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REZENSION/278: Wallerstein - Das moderne Weltsystem II (Soziologie) (SB)


Immanuel Wallerstein


Das moderne Weltsystem II - Der Merkantilismus

Europa zwischen 1600 und 1750



Im zweiten Band von Immanuel Wallersteins auf vier Teile konzipierten Hauptwerk - bislang sind nur drei erschienen - über die Entstehungsgeschichte des "modernen Weltsystems", wie er es nennt, befaßt sich der renommierte amerikanische Soziologe mit dem "langem" 17. Jahrhundert, jener Epoche zwischen Renaissance und Reformation auf der einen Seite sowie Aufklärung und Revolution auf der anderen. Diese sogenannte Übergangsphase zeichnete sich durch eine langanhaltende, wirtschaftliche Stagnation, welche die Konkurrenz unter den europäischen Großmächten erheblich verschärfte, aus. In jener Zeit übernahmen sich Spanien und dessen iberischer Nachbar Portugal mit ihren Kolonialunternehmungen in Lateinamerika, während die Staaten Mitteleuropas sich im Dreißigjährigen Krieg gegenseitig zerfleischten. Beide Entwicklungen führten zu einer Verschiebung des Zentrums der europäischen Wirtschaft nach Norden und Westen. Die (nördlichen) Niederlande, Frankreich und Großbritannien nutzten die Chance, sich zu jenen klassischen Nationalstaaten zu konsolidieren, deren Organisationsform bis heute ihren Vorbildcharakter erhalten hat.

Im Mittelpunkt des zweiten Teils von Wallersteins "modernem Weltsystem" steht der Merkantilismus. Kurz gefaßt basierte dieser auf der Annahme, daß sich Wohlstand und Macht einer Nation durch eine Steigerung des Exports und in der Folge des Besitzes von Edelmetallen am besten vermehren ließen. Mittels staatlicher Lenkung, des Hauptmerkmals des Merkantilismus, versuchte man die Landwirtschaft und die Manufakturen des eigenen Territoriums mit Zöllen und Tarifen zu schützen, die eigenen Handelsgesellschaften durch die Gewährung von Privilegien zu fördern, Bullion (Gold und Silber) anzuhäufen und Rohstoffe so preiswert wie möglich einzukaufen. Unter Hinweis auf die anhaltende Gelehrtendebatte über das Wesen des Merkantilismus im 17. Jahrhundert stellt Wallerstein fest, daß immerhin zwei Aspekte des Phänomens mehr oder weniger unbestritten sind:

Merkantilismus implizierte ökonomischen Nationalismus auf der Ebene staatlicher Politik und legte sein Hauptaugenmerk auf die Warenzirkulation, egal ob dies den Fluß von Edelmetall betraf oder die Erstellung von Handelsbilanzen (bilateral oder multilateral). Die ganze Diskussion dreht sich darum - und zwar sowohl zwischen damaligen Zeitgenossen als auch zwischen heutigen Analytikern -, wie sich das Verhältnis von 'Profit und Macht' tatsächlich gestaltete.
Wenn man den Standpunkt vertritt, ökonomischer Nationalismus sei die staatliche Politik des Schwächeren gegenüber den Stärkeren sowie zwischen Konkurrenten im allgemeinen, so übernimmt man damit lediglich eine konventionelle Auffassung. Wodurch sich das vorliegende Buch möglicherweise ein wenig unterscheidet, ist die These, daß Erfolg unter den Bedingungen merkantilistischer Konkurrenz in erster Linie von der Effizienz der Produktion abhing und daß das mittelfristige Ziel merkantilistischer Regierungspolitik stets darin bestand, die Gesamteffizienz im Bereich der Produktion zu erhöhen. (S. 38)

In den Niederlanden kommt es, nachdem man dort die spanische Herrschaft abgeschüttelt hat, laut Wallerstein zur Entstehung des "ersten kohärenten, industriellen Produktionskomplexes". Zu den wichtigsten Grundlagen des niederländischen Aufstiegs zur wirtschaftlichen Hegemonialstellung gehörten der Fischfang, der Schiffbau, das Quasimonopol über den Handel mit dem Baltikum und die Stellung Amsterdams als überragende Finanzmetropole. Zu den theoretischen Erläuterungen - etwa der Hegemonialrolle der Niederlande im 17. Jahrhundert - läßt es Wallerstein im gesamten vorliegenden Buch an konkreten Beispielen, welche den gewaltigen Marsch der Geschichte illustrieren, niemals fehlen. Bezüglich des niederländischen Schiffbaus, gekennzeichnet "durch einen hohen Mechanisierungsgrad und die Verwendung zahlreicher arbeitssparender Vorrichtungen (windbetriebene Sägewerke, mechanisch angetriebene Förderbänder hin zu den Sägen, Flaschenzüge, große Kräne, um schwere Holzbanken zu bewegen)", schreibt er:

Im Amsterdam gab es eine Reihe von Zulieferbetrieben: Seilereien, Zwiebackbäckereien, Schiffsausrüster sowie Erzeuger von nautischen Instrumenten und Seekarten. Für den Schiffbau selbst war Holz in großen Mengen erforderlich. Für ein einziges Kriegsschiff benötigte man schätzungsweise 2000 Eichenstämme, die jeweils zumindest 100 Jahre alt sein mußten, um die nötige Festigkeit zu besitzen; 2000 Eichen erforderten eine Waldfläche von ca. 20 Hektar. Dieses Holz stammte zu einem wesentlichen Teil aus dem Ostseeraum, und einer der Hauptgründe, warum die Niederländer diesen Geschäftsbereich an sich reißen konnten, war die Leistungsfähigkeit ihrer Textilproduktion. In der Folge erreichte man natürlich im Schiffbau eine beachtliche Effizienz, und wir werden noch sehen, daß die dominierende Stellung der Niederlande im Welthandel großteils darauf beruhte. Da neben dem Schiffbau auch noch andere holländische Wirtschaftszweige 'vollständig [von Gütern] abhingen', die auf dem Seeweg angeliefert wurden, müssen die Schiffe 'als echter Produktionsfaktor betrachtet werden'. Schiffbau war also Produktion von Produktionsmitteln. (S. 45f.)

Die Entwicklung der Niederlande, Frankreichs und Großbritanniens zum wirtschaftlichen Zentrum des "modernen Weltsystems", der "spektakuläre" Rückfall der einstigen Supermacht Spanien, das Abgleiten Mitteleuropas in die Semiperipherie, die "ökonomische Peripherisisierung" großer Teile Asiens, die Kolonisierung Nord- und Südamerikas und die Verwandlung Afrikas in eine Außenarena läßt sich jedoch nicht allein mit unterschiedlichen Resultaten im wirtschaftlich-produktiven Bereich erklären. Die zunehmende Qualifizierung der Ausbeutungsmechanismen im Innern - von Frondienst und Schuldknechtschaft zu Lohnabhängigkeit und Konsumententum - ermöglichte erst die Raubzüge und Eroberungen der Europäer in Übersee. Dies zeigt sich unter anderem anhand des Beispiels der in Amsterdam ansässigen Vereenigde Ooste-Indische Compagnie (VOC), laut Wallerstein der "Prototyp einer kapitalistischen Handelsgesellschaft", die nach Meinung des von ihm zitierten, niederländischen Historikers Pieter Geyl vor rund 400 Jahren in den an den Indischen Ozean grenzenden Ländern, dem heutigen Indien, Malaysia und Indonesien, "die Macht des Schwerts" repräsentierte.

Doch nicht nur das. Historikerrecherchen zufolge weisen die Handelsaktivitäten der berühmten VOC eine "über die Jahrhunderte insgesamt negative Bilanz" aus, was laut Wallerstein auf eine "innerholländische Einkommensumschichtung und Kapitalkonzentration ..., die im gigantischen Ausmaß von den Klein- hin zu den Großanlegern verlief", hindeutet. Der Turbokapitalismus, Franz Münteferings "Heuschrecken" und die Enron- und WorldCom- Betrügereien von heute lassen grüßen.

Während in der Neuen Welt Millionen von Angehörigen der traditionellen Jäger- und Sammlergesellschaften wegen "Uneignung" für die neuen Herrschafts- und Organisationsformen ausradiert und weitere Millionen Verschleppter aus Afrika auf den Latifundien und in den Bergwerken zur brutaler Zwangsarbeit im Dienste der westlich- kapitalistischen Zivilisation verurteilt werden, hebt in Schweden König Gustav Adolf das moderne Militärwesen aus der Taufe. Hier helfen die umfangreichen Kupfer- und Eisenvorkommen sowie die "altgermanische Militärtradition" des skandinavischen Landes. Nicht umsonst gibt Wallerstein dem französischen Historiker Claude Nordmann mit seiner These recht, wonach es Mitte des 17. Jahrhunderts im "semiperipheren" Schweden, das wie kein anderer Staat vom Dreißigjährigen Krieg profitiert hat, zur "ersten industriellen Revolution" gekommen ist. Bis heute hat Schweden seine Stärke in Sachen Rüstungsindustrie erhalten. Gustav Adolfs Militärreformen sollen bis zur Französischen Revolution Vorbildcharakter haben - unter anderem für Preußen, das sich im Laufe des im vorliegenden Buch behandelten Zeitabschnitts langsam zum modernsten und damit durchsetzungsfähigsten Staat Mitteleuropas entwickelt.

