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REZENSION/155: Edward Luttwak - Strategie (Kriegsführung) (SB)


Edward Luttwak


Strategie

Die Logik von Krieg und Frieden



In einer Zeit, in der der Krieg mehr denn je zum Mittel der Politik wird, kann die Beschäftigung mit militärischen Fragen nicht allein von vorübergehendem, dem jeweils gerade aktuellen Feldzug adäquaten Interesse sein. Bisher hat man sich mit spektakulären Details ohne Verankerung im militärisch-politischen Kontext zufrieden gegeben, zumal die Auseinandersetzung mit Problemen der Kriegsführung deutschen Pazifisten wie Bellizisten ohnehin unergiebig erschien. Wer militärische Gewaltanwendung grundlegend ablehnte, wollte sich auf diesbezügliche Fragestellungen prinzipiell nicht einlassen, wer im Krieg eine Art menschlicher Bewährungsprobe von unersetzlichem Charakter sah, beschwerte sich über die der Bundesrepublik auferlegte Zurückhaltung.

Seit ein Großteil der ehemaligen Linken den Vorwand des humanitären Interventionismus zur Restauration des deutschen Militarismus nutzt und der Dissens mit den USA über das Vorgehen im Irak den Ruf nach Aufbau einer europäischen Armee immer lauter erschallen läßt, seit die Ereignisse des 11. September 2001 nicht nur den Krieg gegen den Terrorismus, sondern einen von diesem immer weniger zu unterscheidenden Weltordnungskrieg initiiert haben, kommt man an der Bedeutsamkeit eines Denkens, das die Frage politischer Machbarkeit am Ausmaß militärischer Stärke bemißt, jedoch immer weniger vorbei.

Für den Einstieg in dieses normalerweise Berufssoldaten und Militärhistorikern vorbehaltene Thema ist das von Edward N. Luttwak bereits 1987 erstmals auf englisch veröffentlichte und im Februar 2003 in aktualisierter deutscher Übersetzung erschienene Werk "Strategie. Die Logik von Krieg und Frieden" durchaus zu empfehlen. Da es sich bei Luttwak nicht nur um einen Akademiker, sondern auch einen politischen Berater handelt, der bereits seit Anfang der achtziger Jahre in diversen US-Administrationen für das Pentagon, den Nationalen Sicherheitsrat und das State Department tätig war und heute als Senior Fellow für Präventive Diplomatie am Center for Strategic and International Studies in Washington arbeitet, hat man es bei seinen Ausführungen mit einem genuinen Produkt der Strategieschmieden amerikanischer Sicherheits- und Hegemonialpolitik zu tun.

Inwiefern die konzeptionellen Grundlagen seines Werkes, das zumindest in deutschen Zeitungen als Klassiker gehandelt wird, tatsächlich die Entscheidungen amerikanischer Militärplaner beeinflussen oder eher ein Kondensat der von Luttwak analysierten Feldzüge darstellen, kann man nicht wissen. Seine Lehrtätigkeit an diversen Militärakademien und seine Teilnahme an der Gruppe "Schachmatt", die die strategische Bombardierung Bagdads 1991 plante, lassen jedoch vermuten, daß Luttwaks Strategiebegriff zum Lernstoff amerikanischer Offiziersanwärter gehört. Zudem liegen seine Begriffe und Theoreme auf einer Linie mit der aktuellen US-Militärdoktrin der präventiven Kriegsführung, der strategischen Dominanz der US-Luftwaffe und den geostrategischen Absichten der US-Administration. Dementsprechend handelt es sich bei seinem Werk nicht nur um eine universale Abhandlung zur Militärstrategie, sondern Luttwaks Denken wird maßgeblich von der Ideologie des amerikanischen Neoimperialismus geprägt, wenn auch nicht von jener messianisch-aggressiven Provenienz, mit der die neokonservativen Vordenker in Washington von sich reden machen.

Der Autor unternimmt den Versuch, die von ihm zu Beginn des Buches dargelegte Logik der Strategie durch eine Vielzahl von Fallbeispielen historischer wie zeitgeschichtlicher Art transparent zu machen und zu einer Handlungsanweisung zu verdichten, die sich nicht nur für Probleme der Kriegsführung, sondern auch die der Politik und Diplomatie nutzen lassen soll. Dabei entwirft er ein systemisches Konzept mehrerer Ebenen und Dimensionen, deren prozessuale Dynamik sich zwischen den Polen linearer und paradoxer Logik entfaltet. Luttwak zufolge ist strategisches Denken prinzipiell paradoxer Natur:

Wenn kein Konflikt vorliegt oder wenn Konflikte lediglich als Begleiterscheinungen von Vorgängen in Produktion, Konsum, Kommerz und Kultur, in sozialen oder familiären Beziehungen oder im Rahmen einer durch Konsens begründeten Regierung auftreten, werden Streit und Konkurrenz durch Gesetz und Herkommen geregelt. Es regiert eine widerspruchsfreie lineare Logik, der nichts weiter zugrunde liegt als der gesunde Menschenverstand. Im Reich der Strategie, in dem menschliche Beziehungen durch tatsächliche oder mögliche bewaffnete Konflikte bestimmt werden, ist aber eine andere Logik am Werk, die regelmäßig gegen die gewöhnliche lineare Logik verstößt, indem sie die Gegensätze zusammenfallen läßt und umkehrt. Nach dieser Logik wird paradoxes Verhalten belohnt und linear- logisches Handeln bestraft, was zu ironischen bis hin zu schädlichen oder gar tödlichen Ergebnissen führt.

Luttwaks Axiomatik vom gesunden Menschenverstand und der Konsistenz konventioneller Logik ist so fragwürdig wie deren Aufhebung durch eine Paradoxie, die man ebensogut als Ergebnis beschränkter Erkenntnisfähigkeit begreifen könnte. Nur wenn man nicht alle Faktoren eines Systems erfaßt hat, bekommt man es mit vermeintlich unkalkulierbaren Regelwidrigkeiten zu tun, ansonsten kann die Beherrschbarkeit eines komplexen Verlaufes nur eine Frage der Menge zur Verfügung stehender Informationen und ihrer sachgerechten Verarbeitung sein. Das entspräche zumindest der Ratio einer Logik, die beansprucht, Wirklichkeit auf der Basis kausaler Prinzipien so abzubilden, daß deren Analyse Handhabe zu Entscheidungen von weitreichender Handlungssicherheit bietet.

Daß lineare Logik auch im Alltag und nicht nur im Kriege selten so funktioniert, wie man es von ihr erwartet, zeigt jedoch, daß jede mit dem Mittel positivistischer Erkenntnis vorgenommene Wirklichkeitsbewältigung von dem grundlegenden Problem gekennzeichnet ist, sich immer im Nachvollzug der Ereignisse zu bewegen. Der Versuch, der Vielfalt kausaler Faktoren gewissermaßen in Echtzeit durch immer umfassendere Systeme der Datenerhebung und -evaluierung gerecht zu werden, kann aufgrund der nie zu erreichenden Geschwindigkeit der zu untersuchenden Abläufe lediglich probabilistische Annäherungswerte erzielen. Eine Entwicklung gänzlich zu antizipieren, wie es für eine an objektiven Gesetzmäßigkeiten orientierte Strategie im Kriege erforderlich wäre, erweist sich demgegenüber erst recht als prekäres Unterfangen, zu dessen Gelingen wie Scheitern eine Vielzahl nur bedingt objektivierbarer Faktoren persönlicher Erfahrung, politischer Verhältnisse und militärischer Fähigkeiten beitragen.

Die von Luttwak durch die Begriffskette "Aktion, Kulmination, Niedergang, Umwandlung" gekennzeichnete Verlaufslogik einer vermeintlich widersprüchlichen Entwicklung, in der sich ein militärisches Vorhaben erfolgreich entwickelt, um sich beim Überschreiten eines gewissen Punktes der logistischen Überdehnung oder strategischen Verzettelung in sein Gegenteil zu verkehren, könnte man auch schlicht als Resultat von Dummheit, Gier und Größenwahn bezeichnen. Auf jeden Fall wären die Fallbeispiele für militärische Manöver, die sich gerade deshalb katastrophal entwickelten, weil sich die Führung der offensiven Partei von Anfangserfolgen blenden ließ, auch ohne die Dichotomie der Luttwakschen Logik schlicht anhand der gemachten Fehler zu erklären.

Das prinzipielle Manko der von Luttwak propagierten Sichtweise besteht darin, daß es sich bei allem Bemühen um die systemische Erfassung und differenzierte Analyse militärischer und politischer Entwicklungen um eine deskriptive Methode handelt, deren propagierte Resultate ihrerseits mit dem Gegenstand der Untersuchung interagieren. So bezieht Luttwak zwar unterschiedliche Kräfteverhältnisse in seine Betrachtungen ein, doch wird die Frage militärischer Bemittelung nur unzureichend ins Verhältnis zu den dargestellten Folgen strategischer Entscheidungen gesetzt.

