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REZENSION/098: Weldor Hollmann, Theodor Hettinger - Sportmedizin (SB)


Weldor Hollmann, Theodor Hettinger


Sportmedizin



Die Entwicklung in der Medizin schreitet rasant voran. Doch kommen die neuen Erkenntnisse nicht nur immer weniger Menschen, sondern auch immer weniger dem Menschen zugute. Besonders deutlich wird dies in der Sportmedizin. Die Erforschung der menschlichen Leistungsfähigkeit orientiert sich an den Anforderungen, die von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Seite, nicht zuletzt aber auch von seiten des Leistungssports an sie herangetragen werden. Dabei leiten sich die Möglichkeiten der optimalen Anpassung an vorgegebene Bedingungen aus den gängigen sportmedizinischen Theorien ab, die - wie später noch erläutert wird - weder etwas mit der Bewegungspraxis noch mit dem Menschen an sich zu tun haben. Die eigentlich interessante Frage, wie eine gewünschte Leistung möglichst effektiv, d.h. unaufwendig und schnell erbracht werden kann, stand noch nie im Vordergrund dieser wissenschaftlichen Disziplin. Daß es bei der Untersuchung der Leistungsgrenzen lediglich darum geht, Schäden durch Überlastung zu verhindern, straft sich in der Praxis selbst Lügen, wenn es darum geht, einen verletzten Hochleistungssportler mit Hilfe der Sportmedizin in kürzester Zeit wieder wettkampffähig zu machen. So ist die Sportmedizin heute nicht mehr aus dem ausschließlich kommerziell orientierten System des Leistungssports wegzudenken.


Mit den sogenannten "alltäglichen" Problemen und Krankheiten muß der Mensch heutzutage zunehmend allein fertig werden. Das fängt damit an, daß die Kosten für Mittel gegen Husten, Schnupfen, Heiserkeit, aber auch Abführmittel und zahllose andere Medikamente nicht mehr von der Kasse übernommen, sondern selbst bezahlt werden müssen, und endet nicht zuletzt damit, daß öffentlich diskutiert wird, ob Risikozuschläge für eine ungesunde Lebensführung - etwa Rauchen oder Übergewicht - nicht einen Beitrag zu mehr Gerechtigkeit in der Krankenversicherung leisten könnten.

In diesem Szenario gewinnt die Vorsorge zunehmend an Bedeutung. Daß diese nicht dem größeren Wohlbefinden des Einzelnen zugute kommt, sondern als Streitroß für weitere Vorstöße in die bereits jetzt schon stark eingeschränkte Selbstbestimmung des Menschen mißbraucht wird, zeigt sich besonders deutlich in der Sportmedizin. Denn dieser interdisziplinäre Bereich verstand sich von jeher schon als die Speerspitze der Präventivmedizin und beruft sich darauf, daß nicht nur die Prävention der Herz- Kreislauf- und Stoffwechselkrankheiten, sondern auch die Vermeidung von alternsbedingten Leistungsverlusten körperlicher und geistiger Art auf den Erkenntnissen sportmedizinischer Forschung beruhen.

Zweifelsohne mögen diese Erkenntnisse manch einem gute Dienste erweisen, doch in erster Linie dienen sie dazu, die Leistungsfähigkeit des Menschen in volkswirtschaftlichem Sinne so lange wie möglich zu erhalten bzw. zu steigern. Nur eine optimale Anpassung des Menschen an die vorherrschenden Lebens- und Arbeitsverhältnisse erlaubt auch eine maximale Ausbeutung des Wirtschaftsfaktors Mensch. Jeder einzelne hat heutzutage selbst dafür zu sorgen, daß er konkurrenzfähig bleibt. Im Mittelpunkt der Forschung steht die Leistungsfähigkeit bzw. die Leistungssteigerung von Gesunden und Kranken.

Anläßlich der Gründung des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin der Deutschen Sporthochschule Köln in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Universitätsklinik Köln wurde die Sportmedizin 1958 folgendermaßen definiert:

Sportmedizin stellt das Bemühen der theoretischen und praktischen Medizin dar, den Einfluß von Bewegung, Training und Sport sowie den von Bewegungsmangel auf den gesunden und kranken Menschen jeder Altersstufe zu analysieren, um die Befunde der Prävention, Therapie und Rehabilitation sowie dem Sporttreibenden dienlich zu machen.

