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REZENSION/088: Adolf Heschl - Das intelligente Genom (Genetik) (SB)


Adolf Heschl


Das intelligente Genom



Adolf Heschl, Jahrgang 1959, Autor des vorliegenden Buches "Das intelligente Genom", hat sich während umfangreicher Studien mit dem Thema der menschlichen Entwicklung und Erkenntnisfähigkeit auseinandergesetzt. Er studierte Zoologie, Ethologie und evolutionäre Erkenntnistheorie.

In seinem Buch stellt er eine kühne Behauptung auf: Der Mensch sei zu keinem Erkenntnisgewinn fähig, ohne die erforderlichen genetischen Voraussetzungen mitzubringen. Seine Kernaussage lautet: "Menschen sind nichts Besonderes" (im Vergleich zu anderen lebenden Systemen, Anm. d. Verf.). Sie leben "ausschließlich nach den universellen Prinzipien der Entwicklung des Lebendigen, das heißt mittels genetischer Mutation und natürlicher Selektion." (S. 343)

Diese "Nichtbesonderheit" ergibt sich aus der Annahme, daß Menschen ebenso evolutionär festgelegt wie Tiere und Pflanzen funktionieren. Des Menschen Sprache, Schrift, Kultur und Technik will der Autor als Produkt eben genannter evolutionär bedingter genetischer Entwicklungen ausweisen. Informationen und evolutionärer Erkenntnisgewinn können seiner Auffassung nach nur über sexuelle Austauschprozesse vermittelt werden. Kurz, Adolf Heschl behauptet, der Mensch sei vollkommen genetisch festgelegt oder, moderner, programmiert.

"Dies macht es andererseits erforderlich, daß menschliche Individuen über eine unglaublich große Menge ans "a priori- Informationen" verfügen müssen - das menschliche Genom umfaßt immerhin an die 100.000 unterscheidbare Gene - und es schließt zugleich im direkten Gegensatz zu Kant und Lamarck (und deren zahlreichen geheimen Nachfolgern) grundsätzlich aus, daß darüber hinaus ein realer Zuwachs von Erkenntnis "a posteriori", d.h. also im Laufe der individuellen Entwicklung, möglich ist." (S. 344)

Seiner Auffassung nach kann ein Mensch die Welt immer nur in dem Ausmaß und Umfang erkennen, wie es seine ihm von Geburt an mit auf den Weg gegebenen Informationen (Genom) ermöglichen.

Meines Erachtens handelt es sich um eine Binsenweisheit, daß nur das erkennt werden kann, was schon zuvor in irgendeiner Form, Art und Weise bekannt war, wie sonst könnte man von e r k e n n e n sprechen? Ein Mensch eines Pygmäenstammes aus dem Amazonasgebiet beispielsweise wird eine Grafikkarte höchstwahrscheinlich nicht erkennen und auch nicht wissen, wozu sie verwendet wird. Sicherlich ist er aber in der Lage, dies bei einer Erläuterung durch einen mit Computertechnologie Vertrauten kennenzulernen und zu verstehen. Alles, was es dazu bedarf, ist, daß diese Menschen einander zuhören und überhaupt wissen und verstehen wollen. Würde man der These des Autors hier folgen, wäre der Umstand, daß der im Amazonasgebiet lebende Mensch bislang noch keinen Computer kennengelernt hat, n i c h t der Grund für seine Unkenntnis, sondern seine von dem Computer-Menschen verschiedene, evolutionäre Entwicklungsstufe der Erkenntnisfähigkeit!

Um also die in seinem Buch veröffentlichten Thesen zu verstehen, muß der Leser sich auf der gleichen evolutionären Entwicklungsstufe befinden wie der Autor! Andernfalls bleibt ihm dieses vermeintliche Wissen unzugänglich und verborgen.

Mit einer derartigen Einstellung entzieht sich Adolf Heschl von vornherein jeglicher Kritik, da er immer behaupten kann, seine Kritiker befänden sich nicht auf der gleichen evolutionären Entwicklungsstufe und seien weder berechtigt noch imstande, seine Thesen zu kritisieren bzw. zu begreifen.

In diesem Sinne erinnert sich der eine oder andere vielleicht noch an seine kindlichen Versuche, einem Spielkameraden etwas verständlich zu machen. Wollte dies nicht im erwünschten Sinne gelingen, so endete solches Unterfangen oft mit der Bezichtigung, "du bist einfach zu blöd!". Einen wesentlichen Unterschied kann ich in der hier offen gelegten Grundeinstellung des Herrn Heschl seinen Mitmenschen gegenüber auch nicht sehen. Wären vielleicht seine eigenen Kinder die einzigen biologisch - sprich genetisch - Vorbestimmten, ihn zu verstehen? Schließlich beinhalten seiner Auffassung nach ihre Gene ja sein gesamtes Wissen - was immer darunter auch zu verstehen ist.

