Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/353: Anna Bergmann - Der entseelte Patient (Medizinkritik) (SB)


Anna Bergmann


Der entseelte Patient

Die moderne Medizin und der Tod



Auf die Frage, ob sich die geringe Bereitschaft zur Organspende nicht durch die Angst erklären ließe, man erhalte womöglich nicht das ganze Ausmaß an medizinischer Hilfe zur Lebenserhaltung, weil das Interesse an der Organernte im Vordergrund stehe, erklärte ein Transplantationsmediziner, daß dies schon deshalb nicht der Fall sein könne, weil es genau die gleichen medizinischen Maßnahmen seien, die einerseits zum Lebenserhalt und andererseits zum Erhalt der Wiederverwendungsfähigkeit der Organe eingesetzt würden. Diese Aussage kann potentielle Organspender kaum beruhigen, besagt sie doch im Kern, daß es aus klinischer Sicht gar keinen Unterschied zwischen der Sorge um das Leben des Patienten und den Zugriff auf seine Organe gibt.

Um so mehr gilt, daß die Elimination einer klaren Grenze zwischen Leben und Tod durch die Einführung des sogenannten Hirntods allen Anlaß zur Sorge um das eigene Wohl im Falle lebensbedrohlicher Zustände gibt. Da die Explanteure ein profundes Interesse daran haben, die zu verpflanzenden Organe so lebensfrisch wie möglich zu erhalten, täuscht sich der Patient nicht in der Vermutung, daß dies sein Interesse, so lange wie möglich am Leben zu bleiben, tangiert. Unter dem moralischen Druck, Menschenleben zu retten, sind potentielle Organspender wie ihre Angehörigen mit einer Entscheidung konfrontiert, die für sie schon deshalb nachteilig ausgeht, weil sie in jedem Fall, also der Zustimmung zum Organtransfer wie des Bestehens auf die körperliche Integrität im Sterben, von einer ethisch larvierten Ratio technischer Vernutzung bestimmt wird.

Die biopolitisch konstituierte Verwertungsordnung, in der das utilitaristische Prinzip des höheren Nutzens für die größere Zahl das Eigeninteresse des einzelnen aus dem Feld schlägt, ist das Ergebnis eines zivilisatorischen Prozesses, in dem der Übergang von den animistischen und sakralen Bewältigungspraktiken der Vormoderne zur aufklärerischen Rationalität der Moderne weit weniger antagonistisch verlief, als es die geschichtsphilosophische These vom humanistischen Fortschritt suggeriert. Wie ein roter Faden durchzieht der Raub des Menschen am Menschen die verschiedenen Epochen seiner sozialen, gesellschaftlichen und staatlichen Organisation. Selbst die Ausbeutung der Natur richtet sich primär gegen das Überleben der eigenen Art, wie bis heute praktizierte Destruktionsprozesse zeigen, deren Intention - und nicht etwa nur Begleiterscheinung - in der Zerstörung der Lebensgrundlagen anderer liegt.

Gewalt kann daher weit mehr als ein die Zeiten verbindendes, Sinn stiftendes und Kultur schaffendes Moment verstanden werden denn die altruistischen Motive, die angeblich die Höherentwicklung des Menschen antreiben. Überleben richtet sich im Wortsinne gegen den anderen, und die zusehends Geltungsmacht erlangende Logik sozialdarwinistischer Gesellschaftsentwürfe bestätigt, daß der zivilisatorische Prozeß nicht synonym sein muß mit einer Besserstellung aller Menschen. Dabei macht die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft und klinischen Praxis keine Ausnahme, sondern in der technischen Objektivierung der menschlichen Physis manifestiert sich diese Gewalt auf die dem jeweiligen Stand gesellschaftlicher Produktivkraftentwicklung eigene Weise.

Die Kulturwissenschaftlerin Anna Bergmann schlägt in ihrem Buch "Der entseelte Patient - Die moderne Medizin und der Tod" einen Bogen von 500 Jahren, um

... den Mythos und das Selbstverständnis der Moderne als durchweg rationale, von Magie und Religion befreite Kultur in Frage zu stellen und die Verdrängung der Geschichtsmächtigkeit von Natur auf die im kulturellen Gedächtnis verankerten traumatischen Erfahrungen mit Krankheit und Tod zu beziehen. (S. 15)

Für ihre dabei geübte Zivilisationskritik beruft sie sich nicht nur auf die Bilanz einer zusehends brutalen Zurichtung des Menschen durch gesellschaftliche Rituale des Strafens, ökonomische Praktiken der Ausbeutung, politische Manöver der Machtausübung und militärische Formen kriegerischer Durchsetzung, sondern unterstellt dem Zivilisationsprozeß grundsätzlich, davon geprägt zu sein, "mit Hilfe magischer und christlicher Praktiken Gewaltformen zu entwickeln", deren