1977 wurde diese Definition dann vom Weltverband für Sportmedizin offiziell übernommen.


Die Geschichte der Sportmedizin ist noch nicht so sehr alt. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen anatomische und physiologische Grundlagenkenntnisse im Vordergrund des medizinischen Interesses. Noch in den 50er Jahren spielte körperliche Aktivität, Training und Sport klinisch praktische keine Rolle. Als dann in den 50er und 60er Jahren jedoch die gesundheitlich bedrohlichen Auswirkungen von Bewegungsmangel deutlich zutage traten, führte dies zu einer Verlagerung der Schwerpunkte hin zu präventiven und rehabilitativen Überlegungen und Maßnahmen. Die sportmedizinische Forschung wurde verstärkt und führte - wie im Buch immer wieder betont wird - u.a. zur "größten therpiebezogenen kardiologischen Revolution des 20. Jahrhunderts": zur Umkehr in der Behandlung des Herzinfarktpatienten von absoluter Bettruhe mehrwöchiger Dauer hin zur Frühmobilisierung, Bewegungstherapie und körperlichem Training in der Rehabilitation. In den siebziger Jahren verlagerten sich die Schwerpunkte der sportmedizinischen Forschung auf die Beurteilung des Einflusses von Bewegung und Sport auf Stoffwechselprozesse und -erkrankungen. Erkenntnisse der Grundlagenforschung ermöglichten es, den in Theorie und Praxis ganzheitlichen Ansatz neu zu definieren, weiterzuentwickeln und auf das Immunsystem auszudehnen.

Aus Sicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählen körperliche Aktivität, Training und Sport heute zu den wichtigsten Faktoren der Gesundheitserhaltung und Leistungsförderung.

"In Zukunft wird es weniger darauf ankommen, eine Krankheit zu heilen - das wird gewissermaßen eine Selbstverständlichkeit sein - als vielmehr das Auftreten einer Erkrankung zu verhindern. Der Fortschritt in der Erforschung von Risikofaktoren läßt die berechtigte Hoffnung zu, daß schon in naher Zukunft die Vermeidung von Risikofaktoren - nicht zuletzt auch durch Anwendung von Genforschungsergebnissen - im Zentrum ärztlicher und pädagogischer Handlungsweisen stehen wird." (Vorwort zur 4. Auflage)

Das erstmals 1976 erschienene und jetzt in der 4., völlig neu bearbeiteten und erweiterten Auflage im Schattauer Verlag erschienene Buch "Sportmedizin - Grundlagen für Arbeit, Training und Präventivmedizin" gilt als eines der bedeutendsten deutschsprachigen Lehrbücher der Sportmedizin. Es wendet sich jedoch nicht nur an Sport- und Medizinstudenten, sondern an alle Ärzte, die mit leistungsdiagnostischen, präventivmedizinischen, bewegungstherapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen befaßt sind. Auf dem Klappentext liest man:

"Das von Kennern oft als "Bibel der Sportmedizin" apostrophierte Werk "Sportmedizin" von W. Hollmann und Th. Hettinger beschreibt wissenschaftlich fundiert und umfassend alle medizinischen Aspekte des gesunden und des kranken Menschen in der Bewegung - ausgehend von funktionellen Gesichtspunkten der motorischen Haupt- und Nebenbeanspruchungsformen mit ihren leistungsbegrenzenden Faktoren, Meßmethoden und Möglichkeiten zur spezifischen Leistungsverbesserung."

Das umfangreiche orthopädisch-traumatologische Gebiet sowie die Rehabilitation kommen im Vergleich dazu fast gar nicht vor. Doch wird diesbezüglich von vorn herein auf andere einschlägige Lehrbücher verwiesen. Davon, daß "das interdisziplinäre Gebiet der Sportmedizin in den vergangenen 20 Jahren geradezu explodiert" ist, merkt man allerdings nicht viel, da auch in dieser 4. Auflage "Wert auf der Erhaltung von "klassischen" Publikationen aus früheren Jahrzehnten" gelegt wurde. Das zeigt sich dann in einer sehr dezidierten Darstellung der Forschungsergebnisse von Versuchen aus vornehmlich den 60er und 70er Jahren, an denen die Autoren oftmals selbst beteiligt waren. Selbst kleinste Studien an nur 4 Sportstudenten finden Erwähnung. Aktuelle Trends hingegen und wesentliche Entwicklungen der letzten Jahre - zu nennen sind hier nicht nur die Forschungen auf dem Gebiet der Immunologie und der Gehirnforschung, sondern auch die Entwicklungen in der Gentechnologie - wurden praktisch nicht berücksichtigt.

