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REZENSION/299: Rainer Fischbach - Mythos Netz (Ideologiekritik) (SB)


Rainer Fischbach


Mythos Netz

Kommunikation jenseits von Raum und Zeit?



Der Begriff des Netzes ist in der Vielzahl seiner Zuweisungen und Deutungen ein zentrales Element jeder Doktrin, die sich innovativ und modern gibt, um zu demonstrieren, daß sie auf der Höhe herrschender Verwertungsverhältnisse ist. Auch wenn deren destruktive Wirkung tagtäglich an der Verelendung eines Großteils der Menschheit zu studieren ist, suggerieren die an diesen etymologisch im Sinne von "Geknüpftes" auf "nähen" zurückzuführenden Begriff ankoppelnden Ideologien einen Zuwachs an individueller wie administrativer Befähigung, der eigenen Probleme wie globaler Mißstände durch Verknüpfung disparater Elemente und unverbundener Strukturen per elektronischer Informationstechnik Herr zu werden.

Wer "vernetzt", also in den informationellen Stoffwechsel integriert ist, wird jedoch nicht minder als in vorelektronischen Zeiten durch das dominante Produktionsverhältnis bedingt, als es ihn in die Lage versetzt, sein Leben zu bewältigen. Daß die von namhaften Computerherstellern ausgegebene Formel, die Welt läge einem quasi zu Füßen, weil sie "at your fingertips" disponibel sei, auf gegenteilige Weise wahr wird, erlebt nicht nur das Millionenheer von Datatypisten bei geisttötender, körperlich durchaus verschleißender und im Sinne der betrieblichen Überwachung und tayloristischen Intensivierung des Arbeitsprozesses perfektionierter Bildschirmarbeit. Auch der prototypische Konsument, der im Internet die Welt der tausend Möglichkeiten erschließen will und dabei zum Modul einer Produktionsweise wird, die einen Großteil früher kostenlos gewährter Dienstleistungen auf die Kunden umlagert, ihren Nutzern erhebliche Vorleistungen kognitiver wie apparativer Art abverlangt und die Atomisierung des Gesellschaftswesens zum Partikel eines Abstraktums fördert, das seine sozialökonomischen Bedingungen mit der Netzmetaphorik unangreifbar macht, kann einer Fremdbestimmung erliegen, die die Möglichkeit des eigenen Zugriffs desto überzeugender simuliert, je bereitwilliger und bescheidener sich der Nutzer in die industriell vorgeprägte und administrativ abgeschöpfte Lebenswelt des virtuellen Surrogats fügt.

Schließlich versteckt sich hinter dem Schlagwort der "digital divide" die zunehmend brutale Realität eines weltweiten Verteilungskampfes, der durch die mangelhafte Verfügbarkeit moderner Informationstechniken in den Ländern des Südens verschärft, aber keinesfalls bedingt ist. Ihr liegt ein Gewaltverhältnis zugrunde, das von höchst profanen Interessen bestimmt das Leben der Menschen materiellen Nöten und körperlichen Zwängen aussetzt, die der angeblich durch informationstechnische Entstofflichung zu erreichenden Negation der Physis wirksam widerstehen.

Der Informatikexperte Rainer Fischbach liefert mit seinem Buch "Mythos Netz" die überfällige Abrechnung mit dem ideologischen Überbau der Informations- und Telekommunikationstechnik, dessen hegemonialer Anspruch sich längst nicht mehr auf die datenelektronische Infrastruktur und deren Nutzung beschränkt. Die Netzmetapher nimmt heute in vielen Theorien zu politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen einen zentralen Platz ein, ohne daß der qualitative Fortschritt ihrer Verwendung ersichtlich würde. Ein solcher ist bestenfalls im herrschaftstechnischen Sinne festzustellen, indem konkrete sozialökonomische Widerspruchslagen oder machtpolitische Strategien hinter einer Nebelwand aus Indifferenz verschwinden.

