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REZENSION/281: Dallaire - Handschlag mit dem Teufel (Ruanda-Genozid) (SB)


Roméo Dallaire


Handschlag mit dem Teufel



Wenn ein Soldat, dem eine große Karriere vorausgesagt wurde und der bereits bis zum Generalleutnant aufgestiegen war, die militärische Leitung einer UN-Mission übertragen bekommt und im Anschluß an diesen Einsatz psychisch und physisch zusammenbricht, dann muß dabei etwas geschehen sein, das schwerlich mit dem Begriff "Friedensmission" in Einklang zu bringen ist. Roméo Dallaire, der Autor des Buchs "Handschlag mit dem Teufel", ist jener Karriereoffizier. Ihm wurde 1993 die UN-Mission für Ruanda (UNAMIR) anvertraut, hautnah hat er zwischen April und Juli 1994 den Völkermord an rund 800.000 Tutsi und moderaten Hutu miterlebt. Wieder zurück in seiner Heimat Kanada, fiel er bald in tiefe Depressionen, beging zwei Selbstmordversuche und hoffte, das Erlebte mit Alkohol zu betäuben. Bis er eines Tages, Ende Juni 2000, volltrunken, bewußtlos und eng zusammengekauert unter einer Parkbank in der Stadt Hull aufgefunden wurde. Das war der Tiefpunkt einer in Kanada weithin bekannten Persönlichkeit.

Inzwischen hat sich Roméo Dallaire wieder gefangen, wovon nicht zuletzt das vorliegende Buch zeugt. Heute ist er "trocken", hat sich verstärkt dem christlichen Glauben zugewandt, reist viel und hält Vorträge, wie zuletzt im September 2005 in London. Das Buch diente dem UN-Kommandanten, der schwere Kritik wegen seines angeblichen Versagens in Ruanda einstecken mußte, einerseits zur Richtigstellung der Ereignisse vor und während des Genozids, andererseits zur Überwindung seines ärztlich attestierten posttraumatischen Streßsyndroms, dessentwegen er vorzeitig den Dienst als stellvertretender Oberkommandierender der kanadischen Streitkräfte quittiert hat.

Das Buch erzählt von den Grausamkeiten, die Menschen anderen Menschen zufügen. Es berichtet von Jugendlichen, die Zigarette rauchend am Straßenrand sitzen und Pause machen, ihre Macheten neben sich, die Arme von Blut benetzt, vor ihnen ein Rettungswagen mit offenen Türen, aus denen zerhackte Leichen herausragen. Es erzählt von Ratten groß wie Hunde, vollgefressen aufgrund des Nahrungsüberangebots an menschlichen Leichen. Es erzählt von einem kleinen Kind, das inmitten eines Leichenbergs liegt und sich noch regt, in dunkler Nacht von Dallaire aufgenommen wird und ihm zwischen den Händen zu zerfallen droht, weil es von unzähligen Würmern und Maden, dessen unermüdliches Geschmause den Eindruck von Bewegung erzeugte, durchsetzt war.

Von solchen Erlebnissen, deren Augenzeuge Dallaire wurde, berichtet das Buch auf bedrückende Weise. Und doch, es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß sich menschliche Grausamkeit darin erschöpfte, daß jemand persönlich Hand anlegte und sich in blutigem Waidwerk erginge. "Handschlag mit dem Teufel" zeugt ebenso von einer anderen Grausamkeit, blutiger und mörderischer in ihrer Konsequenz als die Hiebe, mit denen Gliedmaßen vom Rumpf und Köpfe vom Hals geschnitten werden. Die Rede ist von der Grausamkeit des politischen Kalküls.

Darüber weiß der Soldat Dallaire anschaulich zu berichten. Ob Franzosen, Amerikaner oder Briten, ob Hutu-Milizen oder Tutsi- Rebellen, jeder war auf seine Weise daran beteiligt, daß der Völkermord so ablief, wie er sich anschließend darstellte: Innerhalb von 100 Tagen wurden in dem kleinen südostafrikanischen Staat Ruanda rund 800.000 Tutsi und moderate Hutu systematisch von Interahamwe (Hutu-Milizen) und anderen bewaffneten Hutu umgebracht. Dallaire hatte das sich anbahnende Unheil Monate zuvor kommen sehen und um Unterstützung gebeten, aber anstatt daß der Sicherheitsrat in New York das UNAMIR-Mandat erweiterte, erhielt dessen Kommandant aus dem UNO-Hauptquartier den ausdrücklichen Befehl, passiv zu bleiben, nur zu beobachten, auf keinen Fall versteckte Waffenlager auszuheben und Schußwaffen ausschließlich zur Verteidigung des eigenen Lebens einzusetzen und nicht etwa, um Zivilpersonen vor dem sicheren Tod zu bewahren.

