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REZENSION/046: Fred Rai - Natürliches Reiten (Pferdesport) (SB)


Fred Rai


Natürliches Reiten - die neue Schule für Freizeitreiter

Rai-Reiten ohne Peitsche, ohne Sporen, ohne Trense



Reiten ohne Zwang und Schmerz
Eine Reitlehre für den Freizeitreiter?

Die Liebe zum Pferd und der Traum vom Reiten bestimmen den Menschen schon seit ungefähr 6000 Jahren. Kaum ein Pferdefreund mag sich jedoch eingestehen, daß der lange Weg der Pferde an der Seite des Menschen bis in die heutige Zeit im Grunde ein einziger Leidensweg ist. Schon die erste Begegnung zwischen Mensch und Pferd war zumindest für das Pferd von Grausamkeit und Gewalt geprägt, war doch das Wildpferd der Vorzeit für den eiszeitlichen Jäger eine leichte und beliebte Beute, die er in seiner Menschenhorde gleich herdenweise in den tödlichen Abgrund trieb. Daß auf dieser traumatischen Begegnung eine tausendjährige Freundschaft wurzeln sollte, ist sicher nicht dem Menschen zu verdanken, der seinen vierbeinigen Freund auch in späterer Zeit als Kriegswaffe und für schwere Arbeiten mißbrauchte. Selbst heute noch denken viele Pferde(sport)freunde zuletzt daran, was ihre Sportkameraden, die als Fluchttiere keinen Schmerzlaut kennen, klaglos ertragen, wenn sie nur zum Spaß oder des schnöden Mammons wegen sportliche Höchstleistungen von ihm verlangen und ihm aus Unwissenheit oder auch um des eigenen Ehrgeizes willen Angst, Schmerz und Qualen zufügen.

Vieles gäbe es zum Thema Gewalt gegen Pferde zu sagen, vieles, was schon Tierschützer und schließlich Fred Rai in seinem Erstlingswerk "Ohne Peitsche - ohne Sporen" und nun in seinem neuen systematischen Lehrbuch "Natürliches Reiten: die neue Schule für Freizeitreiter" immer wieder zum Ausdruck bringen und was zumindest unter denjenigen, die sich Pferdenarren schimpfen, hinlänglich bekannt sein müßte. Immerhin wächst auch aus diesem Grund in der Bundesrepublik Jahr für Jahr die Zahl der Freizeitreiter, die aus Liebe zum Pferd, zum "beiderseitigen" Vergnügen und ohne jeglichen Turnierstreß einfach n u r ein wenig reiten wollen, um die Natur vom Pferderücken aus zu genießen.


Noch konsequenter als Fred Rai: Gibt es überhaupt eine für Pferd und Reiter gleichermaßen akzeptable Reitweise?

Wer denkt schon daran, daß er seinem ergebenen Freund allein durch die Trense, die quasi zur harmlosen Grundausstattung eines jeden Reiters gehört, Schmerzen bereitet (hiergegen kennt die neue Reitweise von Fred Rai Abhilfe). Wer denkt daran, daß allein durch das Aufzäumen und Satteln eines Pferdes, durch die zusätzliche Belastung mit dem Gewicht von Sattel und Reiter, und schon durch die Forderung an das Lebewesen, seinem Reiter zu gehorchen (für das selbst Fred Rai keine Alternative kennt), das Pferd an seiner natürlichen Entfaltung und ursprünglichen Lebensweise gehindert wird. Jeder Reiter, wie "gewaltfrei" oder "natürlich" seine Reitweise auch sein mag, verkörpert eine 6000 Jahre währende Unterdrückung und Gewaltherrschaft. Wer Pferde liebt und dennoch reitet, muß sich deshalb mit dem Gedanken befassen, daß er Gewalt ausübt, wenn auch nur in Form von "pferdgemäßer" Dominanz, wie sie beispielsweise auch vom Leithengst oder von der Leitstute einer Herde repräsentiert wird. Denn auch das natürliche Umfeld der Pferde ist nicht gewaltfrei, wie sich ein romantisch verklärtes Gemüt dies vielleicht vorstellen möchte.

Fred Rai's Buch mit dem anfechtbaren Titel "Natürliches Reiten" - denn die "natürliche" Bestimmung des Pferdes besteht mit Sicherheit nicht darin, Reiter auf seinem Rücken zu tragen - bietet, und das ist selten genug, zumindest einen Ansatz, sich mit diesem reiterlichen Dilemma auseinanderzusetzen: Gibt es überhaupt eine für Pferd und Reiter gleichermaßen akzeptable Reitweise?

Seien wir einmal ehrlich: Eigentlich wünscht sich ein Reiter doch zutiefst, daß nur ein Reitstil akzeptabel ist, der dem Pferd nicht nur Freiheit von jeglichem Zwang und jeglicher Belastung garantiert, sondern darüber hinaus eine solche Hilfe für die Bewegungsfreiheit ist, daß sie eine Entlastung von seinem eigenen Körpergewicht bedeutet. Daß es möglicherweise Reiter gegeben haben könnte, die mit ihren Pferden verwachsen oder gar zu fliegen schienen, kann man vielleicht aus den alten Mythen herausdeuten, die in unserer aufgeklärten Zeit von fliegenden Pferden oder Zentauren erzählen.

Für einen von körperlichen Wohlbehagen geprägten Zusammenschluß von Pferd und Reiter, der vermutlich ein Traum bleiben wird, reicht der Harmoniebegriff, der in diesem Buch so oft herangezogen wird, bei weitem nicht aus.