Auch wenn Fischbach, dessen publizistische Arbeit dem Leser der viel zu wenig beachteten Wochenzeitung Freitag bereits vertraut sein dürfte, einleitend erklärt, sein Buch beanspruche "weder, dem Thema eine verbindliche Systematik zu geben, noch, es zu erschöpfen" (S. 12), geht er der Netzmetapher in vier thematisch weit gefaßten Kapiteln und einer die Stoßrichtung seiner Kritik zuspitzenden Nachbetrachtung mit Verve und Akribie auf den Grund. Ausgesprochen erfrischend an der Lektüre ist die Streitbarkeit, mit der sich der Autor mit den Hohepriestern der Technophilie, den Herolden des Konsumismus und den Apologeten der neoliberalen Marktwirtschaft anlegt. Bei aller, insbesondere die informationstheoretischen Ausführungen auszeichnenden Komplexität des Textes und dem wissenschaftssprachlichen Charakter der verwendeten Terminologie lebt das Buch von der Parteinahme des Autors für die Entwicklung menschenfreundlicher Lebensformen. Dafür einzutreten gibt es zweifellos mehr als genug gute Gründe, gerade weil die Formierung einer emanzipatorischen Gegenkraft durch eine Vielzahl widriger Umstände behindert und nicht zuletzt durch das Ideologem des Netzes korrumpiert wird.

Fischbach hat auf 265 Seiten Text, die durch Quellenangaben, einen Sach- und einen Personenindex leserfreundlich ergänzt werden, wesentliche Fragen zu aktuellen politischen Entwicklungen, zu Mensch und Gesellschaft formierenden Strukturen wie zu naturwissenschaftlichen Prämissen aufgeworfen und präzisiert. Die Nutzung des Netzbegriffs für den Terrorkrieg wie die Kriegführung überhaupt unter besonderer Berücksichtigung des Mythos von der militärischen Unangreifbarkeit des Internet, für Forschung und Wissenschaft nach Maßgabe des hybriden Leitbegriffs der "Wissensgesellschaft", für das optimale Allokation durch entfesselte Kapitalmacht suggerierende Marktideal der Neoklassik, für die Konzeption gesellschaftlicher Infrastrukturen wie das Verhältnis metropolitaner Zentren zu ihrer ländlichen Peripherie wird in essayistischer Form auf ihre materielle Basis zurückgeführt und kontrovers diskutiert. Außer zu fundierter Ideologiekritik führt die Analyse des Netzbegriffs zur Formulierung strukturbildender Prinzipien informationstechnischer wie verkehrs- und raumplanerischer Art, die für damit befaßte Experten und Politiker von einigem Interesse sein dürften.

Anhand vieler Zitate tonangebender Theoretiker der sogenannten Informationsgesellschaft dokumentiert der Autor die propagierten Auswirkungen der Vernetzung auf Mensch und Gesellschaft und arbeitet den Widerspruch zwischen der Theologie der informationstechnischen Virtualisierung materieller Bedingungen und deren konstitutivem Charakter heraus. Fischbach versucht, die Bedingtheit des Menschen durch die physikalische Axiomatik Raum, Zeit und Masse auf emanzipatorische Weise handhabbar zu machen, indem er die enthusiastische Botschaft von der Aufhebung physischer Zwänge per datenelektronischer Beschleunigung bis hin zur angeblichen Ort- und Zeitlosigkeit der puren Information auf die Füße ihrer materiellen Determination stellt. In seiner umfassenden Reflexion des Netzbegriffs läßt er kaum ein Gebiet aus, in dem man sich dieser sinnträchtigen Metapher bedient, um im Kern genau das zu tun, was der Anspruch auf Raum-, Zeit- und Stofflosigkeit bestreitet. Die unterstellte Aufhebung physischer Belastungen durch die Informationstechnik erweist sich als Qualifikation ihrer höchst ungerechten Verteilung auf den Schultern derjenigen Menschen, die sich gegen das Aufbürden weiterer Verluste am wenigsten wehren können.

