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REZENSION/162: H. Loquai - Weichenstellungen für einen Krieg (Kosovo) (SB)


Heinz Loquai


Weichenstellungen für einen Krieg

Internationales Krisenmanagement und die OSZE im Kosovo-Konflikt



Auch vier Jahre nach seinem Ende hat der Jugoslawienkrieg nichts von seiner Bedeutung für die Militarisierung der europäischen Außenpolitik und die Degeneration des Kriegsvölkerrechts zum beliebig zu instrumentalisierenden Mittel hegemonialer Ambitionen eingebüßt. Je größer die zeitliche Distanz zu den Ereignissen im ersten Halbjahr 1999, desto unbestrittener verkehrt sich der Überfall der NATO auf Jugoslawien zu einer wenn schon nicht völkerrechtlich, dann doch aus menschenrechtlichen Gründen gerechtfertigten Notfallmaßnahme, mit der man dem Wüten nationalchauvinistischer Serben habe Einhalt gebieten müssen. Die Sprachregelung, die heute die Reden deutscher wie europäischer Politiker zu diesem Thema bestimmt, hat sich dank nachhaltiger Faktenresistenz zweckopportun verselbstständigt. Die sogenannte humanitäre Intervention der NATO im Kosovo wird der für die europäische Einigung in Anspruch genommenen Sachzwanglogik gemäß zum Gründungsakt einer EU hochstilisiert, die sich als militärisch potenter Akteur in den Krisenherden der Welt hervortun und so ihren globalen Anspruch auf ordungsstiftende Verfügungsgewalt reklamieren soll.

Gerade vor dem Hintergrund des nach dem Irakkrieg um so zügelloser entbrannten Propagierens militärischer Stärke als zentrales politisches Gestaltungsmittel tut ein nüchterner Blick auf die Ereignisse vor vier Jahren not. Der Politikwissenschaftler und ehemalige Brigadegeneral der Bundeswehr, Dr. Heinz Loquai, gehörte schon während des Jugoslawienkriegs zu den wenigen Stimmen außerhalb der prinzipiell antimilitaristischen Linken, die die Gründe, die 1999 für den Angriff der NATO geltend gemacht wurden, kritisch hinterfragten. Als Leiter der Militärberatergruppe der deutschen OSZE-Vertretung in Wien verfügte er über besonderen Einblick in die Situation in der serbischen Provinz und nutzte diesen nach seiner Pensionierung am 31. März 1999, um über die Auslassungen und Widersprüche in der Argumentation der Bundesregierung und anderer NATO-Staaten aufzuklären, die zum Kriege führte und mit der im Nachhinein Geschichte nach Feldherrenart gemacht wurde.

Schon mit seinem ersten Buch zu diesem Thema ("Der Kosovo- Krieg - Wege in einen vermeidbaren Krieg") erregte Loquai einiges Aufsehen, trug es doch zu einer Korrektur der Berichterstattung über den Jugoslawienkrieg bei, der es 1999 offensichtlich nicht erlaubt war, nach dem gebotenen Kriterium journalistischer Sorgfalt vorzugehen. Zwar hielten Informationen, die Angaben der kriegsführenden Regierungen der NATO-Staaten widerlegten, mit erheblicher Verzögerung auch in größeren Medien der Bundesrepublik Einzug, im Grunde jedoch unterblieb eine Aufarbeitung, die die einseitige Bezichtigung der jugoslawischen Seite durch die entsprechende Tiefe und Vollständigkeit der nachgereichten Fakten kompensiert hätte.

Loquai leitet sein nun vorgelegtes Buch "Weichenstellungen für einen Krieg: Internationales Krisenmanagement und die OSZE im Kosovo-Konflikt" denn auch mit einem Verweis auf einen Offenen Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages vom März 2001 ein, in dem zwei Hamburger Friedensforscher, der leider jüngst verstorbene Dr. Dr. Dieter S. Lutz und sein damaliger Stellvertreter Dr. Reinhard Mutz, unter anderem konstatierten, daß "das Parlament seiner Kontrollfunktion auf dem Weg in den Krieg nicht oder nicht ausreichend gerecht geworden" sei. Das Anliegen, eine dem demokratischen Geist der Volksvertretung gemäß vorbehaltlose und offene Diskussion der fragwürdigen Voraussetzungen, unter denen dieser Krieg zustande kam, zu initiieren, wurde von führenden Politikern der Regierungskoalition mit scharfen Worten zurückgewiesen.