Daran hat sich Dallaire nicht gehalten - er war ein schlechter Soldat. Nicht weil er einige seiner Leute, Schutzbefohlene oder allgemein den Friedensprozeß nicht gerettet hat, sondern weil er noch an Idealen festhielt, die in Ruanda dringend benötigt wurden, aber nicht gefragt waren. Ein guter Offizier hätte seine Befehle befolgt, Menschen in Not ruhigen Gewissens aufgegeben und sich im UN- Hauptquartier in Kigali verschanzt, bis das Töten ein Ende genommen hätte. Das entsprach jedoch ganz und gar nicht Dallaires Einstellung. Seine in diesem Buch geschilderte persönliche Betroffenheit wirkt in keiner Weise aufgesetzt.

UNAMIR besaß kein robustes Mandat nach Kapitel VII, sondern nur ein Beobachtungsmandat nach Kapitel VI der UN-Charta. Der Unterschied ist gewaltig. Er bedeutete unter anderem, daß die Blauhelme nicht selbst nachrichtendienstlich tätig werden durften. Somit waren sie darauf angewiesen, von westlichen Botschaften, Geheimdiensten und anderen Quellen mit Informationen versorgt zu werden. Das ist nicht geschehen. Alle Kriegsbeteiligten waren fast durchgängig besser informiert als der UN-Kommandant vor Ort. Dazu schrieb Dallaire an einer Stelle:

Die Franzosen, die Belgier und auch die Deutschen hatten Dutzende von Militärberatern auf allen Kommandoebenen der Armee und der Gendarmerie und unterhielten Ausbildungseinrichtungen in Ruanda. Seit meiner Rückkehr aus Kigali im August erreichten mich jedoch keinerlei nachrichtendienstliche Erkenntnisse. Nicht ein einziges Land war bereit, die UNO oder auch nur mich persönlich mit akkuraten und aktuellen Informationen zu versorgen. (S. 121)

Müßte man angesichts der Schwäche der UN-Mission nicht sagen, daß es besser gewesen wäre, wenn die Vereinten Nationen, die NATO, USA oder andere Staaten militärisch robust interveniert hätten, anstatt "neutral" zuzuschauen, wie eine vermeintlich von ethnischem Haß getriebene Volksgruppe eine andere auslöscht? Das würden die USA und Britannien und alle anderen Staaten, die sich in den letzten elf Jahren nach dem Ruanda-Genozid des Interventionismus befleißigt haben, sicherlich bejahen. Sie stellen es gern so dar, als sei militärisches Eingreifen die einzige Alternative zu Völkermord. Doch der Ruanda-Genozid hat eine lange Vorgeschichte. Er ist herzuleiten aus der Kolonialvergangenheit, in der die belgischen Verwalter die Pässe mit "Hutu" oder "Tutsi" stempelten und damit die ethnische Trennung überhaupt erst besiegelten, und er zeigte sich 1994 vielschichtiger, als die These vom ethnischen Haß zu erfassen vermag.

Allen Beteiligten war klar, daß das 1993 geschlossene Friedensabkommen zwischen der im ugandischen Exil aufgestellten Rebellenarmee Ruandische Patriotische Front (RPF) und der ruandischen Regierung von beiden Seiten abgelehnt wurde; alle wußten, daß die Kontrahenten sich auf den nächsten Waffengang vorbereiteten. Monate vor dem Genozid war bekannt, daß die Hutu Todeslisten über zu ermordende Tutsi aufgestellt hatten, und selbst der später exakt aufgegangene Plan der Hutu, belgische Blauhelmsoldaten zu töten, um die Weltgemeinschaft zum Rückzug zu bewegen, war bis zur UNO vorgedrungen. Ein Eingreifen wäre rechtzeitig möglich gewesen, wenn es darum gegangen wäre.