Zu bemängeln ist, ganz gleich wie man zu dem Inhalt dieses Buches steht, daß Begriffe verwendet werden, die nicht präzise definiert sind, aber im Sinne eindeutiger Aussagen unbedingt wohl definiert sein sollten: Wahrheit, Zufall, evolutionärer Erkenntnisgewinn, Information, Natur, Wissen, um nur einige zu nennen. All diese Begriffe lassen, je nach Interessenlage, mehrere Deutungen zu. Das läßt dem Autor immer genügend Raum, bei einer Kritik oder Nachfrage mit der Wendung auszuweichen, er habe mit diesem oder jenen Begriff etwas ganz anderes gemeint.

Auf der Basis des allgemein anerkannten und gültigen sogenannten Wissensstandes ist Adolf Heschl ohne Zweifel in der Lage, eine anerkannte Theorie aufzubauen, nicht zuletzt auch aufgrund der generell gleichen Vorgehensweise in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Wichtiger und kritikwürdiger scheint mir das Interesse des Autors zu sein, welches ihn zur Formulierung seiner Thesen verleitet hat, deren Quintessenz die kaum noch zu übertreffende Anpassung und Überantwortung an höhere Instanzen (Gene, Atome, Moleküle etc.) ist. Denn sie besitzen laut Heschl die absolute Macht über den Menschen. Man muß sie akzeptieren, denn sie bestimmen den Metabolismus und die Entwicklung bis ins kleinste! Ich frage mich hier, ob bereits vergessen wurde, daß es sich um vom Menschen selbst erdachte Modelle handelt - um nichts weiter.

Einst glaubten Menschen, die Sterne, eine oder mehrere Gottheiten oder schlichtweg das Schicksal, seien für ihre Geschicke letztendlich verantwortlich. Der Glaube ist geblieben, nur die Instanzen, die "Gottheiten" sind verändert worden. Im vorliegenden Falle sind es die Gene bzw. das "intelligente Genom", welches allein über den Verlauf eines Menschenlebens bestimmt.

Wissenschaften übernahmen in moderneren Zeiten die Priesterfunktion. Sollte dem gewöhnlichen Volk von damals durch Priester "anständiges Wohlverhalten" im Sinne der Herrschenden vermittelt werden, entstehen in unseren Zeiten wissenschaftliche Theorien - populärwissenschaftlich formuliert - die keine andere Aufgabe innehaben. Dabei ist die Erfindung der Gene als letzte und höchste Instanz das begleitende Gedankengut, welches auf die totale Unterwerfung des Menschen abzielt. Wenn im Sinne einer solchen Verhaltensgenetik jede menschliche Regung genetisch festgelegt und vorbestimmt sein soll, wurde damit bereits der Maßstab für etwaige Verhaltensabweichungen erstellt.

Würde man heute einem Menschen noch zugestehen, daß er in der Lage ist, sein Verhalten zu verändern, Einsicht zu zeigen und Interessen zu entwickeln, so wäre dies nach der Theorie des Herrn Heschl nicht mehr denkbar. Dann könnte nur noch eine "genetische Korrektur" (was immer das chirurgisch bedeutet) eine Verhaltenskorrektur bewirken. Dieser Schluß - grausam wie er auch ist - liegt nahe, obgleich der Autor selbst sich darüber nicht im klaren zu sein scheint:

Wir entwickeln uns, genauso wie alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten auch, mit den beschränkten Mitteln von Mutation und Selektion und wir haben darüber hinaus keinerlei Möglichkeit, uns mit irgendeiner noch so raffinierten Methode von Wissenschaft, Kultur oder Technik außerhalb dieses Prozesses zu stellen. Denn die Grundbarriere auf dem Weg zu evolutionärem Fortschritt, die Notwendigkeit zufallsartiger Veränderungen, ist durch keinerlei Tricks zu umgehen. (S. 281)

Zweifelhaft werden damit allerdings auch die Arbeiten der "Genetiker", die sich beispielsweise mit pränataler Diagnostik befassen oder im Bereich der medizinischen Genetik forschen. Ihre Bemühungen, Gene zu manipulieren, können keine Wirkung bei dem behandelten Lebewesen zeigen, keine im Sinne eines evolutionären Fortschritts. Dieser wäre erst in der nächsten Generation feststellbar. Wem soll also geholfen werden? Oder geht es hier vielleicht vielmehr um eine Zucht unter Ausschluß unliebsamer Verhaltensweisen oder Krankheitsbilder?