Die Auswahl der zahlreichen Abbildungen läßt sich nicht in jedem Fall nachvollziehen. Viele Diagramme sind für den Leser nur schwer verständlich, da sie im Text unzulänglich erläutert werden. Wo es um praktische Fragen geht, wie z. B. Aussehen und Handhabung der Meßgeräte für die Flexibilität, muß sich der Leser mit einem kurzen Text zufrieden geben, der die Funktionsweise nicht eindeutig beschreibt. Eine Abbildung an dieser Stelle wäre durchaus hilfreich. Auch die Veröffentlichung von zwei histologischen Schnitten aus dem Jahre 1937 sollte wohl eher der Sammelleidenschaft der Autoren als ihrem Bemühen um eine erläuternde Darstellung der im Text berücksichtigten Inhalte zugeschrieben werden.

Das Bestreben, möglichst viele Studien in diesem Lehrbuch zu berücksichtigen, steht leider oftmals einer gut leserlichen und im Gesamtzusammenhang verständlichen Darstellung physiologischer Erkenntnisse im Wege. Stellvertretend für zahlreiche Abschnitte sei hier eine kleine Leseprobe aus dem Kapitel "Endogene opioide Peptide, Schmerz, Psyche und Neurotransmitter" gegeben:

Opioide Peptide konnten im vegetativen Nervensystem sowohl in Verbindung mit dem Sympathikus als auch mit dem Parasympathikus nachgewiesen werden (Acher, 1981; Akil et al., 1984; Cavero et al., 1984). Besonders eng ist die Verflechtung mit dem kardiovaskulären System (Chaouloff, 1989; Devoino u. Idova, 1973; Ganten et al., 1986; Grossman et al., 1984; Lown, 1987; Parati et al., 1986; Rozanski et al., 1988; Weihe, 1987, 1988). Weihe et al. (1988) schließen aus ihren Untersuchungen, daß opioide Peptide die Freisetzung von Noradrenalin einschränken, indem sie auf präsynaptische Rezeptoren einwirken. Das ist vor allem in Verbindung mit dem Herzen nachgewiesen. (S. 27/28)

Trotz aller Bemühung um Darstellung der Wissenschaftlichkeit und Wichtigkeit der sportmedizinischen Forschungen, läßt sich nicht verhehlen, daß es noch immer große Lücken im Wissen um das Zustandekommen von Koordination bzw. allgemeiner Bewegungsfähigkeit gibt. Das liegt sicherlich nicht zuletzt daran, daß noch immer an anatomischen und physiologischen Modellen festgehalten wird, die parallel zur technologischen Entwicklung von Computern und Robotern entwickelt wurden.

Das durchgängig im dem Buch vermittelte Menschenbild entspricht daher dem eines programmierbaren Roboters, bei dem es darum geht, die Leistungsfähigkeit durch ständige Verbesserung der Koordination und Kraftentwicklung zu optimieren, und dessen Begrenzung letztendlich in der noch unzulänglich erforschten Rolle des Gehirns bei der Steuerung der Bewegung liegt. Einen Eindruck davon vermittelt beispielsweise folgendes Zitat aus dem Kapitel "Koordination (Technik)":