Die UN-Mission war im Sinne ihres Auftrags durch den UN- Sicherheitsrat auf ganzer Linie gescheitert. Das bedeutete jedoch nicht, daß die Auftraggeber tatsächlich ein Interesse am Gelingen der Mission besaßen. Im nachhinein entsteht vielmehr der Eindruck, daß die Aufstellung UNAMIRS im Sinne der Sicherheitsratsmitglieder USA und Großbritannien ein taktischer Schachzug war, durch den nicht einfach nur ihr Einflußbereich in Afrika ausgedehnt werden sollte, sondern der ihnen zudem den Vorwand lieferte, prinzipiell die im Westfälischen Frieden 1648 beschlossene Anerkennung der nationalen Souveränität zu Fall zu bringen. Das wird durch die völkerrechtswidrigen Angriffskriege unter angloamerikanischer Führung auf Jugoslawien, Afghanistan und Irak bestätigt.

Mit einem "Nie wieder Ruanda!" auf den Lippen schickten in den neunziger Jahren westliche Regierungen, einschließlich der deutschen, ihre Besatzungstruppen auf den Balkan, nachdem sie gut ein Jahrzehnt zuvor mit Hilfe von regional selektiven Wirtschaftsprogrammen in der Bundesrepublik Jugoslawien Wohlstandsunterschiede verstärkt und sezessionistische Tendenzen geschürt hatten. Erhellend ist in diesem Zusammenhang die Analyse eines glühenden Befürworters des Interventionismus, des US-Kolumnisten Michael Ignatieff. Er rechtfertigte den Angriff auf Jugoslawien wegen des Kosovo-Konflikts 1999 trotz fehlender Ermächtigung durch den Sicherheitsrat wie folgt:

Wenn man sich nur an die jüngsten und relevantesten Vorfälle hält, so hat das Scheitern des UN-Sicherheitsrats, in Ruanda wie auch in Bosnien einen Völkermord zu verhindern, es wichtig gemacht, dass Koalitionen von Mitgliedstaaten im Alleingang handeln können sollten, wenn ein Veto die internationale Gemeinschaft zum Komplizen des Bösen zu machen drohte. (Michael Ignatieff: Virtueller Krieg: Kosovo und die Folgen, Hamburg 2001, zitiert nach Michael Mandel: Pax Pentagon, Frankfurt am Main 2005, S. 161)

Diese Herleitung ist pervers: Ignatieff begründet die militärische Intervention und den Bruch des Völkerrechts mit dem Scheitern des Sicherheitsrates unter anderem in Ruanda und ignoriert dabei, daß der Sicherheitsrat von eben jenen Staaten gelähmt wurde, die anschließend ihren Anspruch auf militärische Intervention vortrugen und verwirklichten. In diesem Sinne leistete ihnen der Ruanda-Genozid gute Dienste. Aus der Sicht Dallaires dagegen mußte er sinnlos erscheinen, die Absichten der Mitglieder der höchsten UN-Instanz blieben ihm verschlossen. Erst später realisierte er, welche Funktion er in diesem niederträchtigen "Spiel" erfüllte:

Dieses Drama konnte sich nur mit Hilfe der Mitgliedsnationen des bloß scheinbar unparteiischen Weltgremiums namens UNO vollziehen. Geführt von den USA, Frankreich und Großbritannien, unterstützte und ermutigte die UNO letztlich den Völkermord in Ruanda. Kein Geld, das sie je spenden, keine Hilfe, die sie je aufbringen wird, kann ihre Hände vom ruandischen Blut reinwaschen. (S. 372)

Und noch schärfer in seiner Aussage wird der UNAMIR-Kommandant, wenn er schreibt:

Heute, da mit den Jahren langsam die zynischen Manöver Frankreichs, Belgiens, der USA, der RPF, der Regierungsarmee und anderer ans Licht gekommen sind, habe ich unweigerlich das Gefühl, dass wir ein Ablenkungsmanöver waren, ja sogar die Opferlämmer spielen mussten, damit die Staatsmänner sagen konnten, die Welt unternehme etwas, um das Morden zu stoppen. Tatsächlich waren wir nichts anderes als ein Feigenblatt. Als ich Ende der 90er Jahre, nachdem ich zum ersten Mal vor dem Arusha-Tribunal ausgesagt hatte, meinen persönlichen Tiefpunkt erreichte, geschah dies, weil mir schließlich klar geworden war, wie sehr man mich betrogen hatte. Ich hatte meine Leute angetrieben, wo immer möglich Menschenleben zu retten, aber im Vergleich zu dem geplanten Völkermord erwiesen sich unsere Anstrengungen als fast bedeutungslos. Und die ganze Zeit über war ich davon ausgegangen, wir seien hier, um die Krise zu lösen. (S. 471)