Andererseits stellt Heschl die Behauptung auf, nur und wirklich nur durch den Zufall sei eine evolutionäre Veränderung möglich.

[...] Gödel hat damit sehr schön demonstriert, daß logische Systeme von ihrem Wesen her letzten Endes tautologisch geschlossene Entitäten sind, deren Veränderung aus sich selbst heraus logisch nicht ableitbar ist. In einer evolutionären Perspektive wird diese Einsicht ergänzt durch den empirischen Befund, daß lebende Systeme durch die besondere Stabilität ihrer zirkulär-kausalen Strukturen ausgezeichnet sind (Selbstorganisation), die nur über riskante Störprozesse zufallsartiger Natur veränderbar sind. (Anhang)

und

... indem zugleich gezeigt und begründet wird, was die Evolution kognitiver und, damit, lebender Systeme auszeichnet: die unverzichtbare Notwendigkeit des Zufalls zur Überschreitung der jeweiligen Grenzen und zugleich die prinzipielle Unmöglichkeit der Einsicht des Individuums in diesen Prozeß, kurzum - tatsächlich - blinde Mutation, die der natürlichen Selektion unterworfen wird. (Anhang)

Nun könnte man sich fragen, warum soll sich ein Mensch überhaupt noch um sozialen und kulturellen Fortschritt bemühen? Wenn ohnehin alles von zufälliger Mutation abhängig ist, warum sollte ein Kind noch die Schulbank drücken? - Wenn Albert Einstein lediglich das Produkt von eben einer derartigen zufälligen Mutation ist, die es ihm ermöglichte, wilde Theorien zu entwerfen, warum sollten sich Menschen darin versuchen, ihn verstehen? Sie müßten Adolf Heschls Theorie zur Folge einfach Kinder zeugen und abwarten, ob diese vielleicht schon vom Zufall getroffen wurden und auf die gleiche evolutionäre Entwicklungsstufe wie Einstein gelangen, welche es ihnen erlaubt, seine Theorien zu begreifen.

Man könnte hier auf die Idee kommen, der Autor meint, mit einem unterentwickeltem Betriebssystem können eben keine intelligenten Programme ablaufen. Damit würde er sich allerdings einem älteren gedanklichen Konzept, dem von Körper und Geist, nähern, welches er erklärtermaßen ablehnt. Dem Verständnis von Evolution entsprechend, das Adolf Heschl vorträgt, handelt es sich immer nur um die Weiterentwicklung, beziehungsweise Veränderung "dynamischer Prozeßstrukturen".

"... was Evolution wirklich ist, nämlich die adaptive Veränderung der dynamischen Prozeßstrukturen lebender Systeme in der Zeit"..." (S. 344)

Mit dieser Formulierung bemüht er sich, die nahegelegte Assoziation von Hard- und Software oder, mit seinen Worten, von Prozeßstrukturen und Prozessen, welche auf der Basis dieser Strukturen ablaufen können, auszuschließen. Denn seiner Meinung nach ist eine so vereinfachte Sicht keine adäquate Beschreibung des lebenden Organismus. Doch genausowenig, wie es Wissenschaftlern anderer Disziplinen gelungen ist, die Dualität beispielsweise von Welle und Teilchen aufzulösen, will es ihm gelingen, das Körper-Geist-Konzept aufzugeben. Denken in ausschließlich dualistischen Prinzipien und Begriffen scheint vom Menschen nicht durchbrochen werden zu können. Bei jedem Versuch, das eine oder andere auszuschließen, wird der Bezug ausgesprochen oder unausgesprochen zu dem gerade anderen hergestellt - und somit wieder zur Existenz gebracht. Diese Art zu denken ist nun wahrlich Jahrtausende alt. Hier hat der Zufall wohl noch nicht zugeschlagen, um eine zufällige Mutation zu erzeugen, die Menschen befähigen würde, Schritte über das dualistische Denkschema hinaus zu gehen, hier hat - nach der Vorstellung von Heschl - noch kein evolutionärer Erkenntnisgewinn Veränderungen hervorgebracht!