Ein leistungsbegrenzender Faktor ist dabei [gemeint ist 'die möglichst schnelle Anpassung eines geübten Bewegungsmusters an eine neu eingetretene Situation' - Anm. d. Red.] die Geschwindigkeit des Entscheidungsprozesses. Die zugrundeliegenden Kontrollprozesse enthalten Input, Übertragung, Output und Feedback-Systeme. Die Kapazitätsbegrenzung des Kontrollsystems liegt einerseits in der Geschwindigkeit oder Vielfältigkeit der Information, andererseits in dem pro Zeiteinheit zu übermittelnden Informationsmaximum. Dementsprechend hängt auch die Reaktionszeit ab von der Zahl möglicher Signale, der Wahrscheinlichkeit der Signale, der Beziehung oder Vereinbarkeit zwischen verschiedenen Signalen und ihrer Beantwortung sowie von der einschlägigen Erfahrung. (S. 148)

An dieser Stelle wird deutlich, daß dort, wo die Theorien der Sportmedizin versagen, dann doch wieder auf Begriffe wie "Erfahrung" zurückgegriffen wird, die zwar auf einem allgemeinen Konsens beruhen, aber in keiner Weise dem eigenen wissenschaftlichen Anspruch genüge tun können. Ein Beispiel hierfür ist die Präzision eines gezielten Steinwurfs, die sich trotz aller Forschungen mit Hilfe der heute anerkannten und gängigen Theorien nicht erklären läßt. Denn wenn ein Stein über eine Distanz von etwa 8 m geworfen wird, muß beim Loslassen eine Genauigkeit von weniger als 1 Millisekunde eingehalten werden. Doch nach allen heutigen Erkenntnissen sind die für die Steuerung der beanspruchten Muskeln zuständigen Neurone dieser Anforderung nicht gewachsen.

Doch grundsätzliche Zweifel an den heute gültigen Theorien läßt das Buch gar nicht erst zu. Ohne auch nur darauf hinzuweisen, daß es sich bei den beschriebenen "Fakten" doch lediglich um Modelle handelt, die ganz offensichtlich nicht so präzise treffen, wie es die Wissenschaftler gern hätten, werden an brenzliger Stelle gleich weitere Hypothesen angeführt, die dann doch noch zu befriedigenden Erklärungen führen könnten:

Wie sie es trotzdem schaffen, daß der Stein exakt sein Objekt trifft oder ein schmaler Nagelkopf mit einem Hammer exakt getroffen werden kann, ist bis heute noch ungenügend geklärt. Hypothetisch könnte die zusätzliche Heranziehung von Planungssequenzen der Nachbarschaft eine Rolle spielen, wodurch die Präzision des Bewegungsablaufes erhöht werden könnte. Calvin (1993) schätzt, daß die Zahl der Neuronen mit der 6. Potenz der Entfernung zunehmen müsse, wenn die Treffgenauigkeit beim Werfen obengenannter Art gleich bleiben soll. Er leitet daraus die Vermutung ab, daß die Hominiden deshalb ein größeres Gehirn benötigen, schon um beispielsweise aus lebenserhaltenden Gründen in der grauen Vorzeit gezielt und exakt werfen zu können. (S. 134)

Und fast wie ein Witz liest sich die direkt anschließende Beschreibung der Koordination beim Pfeil-Werfen:

Besonders hohe Anforderungen an Koordination stellt das Dart-Werfen (Pfeil-Werfen) auf eine Zielscheibe. Zunächst wird der Ellbogen hochgestellt. Daraufhin werden die Ellbogenbeuger und -strecker kontrahiert, und zwar gleichzeitig, so daß der Arm sich nicht bewegt. Hierdurch werden die elastischen Komponenten der Muskeln und Sehnen gestreckt, so daß sie potentielle Energie speichern. Zugleich wird dadurch erreicht, daß alle Strecker- Motoneurone losfeuern und zwar weit oberhalb des Schwellenwertes ihrer Rekrutierung. Nun erfolgt zur Einleitung des Wurfs eine Hemmung der Beuger-Motoneurone, so daß den Streckern kein Widerstand entgegensteht. Der Unterarm setzt sich in Bewegung. Dann wird zusätzlich zur Hemmung der Beuger die Erregung der Strecker verstärkt, was die durch den elastischen Rückstoß erzeugte Geschwindigkeit erhöht. Befindet sich der Unterarm in beinahe senkrechter Stellung, wird der Griff um den Pfeil gelockert, wahrscheinlich durch Hemmung der Fingerbeuger. Zusätzlich dürfte die Trägheit des inzwischen beschleunigten Pfeils dazu beitragen, den Handgriff zu öffnen. Das geschieht genau im richtigen Augenblick, dessen Berechnung für das Gehirn außerordentlich schwierig sein dürfte, nämlich 119 ms nach Einleitung der Wurfbewegung mit dem Senken des Ellbogens.