Im Endeffekt führt die Untersuchung geschlagener Schlachten zu dem Schluß, daß militärische Stärke niemals groß genug sein kann, denn alles Geschick einzelner Feldherrn muß notgedrungen an den materiellen Unzulänglichkeit der quantitativen wie qualitativen Ausstattung scheitern, wenn diese in einem zu negativen Verhältnis zum Gegner steht. Dies wird in dem Buch Luttwaks auf sehr detaillierte Weise transparent gemacht, und hätte er die Effizienz strategischer Planung ausführlicher in den sozialökonomischen Kontext der sie betreibenden Staaten gestellt, dann wäre das Verhältnis von Stärke und Strategie sicherlich kohärenter abgehandelt worden.

Auch wirkt sich die politische Voreingenommenheit Luttwaks als eines Vertreters des administrativ-militärischen Komplexes der USA und expliziten Vorkämpfers israelischer Interessen deutlich auf seine Doktrin aus. Allerdings muß ihm zugestanden werden, daß er schon vor zwei Jahren, als er, wie er im Vorwort erklärt, die überarbeitete Version seines Buches abschloß, ausdrücklich vor den schädlichen Folgen und gefährlichen Risiken einer amerikanischen Politik warnte, die unter Schädigung internationaler Organisationen und bilateraler Verbindlichkeiten allein ihren hegemonialen Ambitionen folgt. Luttwak befürchtet, daß die USA den Kulminationspunkt ihrer Machtentfaltung überschreiten und langfristig Reaktionen auf den Plan rufen, die seiner paradoxen Logik gemäß ausschließlich negative Rückwirkungen auf das eigene Land zur Folge haben.

Auf jeden Fall versteht es der Autor, kenntnisreich und interessant Militärgeschichte zu referieren und analysieren. Auf der Basis einer regelrechten Kosmologie strategischen Denkens beleuchtet er die militärischen Fragen und Probleme, die sich während der Ost-West-Konfrontation an der innerdeutschen Grenze, der israelisch-arabischen Kriege 1967 und 1973, des Irakkriegs 1991 und des Jugoslawienkrieg 1999 stellten. Dabei geht es ihm um das Kriegshandwerk im ganz konventionellen Sinne, das heißt die Lösung der Aufgaben, die sich auf technischer, taktischer, operativer, gefechtsfeld- wie gesamtstrategischer Ebene sowie in horizontaler, das heißt die konkreten Kampfhandlungen der Akteure, und vertikaler, also die genannten Handlungsebenen betreffender Dimension stellen.

Eingedenk der Vielzahl auf Kriege einwirkender Bedingungen versucht der Autor, sein strategisches Konzept so umfassend wie möglich anzulegen und unverknüpft gebliebene Wirkfaktoren ihres Charakters passiver Störfaktoren durch die operative Einbeziehung in das hierarchische Arrangement seines Ordnungskonzeptes zu entheben:

Wenn wir uns an das frühere Bild der Strategie als eines Gebäudes mit vielen verschiedenen Ebenen erinnern, mit Stockwerken, die durch die Wellen und Gegenwellen von Aktion und Reaktion in Bewegung geraten, stellen wir fest, daß die höchste Ebene sehr viel weiträumiger als alle anderen ist - so geräumig, wie dies eine wirkliche Architektur gar nicht erlauben würde. Denn auf der Ebene der Gesamtstrategie kommen endgültige Ergebnisse durch das Zusammenwirken der unteren militärischen Ebenen zustande, die wiederum auf der breiten Bühne der internationalen Politik mit nicht-militärischen politischen Zusammenhängen interagieren; mit formalen diplomatischen Beziehungen, propagandistischen Verlautbarungen, Geheimoperationen, mit den durch nachrichtendienstlichen Erkenntnisse geprägten Wahrnehmungen anderer und mit allen wirtschaftlichen Transaktionen, die nicht nur rein private Bedeutung haben. In diesem unverhältnismäßig großen obersten Stockwerk ergibt sich der Reinertrag des Technischen, Taktischen, Operativen und Gefechtsfeldstrategischen im beständigen Zusammenwirken mit all jenen zwischenstaatlichen Verhandlungen, die die militärischen Bereiche der einzelnen Staaten beeinflussen und von ihnen beeinflußt werden.