Durch das Einbringen des "evolutionären Erkenntnisgewinns" als den einzig möglichen Erkenntnisgewinn überhaupt, wird ein menschenverachtendes Weltbild entworfen. Menschen, die im Sinne der herrschenden Moral ein Fehlverhalten zeigen, die nicht im Einklang mit der vorherrschenden Wissenschaft stehende Ideen und Gedanken entwickeln, werden zu pathologischen Störfaktoren. Heschls Theorie zur Folge dürften sie keine Kinder zeugen, da dieses "Fehlverhalten" an sie durch sexuelle Weitergabe vermittelt wird, und es zu einem unerwünschten "evolutionärem Erkenntnisgewinn" kommen würde. - Dieses Gedankengut dürfte zumindest den älteren noch vertraut sein aus einer Zeit, in welcher derartige Ausgrenzungstheorien Hochkonjunktur hatten - verbargen sie sich damals auch noch hinter dem einfachen Begriff der Rassenlehre.

Das Individuum, so die Auffassung Heschls, kann keine neuen Erkenntnisse erlangen. Alles Wissen existiert bereits in seinen Genen oder "Prozeßstrukturen". Menschliches Verhalten und das vorbestimmte und festgelegte Erkenntnisvermögen sind auf das jeweilige Subjekt beschränkt.

"Schon Platon und lange vor ihm wahrscheinlich auch schon viele andere kritische Betrachter des menschlichen Erkenntnisvermögens - vielleicht hat es sogar schon echte Steinzeitsekptiker gegeben -, sind zu der richtigen Einsicht gelangt, daß ein umfassendes Wissen des Subjekts immer schon vorausgesetzt werden muß, um überhaupt ein Erkennen der Natur zu ermöglichen. All unser individuelles Wissen ist also notwendigerweise immer prä-existentes Wissen, da ansonsten die gesetzmäßige, d.h. nicht zufällige Genese menschlichen Verhaltens, und dies schließt das gesamte Erkenntnisvermögen mit ein, niemals erklärt werden könnte. Es bliebe nämlich sonst immer die lästige Frage, woher denn das Subjekt eigentlich wissen könne, was es in Reaktion auf eine Herausforderung der Umwelt zu tun hätte." (S. 344/345)

Ganz wie es Tradition in der Biologie ist, wird auch der Mensch als isolierte Einheit betrachtet. Bekannt ist diese Praxis von vielen Untersuchungsobjekten: die Zelle beispielsweise, deren Funktionsweise analysiert werden soll. Eine Zelle allein ist und bleibt eine rein theoretische Annahme und hat nur sehr wenig mit dem menschlichen Organismus als Einheit zu tun. Der Mensch lebt als soziales Wesen in einer Gemeinschaft - wenngleich heute alle Bestrebungen dahin gehen, dies in Richtung sozialer Vereinzelung zu verändern. Die einfache Tatsache, daß ein Neugeborenes mehrere Jahre auf die Hilfe und Versorgung der Eltern - gewiß aber eines Erwachsenen - angewiesen ist, zeugt von einer sozialen Verbundenheit.

Lernen wird ein Kind alles - auch schon in den neun Monaten, die es aufs engste mit der Mutter verbunden ist - durch die Verhaltensweisen und Reaktionen der Erwachsenen bzw. all derer, die in seiner Umgebung vor ihm in Existenz getreten sind. Der Autor behauptet, daß "immer die lästige Frage, woher denn das Subjekt eigentlich wissen könne, was es in Reaktion auf eine Herausforderung der Umwelt zu tun hätte", bliebe. Doch welcher Zwang und welche Notwendigkeit werden hier bemüht, solch eine Frage überhaupt zu stellen?

Immer haben Wissenschaftler die konstruierten Modelle, die eigentlich nur helfen sollten, die Wirklichkeit zu verstehen, beizeiten als real existent anerkannt (Atome, Elektronen, Gene, etc.). Das ist eine Frage des Standpunktes, des Glaubens bzw. eine Frage des Interesses. Nach der Lektüre von "Das intelligente Genom" wird einmal mehr deutlich, daß Menschen vielleicht nichts "Besonderes" sein mögen, daß sie aber sehr wohl die Möglichkeit haben, sich in Richtung Unterwerfung und Zwang zu entwickeln, oder sich um deren vollständige Beseitigung zu bemühen. In letzter Konsequenz stehen sich diese beiden Vorhaben in ausschließender Weise entgegen.

Lesenswert ist dieses Buch für jene, die sich einen Einblick in den Stand der Legitimationen für die Entwicklung einer meiner Meinung nach menschenverachtenden Genetik verschaffen wollen. Für Leser, die der Genetik positiv gegenüberstehen, lohnt sich "Das intelligente Genom" allemal, liefert es doch Argumente aus unterschiedlichsten Bereichen, wie beispielsweise auch der Philosophie, die eine Befürwortung unterstützen.


Adolf Heschl
Das intelligente GENOM
Springer-Verlag, Berlin und Heidelberg 1998
390 Seiten
ISBN 3-540-64202-1