Um so erfreulicher ist es, daß sich immer noch beherzte Publizisten finden, denen die unvollendete Geschichte dieses Krieges wichtig genug ist, um sich dem propagierten Eindruck, zu dem Geschehen sei bereits alles Wissenswerte gesagt worden, zu widersetzen. Loquai tut dies aus der spezifischen Perspektive eines ehemaligen Funktionärs der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die von den Grünen in weniger bellizistischen Tagen gerne als friedens- und sicherheitspolitische Alternative zur NATO angeführt wurde. Tatsächlich steht Loquai auch heute noch, da die in den Zeiten der Blockkonfrontation groß gewordene OSZE weitgehend in der Versenkung verschwunden ist und meist nur noch mit Missionen zur Wahlbeobachtung in sogenannten Transformationsstaaten oder der Beobachtung des Tschetschenienkonflikts ins öffentliche Bewußtsein rückt, für diese Alternative ein.

Seinem Bemühen, die Chancen und Versäumnisse der Kosovo- Verfifikations-Mission (KVM) zu analysieren, ist das Bedauern um das Scheitern des Versuchs abzulesen, durch die größte jemals erfolgte Friedensmission der OSZE einen Krieg abzuwenden. Wie Loquai in der ausführlichen Chronologie der Vorgeschichte des NATO-Einsatzes darlegt, waren die Aussichten auf ein Gelingen der Mission nicht so schlecht, wie sie in einer auf militärischen Aktionismus ausgerichteten Presse dargestellt wurden. So mangelte es keineswegs an Kooperationsbereitschaft von jugoslawischer und serbischer Seite, wo man die Abmachungen des Holbrooke-Milosevic- Abkommens vom Oktober 1998 weitgehend einhielt. Auch zeigt sich an Loquais Darstellung, daß der Opferstatus der Kosovo-Albaner durch die bewaffneten Kräfte der nationalistischen Separatisten für eine aggressive Konfrontation instrumentalisiert wurde, der der Charakter eines Befreiungskrieges durch EU und USA nur dank opportunistischer Wahrnehmung eigener Interessen zugestanden wurde.

Der Autor führt systematisch und unter Nutzung bislang nicht ausgewerteter Quellen aus, wie die anfangs durchaus erfolgversprechende OSZE-Mission vor allem auf Betreiben der US- Regierung von der Funktion einer neutralen Observationsinstanz der internationalen Gemeinschaft in die Position eines Sachwalters kosovoalbanischer Sezession manövriert wurde, die ihrerseits lediglich Mittel zum Zweck amerikanischer Interessenpolitik war. Insbesondere die Untersuchung des sogenannten Massakers von Racak, mit dem eine wesentliche Weichenstellung für den Angriff der NATO vollzogen wurde, wird von Loquai als exemplarisches Beispiel für die Parteilichkeit der von den USA und Britannien maßgeblich kontrollierten KVM-Führung dargelegt. Die schnelle Bezichtigung der jugoslawischen und serbischen Regierung durch KVM-Chef William Walker, der Versuch, die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung der in Racak vorgefundenen Toten in diesem Sinne zu beeinflussen sowie die Bereitwilligkeit deutscher Medien, auf aggressive Weise gegen die serbische Seite aufzutrumpfen, werden von Loquai mit der Sachlichkeit des erfahrenen Sozialwissenschaftlers untersucht.

Loquais Studie ist durchweg von einer Präzision der Darstellung und Nüchternheit der Analyse bestimmt, die ihre Ergebnisse zu einer idealen Grundlage für das Formulieren weiterführender Fragen zum Zustandekommen dieses Krieges machen. Das Kapitel "Zur Methodik - Quellen, Informationen, Terminologie", in dem der Autor Einblick in seine Arbeitsweise und die Validität seiner Quellen gewährt, ist über die spezielle Thematik hinaus von Interesse, wird dort doch ein Maßstab an die Gründlichkeit politischer Analysen gelegt, der gerade hinsichtlich der in dem Buch zitierten Beispiele für die verzerrte Berichterstattung zum sogenannten Massaker von Racak dokumentiert, wie groß die Diskrepanz zwischen aufklärerischer und propagandistischer Intention sein kann.

Die von Loquai geschilderten Konsequenzen des Scheiterns der OSZE bei der Konfliktbewältigung im Kosovo hatte die unmittelbare Stärkung der NATO, die sich nach dem Ende der Blockkonfrontation in einer tiefen Legitimationskrise befand, zur Folge. Das veranlaßt nicht wenige Beobachter zu der Auffassung, daß der Jugoslawienkrieg vor allem zur Aufwertung der NATO als primäres Organ des internationalen Krisenmanagements geführt wurde. Zumindest läßt sich konstatieren, daß die Militarisierung der internationalen Politik seitdem erhebliche Fortschritte gemacht hat, und das ist nicht nur eine Folge der Ereignisse des 11. Septembers 2001. Auch wenn diese als Katalysator für ein vor allem von den USA ausgehendes Powerplay in der Weltpolitik gewirkt haben mögen, so berufen sich die Protagonisten einer entsprechenden Armierung der europäischen Außenpolitik immer wieder auf den angeblichen Erfolg bei der Krisenbewältigung auf dem Balkan.