Doch selbstverständlich ist diese Beschreibung ernst gemeint und angesichts der hohen Steuerleistung des Gehirns, das letztendlich für alles zuständig ist, was sich nicht unbedingt logisch aus der Anwendung der gültigen Theorien auf die beschriebenen Abläufe ergibt (z. B. warum nur die Strecker-Motoneurone, nicht aber die Beuger-Motoneurone 'losfeuern', wo doch - wie oben beschrieben - sowohl Strecker als auch Beuger kontrahiert werden), ist es nicht verwunderlich, daß der Autor davon ausgeht, daß die "Zukunft der sportmedizinischen Forschung" in erster Linie von der Gehirnforschung geprägt sein wird.


Die Geschichte der Sportmedizin wird an mehreren Stellen recht ausführlich unter Nennung von Jahreszahlen beschrieben, doch ist die Periode des Dritten Reiches dabei vollständig ausgeklammert. So endet die Entwicklung der organisierten Sportmedizin 1933 mit der Umbenennung des "Deutschen Ärztebundes zur Förderung der Leibesübungen" in "Deutscher Sportärztebund", um dann gleich ins Jahr 1950 zu springen, in dem der "Deutsche Sportärztebund" wiedergegründet wurde.

Im Kapitel "Leistungsverhalten unter speziellen Bedingungen" wird dem Thema "Verhalten von Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer unter Höhenbedingungen" ein besonders großer Raum gewidmet, nicht zuletzt sicherlich deshalb, weil der Autor Wildor Hollmann selbst in den 60er Jahren zur Vorbereitung der "Höhen-Olympiade" 1968 in Mexiko City auf diesem Gebiet geforscht hat. Vorangestellt wird eine Einleitung "Zur historischen Entwicklung des Höhentrainings". Auch hier fällt auf, daß die während des 2. Weltkriegs durchgeführten Experimente keine Erwähnung finden bzw. einfach verleugnet werden:

Besonders eine Gruppe von deutschen Luftfahrtmedizinern bereicherte das physiologische und klinische Wissen unter den Bedingungen körperlicher Belastung in der Höhe schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (Balke, Benzinger, Gauer, Hartmann, Hepp, Kramer, Luft, Noell, Opitz, Schneider, Strughold). Während Luft heute als Begründer einer exakten Luftfahrtmedizin angesehen wird, gilt Strughold als der Begründer der weltraummedizinischen Forschung. Die Untersuchungen thematisierten das Atmungs- und Gasstoffwechselverhalten bei akuter und chronischer Hypoxie unter besonderer Berücksichtigung von noch physiologischen oder schon pathologischen reaktiven Veränderungen. (S. 457)

Fünf der oben genannten Personen gehörten zu den 90 Elite- Medizinern für Luftfahrtmedizin und Kälteforschung, die 1942 an dem Kongreß "Ärztliche Fragen bei Seenot und Winternot" teilnahmen, auf dem Menschenversuche offen diskutiert wurden.

"Die Mediziner erfahren, daß Versuchspersonen zu Tode gebracht wurden. Keiner protestiert laut, keiner tritt aus Protest von seinem Amt zurück." (aus: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, von Ernst Klee, Seite 238)

Das vorletzte Kapitel "Zur Bedeutung der Sportmedizin im interdisziplinären medizinischen Bereich" liest sich wie eine Reklameschrift. In aller Kürze wird aufgelistet, welche entscheidenden Vorteile den verschiedenen medizinischen Disziplinen durch die sportmedizinische Forschung bereits zugute gekommen sind.