Der aus der Summe der Teile seiner analytischen Struktur erwirtschaftete Überschuß an Planungssicherheit wäre der Gewinn, der sich für einen in den genannten Bereichen tätigen Menschen aus der Lektüre des Buchs ziehen ließe. Der von Luttwak Konflikten und Kriegen aller Art zugrundegelegte prozessuale Verlauf verspricht den Zugriff auf die zuverlässige Planung eines praktisch mit Erfolgsgarantie ausgestatteten Feldzugs allerdings nur sehr bedingt. So ist sich der Verfasser der Schwierigkeiten, die sich aus der multiplen Interdependenz und flexiblen Dynamik seines Systems ergeben, durchaus bewußt, wie die vorsichtige Relativierung der daraus gezogenen Erkenntnisse zeigt:

Unser Thema ist allerdings so vielseitig wie das menschliche Leben selbst, oft stark mit Emotionen besetzt, geprägt von institutionellen Gewohnheiten und Erfordernissen und überschattet von der Ungewißheit der zeitlichen und räumlichen Bedingungen jeder Begegnung. Daher können die verbalen Netze abstrakter Formulierungen nur die Hohlform der Strategie und nicht ihren turbulenten Inhalt umreißen. Definitionen von Taktik und anderen Ebenen der Strategie gibt es in großer Zahl. Es genügt aber, sich eine dieser Definitionen anzusehen, um sofort die vielen möglichen Ausnahmen von der Regel vor Augen zu haben.

Luttwak verspricht zwar, sich nicht in der letztlich für den großen Überblick unergiebigen Potenzierung spezifischer Definitionen zu verlieren, sondern durch wohlstrukturierte und systematische Untersuchung "das dynamische Ganze auf der Ebene der Gesamtstrategie" und damit "die Grenzlinien der wesentlichen Vielschichtigkeit von Konflikten sichtbar" zu machen, dennoch handelt es sich beim Entwurf der Grand Strategy kaum um das große Arkanum universeller militärischer wie politischer Machtentfaltung. So schließt Luttwak das Buch mit einer deutlichen Warnung ab:

Es gibt allerdings eine ständige Gefahr. Wer eine fundierte Gesamtstrategie konzipieren will, muß gewaltige faktische Unwägbarkeiten in Kauf nehmen. Erfolgreiche Formulierung und Implementierung kann damit zur Systematisierung von Irrtümern führen. Kurzsichtiger Pragmatismus und unkoordinierte Ad-hoc- Lösungen, die das politische Alltagsgeschäft prägen, führen zu zahlreichen Irrtümern, die allerdings in den meisten Fällen nicht allzugroß sind und sich mit etwas Glück ausgleichen. Wenn die erfolgreiche Anwendung einer Gesamtstrategie die vielen kleinen Fehler reduziert, die sich mangelnder Abstimmung verdanken, dann geschieht dies allerdings auf die Gefahr, daß sich die Energien auf sehr viel größere Fehler konzentrieren. Kriegerische Abenteuer von Diktaturen, die ihre Politik am straffsten koordinieren können, schöpfen deshalb die paradoxe Logik voll aus, um jeden Angriff normalerweise mit einem Überraschungseffekt einzuleiten und in der Katastrophe zu enden.

Daß ein solches Vorgehen nicht unbedingt an sogenannte Schurkenstaaten gebunden sein muß, die Luttwak bei dieser Warnung im Sinn gehabt haben mag, sondern auch auf den derzeit weltbewegenden Aggressor USA zutreffen könnte, sollte auch nach dem schnellen Erfolg im Irak nicht vergessen werden. Gerade deshalb ist die Lektüre des Buches zu empfehlen, denn es klärt gründlich über die kalte, technische Rationalität der Kriegführung auf und wirkt daher als ernüchterndes Antidot gegen jede ideologische und propagandistische Verklärung, mit der die gewaltsame Neuordnung der Welt zur Wohltat für alle Betroffenen verharmlost wird.

Nutzt man Luttwaks konzeptionellen Entwurf im Sinne einer Diskussionsgrundlage und behandelt ihn nicht als der Feldherrenweisheit letzter Schluß, dann bietet er einen guten Anlaß zur sachlichen Behandlung der Gewaltfrage im militärischen und internationalen Kontext. Schon der als Stratege durchaus erfolgreiche Mao Tse-tung hat in seiner 1936 verfaßten Schrift "Strategie des chinesischen revolutionären Krieges" darüber aufgeklärt, daß Pläne erst durch ihre Modifikation funktional werden und man sich beim Studium des Krieges vor einem Fehler ganz besonders hüten sollte:

Wenn wir die Gesetze zur Führung von Kriegen studieren, die verschiedenen historischen Zeitaltern angehören, sich ihrem Verlauf nach unterscheiden, an verschiedenen Orten stattfinden und verschiedene Völker betreffen, so müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die Merkmale und den Entwicklungsstand jedes einzelnen Krieges richten und uns jeder mechanischen Einstellung zum Problem des Krieges widersetzen.


Edward Luttwak
Strategie
Die Logik von Krieg und Frieden
Klampen-Verlag, Lüneburg, 2003
360 Seiten, 34 Euro
ISBN 3-934920-12-8