Dagegen ist die von manchen politischen Analytikern vorgetragene Erklärung für die Passivität des Sicherheitsrats, daß sich die USA nach dem Somalia-Debakel 1993 nicht schon wieder in Afrika engagieren wollten, nicht plausibel. Zwar hatte US-Präsident Bill Clinton am 2. Mai 1994 per präsidialer Order (PDD 25 - Presidential Decision Directive 25) festgelegt, daß Soldaten der Vereinigten Staaten von Amerika an keinen UN-Einsätzen teilnehmen dürften, die nicht unmittelbar den eigenen Interessen dienten, aber hinsichtlich des Ruanda-Genozids war gar keine Forderung nach Entsendung von US- Soldaten erhoben worden.

Es hätte genügt, wenn Washington und sein Verbündeter Großbritannien nicht den Sicherheitsrat blockiert hätten oder wenn UNAMIR noch vor Ausbruch der Massaker mehr Kompetenzen, mehr Soldaten und mehr funktionstaugliches militärisches Gerät erhalten hätte. Es hätte genügt, wenn Dallaires eindringlichen Appellen, geheime Waffenlager der Interahamwe ausheben zu dürfen, Folge geleistet worden wäre, und die Geschichte hätte einen anderen, wahrscheinlich weniger tragischen Verlauf genommen. Umgekehrt kam für alle direkt am Völkermord Beteiligten die eklatante Ohnmacht der UN-Mission einer unmißverständlichen Botschaft gleich: "Die Blauhelmtruppe braucht ihr nicht ernstzunehmen, sie genießt ja nicht einmal die Unterstützung des Sicherheitsrats."

Im Rückblick erscheint der Ruanda-Genozid wie eine gezielt herbeigeführte menschliche Katastrophe. Damit sie dieses Ausmaß annehmen konnte, mußten sich der Sicherheitsrat und das UN- Hauptquartier heraushalten, und das kann man nicht als passiv bezeichnen, sondern es handelte sich um ein höchst aktiv umgesetztes Interesse. Was das für die Blauhelmsoldaten vor Ort bedeutete, schildert Dallaire in diesem Buch detailgetreu und zeichnet es in teils penibler Sorgfalt nach. Er wußte damals noch nicht, daß die Mission keine Erfolgsgeschichte werden sollte. Das ging ihm erst später mit den geschilderten persönlichen Folgen auf. Der Genozid wurde aus geostrategischen Gründen zugelassen, er folgte einer anderen Logik als der des humanitären Anspruchs, wonach Leid aus der Welt zu schaffen sei.

Auf der einen Seite befand sich die französische Regierung, die sogar noch während der Massaker Waffen für die Hutu nach Kigali einflog, auf der anderen die US-Administration, die das Wort "Genozid" wochenlang nur intern verwendete, da ansonsten die Pflicht bestanden hätte einzugreifen, und die sich angeblich aus Kostengründen weigerte, das ruandische Radio Mille Collines mit einem Störsender auszuschalten, obgleich über jenes für die ruandische Bevölkerung wichtigen Kommunikationsmittels die Hutu-Milizen angefeuert wurden, in ihrer Arbeit (des Niedermetzelns) nicht nachzulassen, über das Todeslisten durchgesagt und Verstecke, in denen sich die "Kakerlaken" (gemeint waren die Tutsi) verkrochen hätten, genannt wurden und über das ebenfalls dazu aufgerufen wurde, den UN-Kommandanten Roméo Dallaire zu töten, sobald er von jemandem gesehen werde. Es steht außer Frage, daß im Hintergrund des Ruanda- Genozids zwei imperialistische Staaten unverhohlen um Hegemonie in Afrika rangen.