Loquais Frage, "in welcher Position die OSZE sich heute befände, wenn es ihr gelungen wäre, den Kosovo-Konflikt zunächst auf niedrigem Gewaltniveau zu stabilisieren und in Jugoslawien einen demokratischen Wandel herbeizuführen", ist denn auch rein hypothetischer Natur. So dokumentiert der Autor den geringen Willen des grünen Außenministers Joseph Fischer, der in seiner Partei damals vorherrschenden Wertschätzung der OSZE Taten folgen zu lassen, er geht ausführlich auf die Obstruktion der Arbeit der KVM durch die US-Regierung wie die "Instrumentalisierung der OSZE durch und für die NATO" ein und er weist mit einem Zitat aus einem ihm vorliegenden Schreiben eines ehemaligen Mitglieds der OSZE- Mission auf einen besonders schwerwiegenden Vorgang hin:

Ich möchte noch erwähnen, dass mir von informierten Kollegen in der Mission nach Beginn der Luftschläge bestätigt wurde, dass einige KVM-Mitglieder die Mission zur Vorbereitung der Luftschläge benutzt hätten. Das hat mich im Nachhinein vor allem deswegen empört, weil die KVM vor allem die albanischen lokalen Mitarbeiter der KVM dadurch auf das höchste gefährdet hat. Einige lokale Mitarbeiter sind während des Krieges von Serben ermordet worden, allerdings weiß ich nicht wie viele.

Das legt nahe, daß an den aus verschiedenen Quellen stammenden Gerüchten, die von einer Unterwanderung der KVM durch amerikanische und britische Missionsmitglieder künden, deren Aufgabe nicht in der Schaffung von Frieden, sondern in der Vorbereitung des Krieges zugunsten der UCK bestand, etwas dran sein könnte. Wie die Geschichte der UNSCOM im Irak zeigt, wäre es schließlich nicht das erste Mal, daß der strikten Neutralität verpflichtete Missionen internationaler Organisationen in einem Konflikt Partei für eine der beteiligten Seiten ergreifen oder zugunsten Dritter, die ihre eigenen Absichten in dem betroffenen Krisengebiet verfolgen, aktiv werden. Der dadurch angerichtete Schaden an der Glaubwürdigkeit der Mediatoren ist angesichts der hegemonialen Absichten, die hinter ihnen stehende Staaten und Interessengruppen verfolgen, kaum wieder zu reparieren.

Hier bestände sicherlich noch einiger Untersuchungsbedarf hinsichtlich der KVM. Als internationale Organisation war die OSZE eben nur so sehr an der tatsächlich Lösung dieses Konflikts interessiert, wie es die sie maßgeblich bestimmenden Kräfte waren. Wenn man bei Loquai erfährt, daß die von Belgrad erhoffte Wiederaufnahme Jugoslawiens in die OSZE bei den maßgeblichen staatlichen Akteuren auf wenig Gegenliebe stieß, obwohl dies die Kooperation der jugoslawischen Regierung bei der Lösung des Kosovo-Konflikts im allseitigen Einvernehmen weiter begünstigt hätte, dann wird deutlich, daß der politische Willen für einen friedlichen Ausgang dieses Konflikts zumindest in Washington und Berlin kaum bestand.

Noch während der Luftangriffe auf Jugoslawien wurde der damalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, General Klaus Naumann, am 27. April 1999 in der "Neuen Zürcher Zeitung" mit den Worten zitiert, der Schutz der Kosovo-Albaner sei ein "nachträglich formuliertes Ziel" gewesen. Loquai weist darauf hin, "dass bei den NATO-Planungen zu keiner Zeit daran gedacht war, UCK-Ziele in die Zielliste aufzunehmen". Das von ihm dokumentierte Nachrücken der albanischen Separatisten in die von der jugoslawischen Armee aufgegebenen Stellungen wurde geduldet, während man der jugoslawischen Seite die Absicht unterstellte, die gesamte Provinz "ethnisch säubern" zu wollen. Wenn etwas dazu beitrug, die Kosovo-Albaner zu diesem Zeitpunkt in die Flucht zu schlagen, dann war es der Beginn der Luftangriffe der NATO, wie Locquai in einer Fußnote lakonisch anmerkt:

Die Auffassung, Luftangriffe würden den Menschen im Kosovo nicht helfen, bestätigte die Entwicklung der Flüchtlingszahlen. Am 23. März 1999, einen Tag vor Beginn der Luftangriffe, gab es in den Nachbarländern des Kosovo 69.500 Flüchtlinge, nach knapp einer Woche Luftkrieg mehr als eine halbe Million.