Pferdgemäßes Reiten l e r n e n hört niemals auf Eine Reitlehre wird dem kaum gerecht

In Fred Rai's Lehrbuch über das "Natürliche Reiten", das ohne Frage für jeden Freizeitreiter auch mit bodenständigen Lösungen für die Praxis zu diesem Thema aufwartet und dessen Verfasser eine Verbindung zu seinen Pferden zum Ausdruck bringt, die eigentlich über jeden Zweifel erhaben ist, stört den kritischen Leser allerdings die scheinbar selbstgerechte Überzeugung des Autors, für sich und alle Pferde die beste Reitweise gefunden zu haben, die er als "Philosophie des Rai-Reitens" in missionarischer Weise zu Markte trägt. Weiß man doch, daß mit jeder etablierten Lehre, und nichts anderes bedeutet Philosophie, immer ein Schlußpunkt aller Forschung zu diesem Thema gesetzt wird. Es wäre doch sehr schade, wenn sich etwas, das einen beinahe revolutionären Anfang nahm, schon jetzt in einer Sackgasse verrannt hätte. Doch ist es wohl das Schicksal vieler Lehrwerke, daß sie sich den Charakter der Endgültigkeit geben müssen, um von einem breiten Publikum als solche akzeptiert zu werden.

Allein für den unverbesserlichen Pferdenarren, der nicht aufhört, sich selbst und seine Reitweise in Frage zu stellen, ist das Buch von Fred Rai ein absolutes Muß. Das, was Fred Rai's Lehre vor allem auch in seinem ersten Buch von anderen Ansätzen unterscheidet, ist die kämpferische Stellungnahme gegen den Mißbrauch und die Quälerei von Pferden, die er an so wenig offensichtlichen Punkten, wie dem Sitz des Reiters, der Gewichtsverteilung oder martialischen Zäumung offensiv vertritt. Reiten ohne Zwang wurde nämlich schon in einer der ältesten erhaltenen Überlieferungen der Reitkunst gefordert, die von dem griechischen Staatsmann und Feldherr Xenophon (um 400 v.Chr.) stammt, der sich ebenfalls die Ausbildung des Pferdes durch Einfühlung und gute Behandlung auf die Fahnen geschrieben hatte:

Erzwungenes und Unverstandenes ist niemals schön und wäre - wie schon Simon sagte - gerade so, als ob man durch Peitschen und Stacheln einen Tänzer zum Umherspringen zwingen wollte; dadurch wirkt Mensch wie Pferd eher häßlich als schön. (Die klassische Reitkunst von Alois Podhajsky, Nymphenburger Verlag 1965)

Welche grausame Wahrheit sich aus dieser durchaus lobenswerten philosophischen Einstellung ergab, erzählt die Geschichte des Pferdes. In diesem Sinne ist es für jeden, der sich mit dem oben beschriebenen "Dilemma des Pferdefreunds" befaßt, ausgesprochen erfrischend, eine Lehre in den Händen zu halten, die Anatomie, Verhaltensweisen und Psychologie von Pferden zur Grundlage nimmt, und hierin gewonnene Erkenntnisse gegen jede reiterliche Regel konsequent umsetzt - und damit auch noch Erfolge verzeichnen kann. Es läßt sich also auch viel gutes zu diesem Lehrbuch sagen, das alles enthält, was ein autodidaktisches Lehrbuch enthalten sollte: Geschichtliches, Grundlagenwissen zu Anatomie, Psychologie und Verhaltensweisen, Haltungsfragen und sogar Rechts- und Haftungsfragen beim Pferdekauf - alles anschaulich und übersichtlich gegliedert und illustriert. In diesen Punkten ersetzt es eine herkömmliche Reitlehre vollkommen und berücksichtigt darüber hinaus immer auch den Standpunkt des Pferdes, der bei den meisten anderen Werken vollständig ausgeklammert wird. Und last but not least erhält ein Freizeitreiter hier Hinweise zum Umgang zwischen Mensch und Pferd und zum praktischen "Rai"-Reiten, die ihr Beispiel erst suchen müssen.

Der Autor hat es somit gar nicht nötig, seine profunden Kenntnisse, die jedem Reiter praktisch aufzeigen, wie man sein Pferd nicht mehr verletzt und sich eine schmerzfreie "pferdegemäße" Dominanz verschafft, hinter dem Mäntelchen einer Scheinbotschaft zu verstecken, "End of Trail". Mit dem Bild des amerikanischen Bildhauers James Earl Fraser, der darin ein erschöpftes, ohne Zäumung gerittenes Pferd unter einem Indianer darstellt, womit die selbstlose und freiwillige Unterwerfung des Pferdes als treuen Diener symbolisiert werden soll, beginnt und endet die neue Reitlehre von Fred Rai. Doch warum will uns der Autor hier weismachen, ein Pferd wolle dem menschlichen Freund "freiwillig bis zur eigenen Erschöpfung dienen", wo doch seine eigene Lehre von der großen gelben Rübe im Sattel eine viel nachvollziehbarere, nutznießerische Sprache spricht? Gerade als Pferdefreunde und Reiter sollten wir ehrlich und selbstkritisch mit uns und unseren Pferden umgehen und uns nicht durch verklärende und verträumte Vorstellungen leiten lassen, die nur ein Ideal verkörpern, das man doch nie erreicht.

Pferd und Mensch sind soziale Wesen mit allen Hintertücken wie auch guten Seiten, die durch ihre Gegenseitigkeiten ans Licht kommen. Man kann sich damit, wie Fred Rai, auf sehr entspannte und wohlwollende Weise arrangieren - oder nicht aufgeben und immer weiter forschen.


Fred Rai
Natürliches Reiten - die neue Schule für Freizeitreiter
Rai-Reiten ohne Peitsche, ohne Sporen, ohne Trense
Natur Buch Verlag
Weltbild Verlag, Augsburg 1996
ISBN 3-89440-209-1