Darunter hatte die Zivilbevölkerung am meisten zu leiden. Aber es lag gewiß nicht in der Hand einer beklagenswert unterversorgten, nicht mal mit dem existentiell Nötigsten ausgerüsteten UN-Mission, die zudem während der laufenden Massaker noch auf eine Nottruppe von 270 Mann reduziert wurde, das Morden zu verhindern. Wie sollte sie die Machenschaften so einflußreicher Staaten wie der USA und Frankreich kontern? Wie hätte UNAMIR fähig sein sollen, den wirtschaftlichen Niedergang Ruandas seit den achtziger Jahren - Verfall der Kaffeepreise nach Deregulierungsmaßnahmen, hohe Staatsverschuldung, Währungsabwertung und andere makroökonomische Auflagen internationaler Finanzinstitute - und die dadurch angewachsene Not und den entsprechend aufgestauten Frust der Bevölkerung aufzufangen?

Die Auseinandersetzungen in Ruanda fanden auf einer ganz anderen Ebene statt. Die Blauhelmsoldaten waren zwar von dem Konflikt unmittelbar betroffen, aber die eigentlich bestimmenden Konfliktlinien verliefen außerhalb der Reichweite UNAMIRS. Der einzige Verlauf, auf den Dallaire unter günstigeren Voraussetzungen hätte Einfluß nehmen können, war das Gemetzel unmittelbar vor Ort. Aber mit 270 Mann einen Genozid verhindern? Fast ohne Fahrzeuge und immer knapp an Treibstoff, Menschen aus Kriegsgebieten retten? Mit Soldaten, die oft nicht genügend Wasser zum Trinken hatten, keine funktionstüchtigen Funkgeräte besaßen, keine Informationen aus dem UN- Hauptquartier erhielten und von ihren Gegnern mit Mörsergranaten belegt wurden, ohne entsprechend antworten zu können? Ausgeschlossen. Selbst auf diese Konfliktlinie, die Kämpfe in Kigali und im übrigen Ruanda, vermochten Dallaire und seine Leute nur sehr bedingt mäßigend einzuwirken.

Erst wenn das berücksichtigt wird, erschließt sich dem Leser des Buchs "Handschlag mit dem Teufel", warum der Ruanda-Genozid überhaupt stattgefunden hat und wie der "treue Soldat" Dallaire von den Verantwortlichen, hauptsächlich in New York, Washington, Paris und London, aber auch von Kagames Ruandischer Patriotischer Front, die offensichtlich mit den USA paktierte, kaltgestellt wurde. Dazu schreibt Dallaire:

Wäre ich ein argwöhnischer Mensch gewesen, hätte ich vielleicht eine Verbindung zwischen der obstruktiven Haltung der Amerikaner und der Weigerung der RPF erkannt, eine ansehnliche UNAMIR-Operation zu akzeptieren. Der Militärattaché der amerikanischen Botschaft war vor Ausbruch des Krieges bekanntermaßen regelmäßig zum RPF-Hauptquartier in Mulindi gefahren. Außerdem unterstützte eine große Tutsi- Diaspora in Nordamerika die RPF. (S. 419)

Die Untersuchungskommission der Organisation für Afrikanische Einheit kam in ihrem Bericht "Rwanda: The Preventable Genozid" (zu deutsch: Ruanda - Der vermeidbare Genozid) zu dem eindeutigen Ergebnis:

... während des gesamten Völkermordes untergruben amerikanische Machenschaften im Sicherheitsrat wiederholt alle Versuche, die UN-Militärpräsenz in Ruanda zu verstärken; letzten Endes erreichte kein einziger zusätzlicher Soldat und kein Stück militärische Ausrüstung das Land vor Ende des Völkermordes. (zitiert nach Michael Mandel: Pax Pentagon, Frankfurt am Main 2005, S. 162)

Auch der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali gelangt zu der Einschätzung:

... Albright verwendete die Bedingungen von PDD 25, um Druck auf die anderen Mitglieder des Sicherheitsrats auszuüben, damit die Entsendung eines Kontingents von 5500 Mann nach Ruanda verschoben wurde, bis ich sie überzeugen konnte, dass sämtliche der zahlreichen amerikanischen Bedingungen erfüllt worden waren ... Die Bemühungen der Vereinigten Staaten, die Entsendung einer schlagkräftigen UN-Truppe nach Ruanda zu verhindern, hatte dank der Unterstützung Großbritanniens Erfolg. Die internationale Gemeinschaft unternahm nichts oder nur wenig, während das Morden in Ruanda unvermindert anhielt. (ebenda, S. 163)

