wir zu unseren gewöhnlichen Einheiten zurück, etwa zu Sekunden, indem wir die Umwandlungsformel 1/1eV = 6 · 10³ Sekunden (³ = -16) anwenden. So können wir die Lebensdauer unseres neuen Teilchens abschätzen: etwa k · 10 ³ Sekunden (³ = -25). (S. 62)

Solche unnötigen stilistischen und didaktischen Zumutungen werden auch durch die häufig von Krauss eingeflochtenen Scherze und Anekdoten nicht wettgemacht. Denn man kann davon ausgehen, daß der Leser dieses Buches vornehmlich an einfachen, nachvollziehbaren Erläuterungen zu den physikalischen Grundlagen interessiert ist und es nicht begrüßt, daß wegen eines umfangreichen Unterhaltungsteils bei den sachlichen Erörterungen viele Auslassungen das Verständnis erschweren. Krauss emotionale Regungen, beispielsweise sein Enthusiasmus angesichts der Vorstellung, daß jedes Atom in unserem Körper sein Dasein einem entfernt explodierten Stern verdanken soll (S. 144), erscheinen gemacht-infantil und überzogen.

Was Albert Einstein und Leopold Infeld in ihrem berühmten populärwissenschaftlichen Werk "The Evolution of Physics" (erschienen 1938 im Verlag Simon and Schuster, New York) so glänzend gelungen ist, nämlich dem Laien einen Einblick in die Vorgehensweise und die Grundideen der Physik zu vermitteln, gerät Krauss in dem vorliegenden Buch gründlich daneben. Vielleicht hat er sich zu sehr darum bemüht, den trotz vieler Auslassungen recht umfangreichen und nicht immer unterhaltsamen Stoff an amerikanische Konsumgewohnheiten anzupassen. Einstein und Infeld dagegen haben sich zwar um Verständlichkeit, aber nicht in dem Ausmaß wie Krauss um flache Unterhaltsamkeit bemüht. Im Gegensatz zu Krauss sind sie davon ausgegangen, daß der naturwissenschaftlich wenig bewanderte Leser lieber stringenten, klar dargelegten Gedankengängen folgt, als sich einem ständigen Wechselbad zwischen zu stark gerafften sachlichen Darstellungen und den wohl jungenhaft-sympathisch gemeinten Gedankenspielen des Autors ausgesetzt zu sehen.

Einstein und Infeld machen in ihrem Buch keinen Hehl daraus, daß sie von ihren Lesern zwar keine physikalischen Vorkenntnisse, dafür aber durchaus die Bereitschaft erwarten, sich bei der Lektüre Mühe zu geben. Unter dieser Voraussetzung gelang es ihnen, ein relativ gleichbleibendes Anspruchsniveau durchzuhalten, während man sich bei Krauss eher wie in einer Achterbahn vorkommt, was das Niveau angeht.

Krauss erwähnt nicht, daß der Leser ein gewisses Maß an Einsatzbereitschaft benötigt, um seinen Darlegungen folgen zu können, sondern scheint sich ganz und gar auf seine Motivationsfähigkeit als Autor zu verlassen. Der Leser, der sich auf den lockeren Plauderton des Anfangskapitels eingestellt hat, wird zunehmend mit vergleichsweise schwer verständlichen Textpassagen konfrontiert:

In diesem Sinne glauben wir - das ist bis zu einem gewissen Grad nur eine Annahme, aber, wie ich zeigen werde, eine überprüfbare - daß a l l e Naturgesetze gegenüber der Zeit invariant sind, das heißt, sie bleiben unverändert, wenn man die Zeit ändert, das heißt mit dem Lauf der Zeit. (S. 185)

Solche Aussagen verwirren und frustrieren, statt den anfangs sicher noch interessierten Leser bei der Stange zu halten. Was nun die Herangehensweise der Physik an die Welt als ihren Forschungsgegenstand anbetrifft, so nimmt Krauss in selten klarer Sprache einen eindeutig fatalistischen Standpunkt ein, wie es sich für einen Physiker gehört. Es genügt ihm vollauf, Verhersagen machen zu können, ihn treibt nicht etwa ein aus der Not oder dem Ehrgeiz geborener Handlungsbedarf. Das Anliegen, sich durch sein Wissen womöglich in den Stand zu versetzen, sogenannte Naturphänomene selbst hervorbringen zu können, erscheint ihm wohl so vermessen, daß er Derartiges nicht einmal andeutungsweise in Erwägung zieht. Er bleibt als treuer Anhänger seiner Zunft dem Schicksal ergeben und begnügt sich damit, dem etablierten Weltbild seinen Respekt zu erweisen.