Daß die Biochemie und die Leistungsphysiologie in besonders hohem Maße fast zwangsläufig viele neue Erkenntnisse der Sportmedizin zu verdanken haben, versteht sich beinahe von selbst. Es sei darum hier nur global darauf hingewiesen.
Auch die Umweltmedizin erhält schon lange sportmedizinische Impulse. Das gilt für die Höhenforschung genauso wie für Tiefenforschung (Tauchen) sowie für Leistungsbedingungen und gesundheitliche Gefahren bei extremen Temperaturbedingungen (Hitze oder Kälte). Einschlägige Mechanismen und praktische Verhaltensregeln sind von sportmedizinischer Seite erstellt worden. Auch die Gefahren von Training unter den Bedingungen des heutigen Straßenverkehrs in der City einer Großstadt konnten sportmedizinisch untersucht werden. Dabei stellte sich z. B. in Köln heraus, daß ein einstündiges Joggen in der Kölner Innenstadt zur Rush- hour des Verkehrs zwar signifikante Einflüsse im Hinblick auf eine Vermehrung des CO-Hämoglobins besitzt, aber in seiner Größenordnung geringer ist als der Effekt einer einzigen, aktiv gerauchten Zigarette. Noch ungenügend ist hingegen unser Wissen über Leistungsbedingungen bei erhöhtem Ozongehalt in der Luft. Sicher aber dürfte sein, daß die derzeitige, teilweise hysterische Reaktion von Medien medizinisch-wissenschaftlich ungerechtfertigt ist. Das gilt zumindest für die Ozon-Größenordnungen, welche an heißen Sommertagen gelegentlich in Deutschland anzutreffen sind.
Auch die Luftfahrt- und Weltraummedizin profitierten von sportmedizinischer Forschung. Das betraf u.a. das Leistungsverhalten unter Sauerstoffmangelbedingungen, Auswirkungen der Schwerelosigkeit und Beeinflussung dieser Effekte durch Training. (S. 622-623)

Daß diese Disziplinen sicherlich mehr von den Ergebnissen der zahlreichen - in diesem Lehrbuch gänzlich verschwiegenen - Menschenversuche der Wehrmacht zu Höhentod, Unterdruck, Kältetod, Meerwasser und Ernährung in den Konzentrationslagern während des zweiten Weltkriegs profitiert haben als von den aktuellen Forschungen der Sportmedizin, bleibt dahingestellt. Denn wie die beiden an Höhentod- und Luftwaffenversuchen beteiligten Ärzte, die später als 'Direktor des Instituts für Luftfahrtmedizin' in Bonn-Bad Godesberg und als 'Vater der Weltraummedizin' in den USA voll rehabilitiert wurden, Prof. Dr. Siegfried Ruff und Prof. Dr. Hubertus Strughold in ihrem Lehrbuch 'Grundriß der Luftfahrtmedizin' 3. Auflage, 1957, S. 35 anmerkten, haben "für die Luftfahrt in erster Linie nur die am Menschen gewonnenen Forschungsergebnisse praktischen Wert."

Obwohl durchgängig versucht wird, die Geschichte der Medizin und der medizinischen Forschung im Dritten Reich außenvor zu lassen, knüpfen die Autoren im Denken und in ihrer Wortwahl (unreflektiert?) an diese Tradition an, wenn z. B. in der Einleitung im Zusammenhang mit der Olympiade als Merksatz - durch einen grauen Kasten hervorgehoben - formuliert wird:

Olympische Idee, olympischer Geist - das ließe sich heute definieren als leistungsbezogenes, sportliches Handeln im Geiste von Fair play, Völker- und Rassenverbindung.

Die auf dem Klappentext erwähnte Bezeichnung "Bibel der Sportmedizin" trifft auf dieses Lehrbuch sicherlich nicht in dem Sinn zu, in dem sie wohl gemeint ist, nämlich, daß es sich bei diesem Werk um ein Buch handelt, in dem alles Wissenswerte über die Sportmedizin übersichtlich und verständlich für den Leser aufbereitet wurde. Wohl aber trifft die Bezeichnung sehr präzise, wenn es darum geht, anzumerken, daß in diesem Buch die Dogmen der sportmedizinischen Forschung dem geneigten und wissenschaftsgläubigen Leser nahegebracht werden sollen.


Weldor Hollmann, Theodor Hettinger
Sportmedizin
Grundlagen für Arbeit, Training und Präventivmedizin
4., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage 2000
Schattauer, Stuttgart, New York
704 Seiten, 692 Abbildungen
ca. 101 Tabelle, DM 198,-
ISBN 3-7945-1672-9