Im Rahmen der Analyse dieses Strebens nach der geringsten Belastung durch die verzehrenden Folgen ökonomischer Anforderung stellt Fischbach interessante Überlegungen zum Begriff des Wertes an:

Der Traum vom Geld machenden Geld, von seiner instanten Verwandlung und Rückverwandlung in alles und aus allem bricht am Widerstand der Natur, an der Notwendigkeit lebendiger, sei es nun unmittelbar gegenständlicher oder mittelbar Gegenstände bewegender Arbeit in Raum und Zeit, ohne welche Natur nicht anzueignen ist, ohne die kein Wert entsteht. Der Widerstand der Natur zwingt das Kapital dazu, sich zu entäußern, die Form von Gegenständen und der Arbeit an solchen anzunehmen. Dieser Widerstand ist zugleich Hindernis der Verwertung und Konstituens von Wert, denn ohne ihn, ohne den erst zu überwindenden Widerstand der Natur, ohne Ungleichgewicht, ohne die Differenz von Mangel und Fülle, von hier und dort, von früher und später, gibt es auch keinen Wert: wo alles immer schon bereit steht, alles in alles mühelos und instant verwandelbar ist, hat nichts mehr einen Wert. Im Fluchtpunkt aller Kapitalbewegung, dort wo alle Dinge sich verflüssigen, hebt der Wert sich selbst auf, kollabiert folglich auch das Kapitalverhältnis.
(S. 162)

Spönne man die Überlegung Fischbachs ein wenig weiter, dann ließe sich der Wertbegriff in seinem positivistischen Gehalt eines Platzhalters für erstrebenswertes, in Gebrauch zu nehmendes und in Eigentum zu überführendes Gut vollends als Unwert negieren. Wenn der Autor Raum, Zeit und Masse kraft des ihnen inhärenten Widerstands, den sie dem Versuch des Menschen entgegenstellen, dem entropischen Verlauf Dauer und Beständigkeit abzugewinnen, zur wertschöpfenden Grundvoraussetzung naturhafter Bedingtheit erhebt, stellt sich die Frage, inwiefern dieser axiomatischen Trinität überhaupt etwas anderes als die Widrigkeit physischer Lebenserhaltung zu entnehmen wäre. Übersetzt auf die sozialökonomische Realität ist jedenfalls nichts anderes zu erkennen, als daß Not und Verbrauch das bestimmende Moment der Vergesellschaftung darstellen und kapitalistische Wirtschaft demgemäß die Produktion von Mangel und nicht seine Aufhebung betreibt.

Wenn, wie Fischbach darlegt, "Vollständiges Gleichgewicht (...) ein anderer Ausdruck für das Ende allen Lebens, aller Entwicklung" (S. 160) und die Schaffung von Wert eine alleinige Folge unterschiedlicher, das heißt schlußendlich gegen den anderen Menschen gerichteter Voraussetzungen und Verfügbarkeiten ist, dann wäre es im Sinne einer emanzipatorischen Position naheliegend, jeden Versuch der Harmonisierung herrschender Widerspruchslagen und deren damit einhergehende Bestätigung und Vertiefung, die auch mit dem affirmativen Gebrauch des Wertbegriffs betrieben wird, zu streichen, um das Problem des Überlebens zulasten des anderen Menschen nicht mehr als Frage mehr oder weniger gerechter Verteilung, sondern des Teilens und Vergleichens überhaupt anzugehen. Das entschiedene Eintreten für die Sache der Verlierer mag aufgrund der systematischen Diskreditierung sozial gerechter Lebensformen unpopulärer denn je sein, gerade deshalb ist es auch unverzichtbarer denn je.

Fischbachs Buch enthält eine Fülle von Anregungen zum produktiven Umgang mit der Verklärung des Marktes, dessen Profiteure weit mehr auf die namenlosen Bauern, Lohnsklaven, Hilfskräfte und Fabrikarbeiter in aller Welt angewiesen sind, als die finanzmarktgenerierte Geldvermehrung glauben macht, mit einer Kulturindustrie, die die mit emotional induzierter Konditionierung auf Territorial- und Herdenverhalten betriebene Ablenkung von den drängenden Problemen der Menschheit zum alle Aufmerksamkeit vereinnahmenden Programm erhoben hat, und einer Gesellschaft, deren Atomisierung gerade auch mithilfe der permanenten informationstechnischen Verfügbarkeit ihrer Mitglieder durchgesetzt wird.


Rainer Fischbach
Mythos Netz
Kommunikation jenseits von Raum und Zeit?
Rotpunktverlag, Zürich, 2005
304 Seiten, Euro 22,00
ISBN 3-85869-301-4

24. Januar 2006