Es ist bemerkenswert, daß einige der Mitverantwortlichen für den Völkermord bei der UNO und in den USA anschließend die Karriereleiter hinaufstolperten. Das erscheint beinahe wie der Judas-Lohn für eine finstere Tat. US-Präsident Bill Clinton wurde 1996 in seinem Amt bestätigt (sicherlich nicht wegen Ruanda, aber das "Versagen" hat ihm zumindest nicht geschadet). Madeleine Albright, die damalige US- Botschafterin bei den Vereinten Nationen, wurde in der zweiten Amtszeit Clintons zur Außenministerin ernannt. Und der ghanaische Diplomat Kofi Annan, der 1994 bei der UNO einer der drei Leiter der UN-Hauptabteilung für friedenserhaltende Operationen und somit ein direkter Vorgesetzter Dallaires war, wurde Generalsekretär der Weltorganisation.

Später revanchierte sich Annan für seine Beförderung, indem er Ermittlungsdokumente unter Verschluß hielt, denen zufolge Mitglieder einer vom damaligen RPF-Rebellenführer und heutigen Präsidenten Ruandas eingesetzten Spezialeinheit ausgesagt haben sollen, daß sie auf Kagames Befehl hin am 6. April 1994 das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana und seines burundischen Amtskollegen Cyprien Ntaryamira abgeschossen hatten. Damit lösten sie den Beginn des Genozids aus. Diese Aussagen sind sicherlich höchst interessant, aber sie würden, falls sie bestätigt werden, natürlich dem vorherrschenden Schwarz-weiß-Bild widersprechen, demzufolge angeblich extremistische Völkermörder ihren eigenen Präsidenten eliminierten, weil sie seine versöhnliche Politik ablehnten, und nicht der Widersacher Habyarimanas und "Befreier" Kagame, der mit seiner Armee das Morden beendete. Bis heute wird bei der UNO der Deckel auf dem Topf gehalten, die brisanten Rechercheergebnisse sind im Tresor verschlossen. Auch der Verbleib des Flugschreibers der abgeschossenen Präsidentenmaschine wurde offiziell nie geklärt.

Frankreichs Einfluß auf Ruanda ist seit dem Sieg der RPF mit ihrem in Fort Leavenworth, US-Bundesstaat Kansas, militärstrategisch ausgebildeten, im englischsprachigen Uganda aufgewachsenen Kagame geschwunden. Dieser wirft Paris zurecht vor, mit den Völkermördern paktiert zu haben. Auf der anderen Seite ist Kagame keine Lichtgestalt. Im Gegenteil. Roméo Dallaire schreibt wiederholt, daß Kagame sehr viel mehr Mitglieder seiner Tutsi-Ethnie hätte retten können (S. 376, 498), und er vermutet, daß es dem RPF-Führer um die ganze Macht im Land gegangen war, nicht um einen Sieg mit anschließender Beteiligung an der Regierung.

Ein naheliegender Grund für das Nichteingreifen der USA und die Lähmung des Sicherheitsrats bestand folglich in der Unterstützung Kagames, aber nicht dergestalt, daß er einen schnellen Sieg davontrug, sondern daß es zum nachhaltigen Machtwechsel in Ruanda kam. Erst das enorme Ausmaß der Massaker wandelte die Rebellenarmee RPF "wundersamerweise" in eine Befreiungsarmee, und ein frankophoner Staat geriet unter den Einfluß der angloamerikanischen Kräfte. Von solchen Ränkespielen handelt das Buch Dallaires. Der saß nur geographisch an der Schnittstelle der verschiedenen Konfliktlinien, wurde aber von sämtlichen Entwicklungen überrollt.

Selbst das im tansanischen Arusha eingerichtete Ad-hoc-Tribunal für Ruanda, das den Auftrag erhielt, sämtliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die 1994 in Ruanda begangen wurden, zu verfolgen, hat bis heute keinen einzigen Tutsi aus der Armee Kagames angeklagt. Obgleich die RPF selbst einräumte, daß ihre Soldaten in ein Kloster in Kabgayi eingedrungen waren und einen Erzbischof, drei Bischöfe und zehn Priester getötet hatten (S. 471).