Eine der wichtigsten Erscheinungen des merkantilistischen Zeitalters stellt die durchgängige Rivalität zwischen England und Frankreich dar, die sich erbittert um die Nachfolgeschaft der Niederlande als führende Wirtschaftsmacht bekämpfen und bekriegen - u. a. im transatlantischen Handel, in Irland, in Nordamerika, in Indien. Zur vielleicht entscheidenden Weichenstellung kommt es 1688/1689, als im Zuge der sogenannten Glorious Revolution Wilhelm II. von Oranien Wilhelm III. von England, Schottland und Irland wird. Die damit erfolgte Stärkung protestantischer Kräfte durch die Niederländer ermöglicht es ersteren, mit ihren zahlreichen katholischen, Frankreich wohlgesonnenen Gegnern - den Anhängern des gestürzten Königs Jakobs II. - vor allem in Irland aufzuräumen und 1707 den Zusammenschluß Englands und Schottlands zum Vereinigten Königreich zu erzwingen. Gleichzeitig werden zu Anfang des 18. Jahrhunderts die Niederlande endgültig zum Juniorpartner des British Empire. Irland, dessen Söhne bis zum Frieden von Utrecht 1713 acht oder neun Regimenter in der französischen Armee stellten, wird dagegen zur englischen Garnison sowie zum verarmten und ausgebeuteten Lebensmittellieferanten. Wie der von Wallerstein zitierte Christopher Hill es formuliert: "Nach den Negersklaven war Irland das Hauptopfer jenes Systems von Navigationsgesetzen, das England zur Welthegemonie verhalf" (S. 309).

Für die heutige Zeit, in der sich die Weltwirtschaft ebenfalls in einer tiefen zyklischen Krise befindet, deren Ende gar nicht absehbar ist, verheißen die Lehren, die der Marxist Wallerstein aus der merkantilistischen Ära zieht, wenig Gutes. Während viele Historiker im 17. Jahrhundert einfach eine Krisenzeit erkennen, liefert Wallerstein eine weitgehendere Erklärung für die damals praktisch ununterbrochenen Kriege zwischen den europäischen Mächten:

Die Kontraktion des 17. Jahrhunderts trat innerhalb einer funktionierenden und sich entwickelnden kapitalistischen Weltwirtschaft auf. Es war die erste von vielen globalen Kontraktionen oder Depressionen, die dieses System heimsuchen sollten. Aber das System war bereits in den Interessen jener Schichten, die innerhalb der Weltwirtchaft politisch bestimmend waren, ausreichend verankert, und diese Schichten richteten ihre Energien grosso modo und als Kollektiv nicht darauf, das System zu beseitigen, sondern Wege zu finden, wie es sogar - oder vielleicht gerade - in einer Zeit wirtschaftlicher Kontraktion zu ihrem Vorteil funktionieren könnte. (S. 18)

Der vielleicht wichtigste dieser Wege war - und ist bis heute - für die Nutznießer des kapitalistischen Systems laut Wallerstein die Schaffung von neuen Ungleichgewichten oder die Verschärfung bereits bestehender:

Zwischen wachsendem Ungleichgewicht und Kontraktion sollte kein Gegensatz konstruiert werden. Während einer Kontraktionsperiode ist dieses Ungleichgewicht sogar ein zentraler Mechanismus des Kapitalismus, einer jener Faktoren, die eine Konzentration und erweiterte Kapitalakkumulation erlauben. (S. 19)

Diese und ähnlich fundierte Erläuterungen entlarven die neoliberalen Versprechungen, mit denen man über die Jahre von Politikern wie Ronald Reagan, Margaret Thatcher, Helmut Kohl, Tony Blair, Gerhard Schröder und Angela Merkel traktiert wird und denen zufolge die Lohnabhängigen und Sozialhilfeempfänger lediglich den Gürtel ein bißchen enger schnallen müßten, damit die Wirtschaft wieder in Fahrt komme und es allen wieder besser gehe, als reine Augenwischerei. Die Krise gehört zum System. Aus Sicht des Kapitals ist ihre Überwindung folglich gar nicht erst vorgesehen.

- 5. September 2005


Immanuel Wallerstein
Das moderne Weltsystem II - Der Merkantilismus
Europa zwischen 1600 und 1750
Aus dem Englischen von Gerald Hödl
Originaltitel: "The Modern World System II. Mercantilism and the
Consolidation of the European World-Economy"
Promedia Verlag, Wien 2004
595 Seiten
ISBN 3-85371-138-3