All dies sind angesichts der von nicht wenigen deutschen Völkerrechtlern vertretenen Ansicht, die NATO-Intervention wäre trotz des Fehlens eines UN-Mandats völkerrechtskonform gewesen, da sie der in der UN-Charta verankerten Verpflichtung der Staaten zum Schutz der Menschenrechte nachgekommen wäre, auch heute noch wichtige Informationen. Loquais Studie verhilft zu einem Einblick in Details der Vorgeschichte eines Krieges, die den Schluß, daß er bei entsprechendem Willen der internationalen Akteure vermeidbar gewesen wäre, allemal bestätigen. Dieser Wille war nicht vorhanden, sondern es ging zum einen um die Restauration der NATO als dominantes Element der europäischen und internationalen Sicherheitspolitik und zum andern um die Beseitigung der Bundesrepublik Jugoslawien als eigenständiger Staat, der sich den ordnungspolitischen Vorstellungen der EU wie USA widersetzte.

So verabschiedete der US-Senat am 30. Juni 1999 mit 97 zu zwei Stimmen bei einer Enthaltung den Foreign Operations, Export Financing, and Related Programs Appropriations Act 2000, in dem das schon damals als "Serbien-Montenegro" bezeichnete Jugoslawien als "terroristischer Staat" gebrandmarkt wurde. Die US-Regierung wird in dem Gesetz angewiesen, "Serbien-Montenegro" jede Form von materieller Hilfe zu versagen wie jede Teilnahme an internationalen Abkommen unmöglich zu machen. Explizit verlangt wurde vom US-Außenminister, "jede Übereinkunft zu blockieren, die Serbien-Montenegro die Teilnahme an der OSZE oder jeglicher Organisation, die der OSZE zugeordnet ist, erlaubte".

Auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul im November 1999 wurde die Bundesrepublik Jugoslawien nicht einmal als Beobachter zugelassen, statt dessen lud die norwegische OSZE-Präsidentschaft die serbischen Oppositionsführer Vuk Draskovic und Zoran Djindjic ein. Die OSZE hatte der jugoslawischen Regierung jegliche Legitimität entzogen, wurde der Regierung Milosevic doch in der Abschlußdeklaration unterstellt, die eigene Bevölkerung zu unterdrücken und ihre Menschenrechte zu mißachten. Die in der Deklaration von Istanbul geforderte Einhaltung der UN-Resolution 1244 für den Kosovo, die den an dieser Konferenz beteiligten Staaten selbst oblag, war schon damals Makulatur und hat sich vier Jahre später erst recht als frommer Wunsch erwiesen. Bezeichnenderweise beriefen sich die NATO-Staaten in Istanbul darauf, daß der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), der auf dem OSZE-Gipfel an die veränderte Lage auf dem eurasischen Kontinent angepaßt wurde, im Falle Jugoslawiens nicht verletzt worden sei, weil der Angriff durch die Vereinten Nationen legitimiert worden wäre und weil Jugoslawien seit 1992 kein OSZE-Mitglied mehr gewesen sei.

Diese über das vorliegende Buch hinausführenden Entwicklungen machen um so deutlicher, wie sehr die OSZE Spielball der führenden NATO-Staaten und Instrument eines hegemonialen Entwurfs war, in dem für ein postsozialistisches Jugoslawien kein Platz war. Eine Geschichte nicht nur dieses Konflikts, sondern der seitdem eskalierenden Barbarisierung der Weltpolitik, anhand derer sich zeigen ließe, "dass Möglichkeiten für eine friedliche Lösung des Konflikts nicht genutzt wurden, dass der Jugoslawien- Krieg weniger erfolgreich war, als ihn die Sieger darstellen, dass Krieg kein geeignetes Mittel ist, komplexe Konflikte zu lösen", wäre also noch zu schreiben. Es bleibt zu hoffen, daß die in ihrer Thematik bewußt begrenzte Studie "Weichenstellungen für einen Krieg", wie ihr Verfasser schreibt, "ein erster Schritt in einer möglichen Folge weiterer 'Aufarbeitungen' sein" wird.


Heinz Loquai
Weichenstellungen für einen Krieg
Internationales Krisenmanagement und die OSZE im Kosovo-Konflikt
Demokratie, Sicherheit, Frieden, Bd. 150
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2003
201 Seiten, 29,- Euro.
ISBN 3-8329-0150-7