Alles in allem wird die Zahl der RPF-Opfer aus der Zivilbevölkerung auf 50.000 geschätzt. Als die frühere Chefermittlerin für das Ruanda- und das Jugoslawien-Tribunal, Carla del Ponte, mit Vorermittlungen gegen Tutsi begann, kündigte Kigali die Zusammenarbeit auf und behinderte sämtliche anhängigen Gerichtsverfahren des Tribunals. Der Einfluß der ruandischen Regierung ging sogar so weit, daß del Pontes Mandat für das Ruanda- Tribunal nicht verlängert wurde. Ihr Nachfolger, Hassan Bubacar Jallow, hat die Ermittlungen gegen die Tutsi wieder eingestellt.

Es ist dem Buch "Handschlag mit dem Teufel" deutlich anzumerken, daß dessen Autor in militärischen Kategorien denkt. Er beschreibt den Ruanda-Genozid mit den Augen eines Offiziers. Diese Sichtweise hat ihre Grenzen und ihre Vorzüge. Zu letzteren zählt, daß er sehr deutlich das schier unglaubliche Desaster seiner UN- Friedensmission aufzeigt. Die Beschränktheit seiner professionellen Analyse hingegen zeigt sich an der unzureichenden Konsequenz seiner Einsicht, daß er nur Bauer auf dem Schachbrett des Weltgremiums war. Bei aller Kritik an der UNO und den Mitgliedern des Sicherheitsrats scheut Dallaire offenbar die Schlußfolgerung, daß das Militär grundsätzlich ein Mittel zur Aufrechterhaltung der Herrschaft ist und daß sich daraus logisch ableiten läßt, daß es sich gegen die Beherrschten richtet. Dennoch, das einzige, das Dallaire sich vorwerfen könnte, wäre seine Gutgläubigkeit. Er hatte seinen Job ernst genommen und lief damit gegen Mauern - eine schmerzhafte Erfahrung, die schon viele Idealisten, nicht nur beim Militär, in Widerstreit mit den dominierenden gesellschaftlichen Kräften machen mußten.

Kritiker am Verhalten der UNO und des Sicherheitsrats argumentieren mitunter, daß es in Ruanda keine wichtigen Rohstoffe gab und daß die einflußreichen Staaten deshalb nichts von einem Genozid in dem Land wissen wollten. Diese Analyse greift zu kurz. Wie weiter oben erwähnt, stand hinter dem Hutu-Tutsi-Konflikt die Rivalität Frankreichs und der USA, wobei sich letztere durchsetzten. Das gilt auch und gerade für die Sprache. Immer mehr Ruander sprechen Englisch anstatt wie bisher Französisch. Dieser Wandel hält bis heute an, nicht nur in Ruanda, sondern auch in anderen frankophonen Ex- Kolonien. Die Grande Nation verliert an Einfluß, die einzige verbliebene "Supermacht" USA dagegen baut ihre Hegemonie weiter aus. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß sich globalstrategische Interessen lediglich auf die Sicherung von Rohstoffen beschränkten.

Abschließend sei Dallaire in einem Punkt widersprochen. Wenn er schreibt, daß er sich die Völkermörder nicht als gewöhnliche Menschen, die sich entsetzlicher Untaten schuldig gemacht hatten, vorstellen konnte, und daß sie in seinen Augen "durch ihre Verbrechen zu Unmenschen" geworden waren, "zu Maschinen aus Fleisch und Blut, die nur noch so taten, als seien sie auch menschlicher Regungen fähig" (S. 517), dann muß diese Einschätzung in Frage gestellt werden. Wenn die Völkermörder "Unmenschen" sind - worin unterscheiden sie sich von Menschen? Wie viele Kriege muß es noch geben, daß Augenzeugen wie Dallaire, die gesehen haben, zu was Menschen fähig sind, begreifen, daß ihre Unterscheidung einer Rationalisierung des Umstands entspringt, daß der Mensch eine Spezies ist, die ihr Überleben wie keine andere derart vernichtend zu Lasten der eigenen Art zu sichern versucht - beispielhaft nachzulesen in Roméo Dallaires "Handschlag mit dem Teufel".


Roméo Dallaire Handschlag mit dem Teufel.
Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda.
Mit einem Nachwort von Dominic Johnson
Zweitausendeins, Frankfurt am Main, April 2005
651 Seiten
ISBN 3-86150-724-2