Obwohl Krauss selbst mehrfach formuliert, daß es sich bei den physikalischen Theorien um ein Weltbild, nicht aber um die Wahrheit handelt, läßt er doch die Weltbilder anderer nicht gelten und bezeichnet ihre Vorstellungen gar als abstrus:

Ich erhielt zahlreiche Briefe zu meinem Buch über die dunkle Materie von Leuten, die davon überzeugt sind, daß die Beobachtungen, wie ich sie hier beschrieben habe, ein eindeutiger Beweis für ihre eigenen abstrusen Ideen seien. Die in den eingefahrenen Gleisen der etablierten Wissenschaft gefangenen `Professionellen' - so ein häufiges Argument - hätten nicht den ungetrübten Weitblick, sich überhaupt damit zu befassen. Ich wünschte, ich könnte sie davon überzeugen, daß Weitblick in der Physik auch in einer beharrlichen Treue zu wohlbewährten Ideen bestehen kann - so lange treu, bis es eine endgültige Evidenz dafür gibt, daß man sie ändern muß. Die meisten der wesentlichen Revolutionen in diesem Jahrhundert gründeten sich nicht darauf, alte Vorstellungen fallen zu lassen, sondern vielmehr darauf, sie anzupassen, um mit der neuen Weisheit das anstehende experimentelle oder theoretische Rätsel zu lösen. (S. 97)

Wenn der jetzige Zustand der Welt, der auch durch das Weltbild der Physik geprägt wurde, für Krauss noch nicht Evidenz genug ist, daß die gesamte Herangehensweise an unsere Umwelt einer grundlegenden Änderung bedarf, hilft auch kein weiteres Argumentieren. Für ihn besteht keine konkrete Notwendigkeit zu Handeln und er widmet sich mit der Begeisterung eines Puzzle- Spielers vollkommen unkritisch seiner Tätigkeit, eine neue Theorie durch allerhand Gedankenwindungen an die bereits bestehenden anzupassen:

Es sind meist die gleichen Konzepte, der gleiche Formalismus, die gleiche Technik, die gleichen Bilder, die abgewandelt, neu geformt und so hingebogen werden, daß sie auf möglichst viele neue Situationen passen, ebenso gut, wie sie sich vorher schon beim alten dienlich gemacht hatten. [...]. Es ist die Wiederholung, das kreative Kopieren von Bewährtem, was die Physik verstehbar macht. [...] Einer der beruhigendsten Aspekte der Physik ist, daß neue Entdeckungen mit dem harmonieren müssen, was sich bisher als richtig erwiesen hat. So werden alle zukünftigen Theorien weiterhin auf jenen der Vergangenheit aufbauen. (S. 77f.)

Offenkundig kommt es Krauss bei solchen Aussagen nicht ein einziges Mal in den Sinn, wie abstrus eine solche Vorgehensweise auf einen Nicht-Wissenschaftler wirken könnte. Obwohl Krauss den Anschein erwecken möchte, als wäre die Physik nur eine von vielen Erklärungsmöglichkeiten für die Phänomene unserer Welt - eine undogmatische Sichtweise, die er sich vielleicht bei Infeld und Einstein abschauen wollte - outet er sich doch an anderen Stellen immer wieder als Wissenschaftskleriker. Was so tolerant klingt, ist nichts anderes als Make-up für die arrogante Fratze eines selbstherrlichen Weltverständnisses, denn der Autor behauptet:

Wissenschaftlich unwissend zu sein ist gleichbedeutend damit, in hohem Maße kulturlos zu bleiben. (S. 12)

Daraus folgt, daß andere Kulturen, die sich zwar kein wissenschaftliches, aber ein für ihr Überleben praktisches und unentbehrliches Weltbild erschaffen haben, im Grunde gar keine Kulturen sind, sondern lediglich bedauernswerte, primitive Lebensformen.

Insgesamt gesehen gereicht Krauss infantil-überhebliche Weltsicht der Physik nicht gerade zur Ehre, durchziehen doch sein Buch immer wieder seine philosophischen Anwandlungen:

Der wirkliche Grund dafür, warum wir Physiker uns selbst wiederholen, wenn wir neue Gesetze entdecken, ist nicht so sehr eine Dickköpfigkeit von uns oder ein Mangel an Phantasie, sondern liegt im Charakter der Natur. Sie ist es selbst, die sich ständig wiederholt. (S. 87)

oder:

Das Universum ist eine riesige Bühne, und die Erfahrung hat uns gelehrt, daß alles, was passieren kann, tatsächlich auch passiert. (S. 181)

Solche "tiefgreifenden" Erkenntnisse tragen nicht gerade dazu bei, gewisse Vorurteile hinsichtlich der Beschränktheit von Naturwissenschaftlern im allgemeinen und Physikern im besonderen zu entkräften. Mit seiner im Vorwort gestellte Frage: "Ist es für einen Durchschnittsmenschen möglich, alle Vorbehalte aufzugeben und zu lernen, diese tiefe, reine Freude an der Physik zu empfinden? [S. 12]" weist Krauss sich selbst als außerdurchschnittlichen Menschen aus. Das vorliegende Buch gibt ihm recht - zumindest seine Fähigkeiten als Sachbuchautor können nur als unterdurchschnittlich bezeichnet werden. Davon abgesehen mutet sein Werk neben dem zwar nicht mehr ganz aktuellen, für einen Laien aber immer noch sehr erhellenden und angenehm wertneutralen populärwissenschaftlichen Standardwerk von Einstein und Infeld an wie ein etwas billiges Remake. Vielleicht hätte ein anderer Titel den Leser besser darauf vorbereitet, was ihn erwartet, und ganz besonders die eine Aussage des Autors (S. 212) wäre zu diesem Zweck vortrefflich geeignet:

Wieder einmal bin ich abgeschweift ...


Lawrence M. Krauss
Nehmen wir an, die Kuh ist eine Kugel ...
Nur keine Angst vor Physik
Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart 1996
ISBN 3-421-02772-2