... im Rahmen ihrer Verwissenschaftlichung und Verstaatlichung gewonnenes rationales Gesicht" das Ausmaß der Gewaltanwendung keineswegs reduzierte, sondern dieses "auf Staat und Wissenschaft übertragen hat und von ihnen monopolisiert wurde. (S. 20)

Die an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder lehrende Privatdozentin belegt diese These im ersten Teil des Buches anhand einer Untersuchung des allgemeinen Umgangs mit dem Tod, die ihren Anfang in den klimatisch und epidemisch bedingten Katastrophen des ausgehenden Mittelalters nimmt. Die Regulation massenhaft auftretender Todesfälle durch neue Formen des Überwachens und Isolierens brach mit tradierten Formen des sozialen Zusammenhalts und sakralen Totenkults und führte in bislang letzter Konsequenz zur Einrichtung des Lagers als Verwahr- und Vernichtungsanstalt technokratisch organisierter Gesellschaften.

Angesichts des Klimawandels, der damit einhergehenden Verknappung von Nahrungsmitteln sowie moderner Pandemien ist die Untersuchung der wetter- wie mangelbedingten Genese historischer Seuchen sowie daraus resultierender Formen institutioneller Seuchenbekämpfung von durchaus aktuellem Interesse. So ist es noch nicht lange her, daß Politiker die Internierung von AIDS- Infizierten verlangten oder die sichtbare Tätowierung von Virenträgern diskutiert wurde. Auch die historischen Praktiken der Quarantäne, die Bergmann vorstellt, sind keineswegs nur von akademischem Interesse, finden sie sich doch in eugenischen Konzepten der Elimination genetisch "minderwertigen" Lebens wie der sozialmedizinisch verfügten Ausgrenzung Randständiger wieder. Für Bergmann

... erfolgte im Warschauer Ghetto, in zu Tötungsanstalten umfunktionierten Krankenhäusern und in Konzentrationslagern nach dem Modell der Quarantäne eine Reinszenierung der jahrhundertelang mit jedem Seuchenzug von neuem eingeübten Isolationsmethoden, des Massengrabes, der Räucherung und des Verbrennens. (S. 23)

Im zweiten Teil widmet sich die Autorin ausführlich der Entwicklung der modernen Medizin unter dem Gesichtspunkt fortschreitender Fragmentierung und Objektivierung des menschlichen Körpers. Sie schildert die Geschichte des Anatomischen Theaters und siedelt den Ursprung der medizinischen Sektionspraxis in mittelalterlichen Hinrichtungspraktiken und der dabei zum Zuge kommenden Opferlogik an, die aus Exekutionen öffentliche Rituale kollektiver Entschuldung und Bannung der Todesfurcht machte. Die Zergliederung der Leiche erfolgte gerade vor dem Publikum des Anatomischen Theaters nur bedingt aus wissenschaftlichem Interesse, ebenso fand, wie der sakrale Charakter der Inszenierung belegt, das katholische Bedürfnis nach Buße und Sühne hier Befriedigung:

Mit dem Segen der Kirche wurde die als christliche Praxis verstandene anatomische Forschung in ein Zeremoniell eingebettet, das in der ersten Phase den Gesetzen der Strafrituale und anschließend denen des Totenkults folgte: Auf der Basis der Hinrichtungslogik, die eine Totalvernichtung des Malefikanten anstrebte, erlangte die moderne Medizin das Verfügungsrecht über die Leichen exekutierter Menschen. Wenn auch unter einer völlig anderen Zielsetzung, so zerstörten doch Anatomen den Leichnam des Hinrichtungsopfers in einer Manier, die sonst nur dem Henker als Mittel der Bestrafung vorbehalten war. (S. 205)

Bergmann schließt aus den sakralen Elementen der frühen medizinischen Sektionspraxis auf einen berufsständischen Ethos des Anatomen als "Bemächtiger des Todes" (S. 207), der den Leichnam durch Zergliederung und Skelettierung in ein von sterblicher Materie freies Präparat verwandelte, um so den Blick auf das Leben entscheidend zu prägen und der medizinischen Weltanschauung zu unterstellen. Die auch heute noch etwa durch die Beteiligung von Ärzten und Pflegern an Folter und Exekution zu bezeugende Nähe der medizinischen Wissenschaft zur sanktionierenden Staatsgewalt findet einen bezeichnenden Ausdruck in der aus China berichteten Praxis, zum Tode verurteilte Delinquenten nicht nur sofort nach ihrer Hinrichtung zwecks Verwertung ihrer Organe auszuweiden, sondern auch die Art und Weise der Exekution vom Erhalt der Funktionstüchtigkeit bestimmter Gewebe abhängig zu machen.

Doch man braucht kein derartiges Extrem medizinischer Verwertung strafrechtlicher Praktiken anzuführen, um den im dritten Teil des Buches dargestellten "Zusammenhang von Heilen und Töten als Strukturmerkmal der medizinischen Erkenntnisweise" zu illustrieren. Die Autorin geht ausführlich auf wissenschaftliche Forschungspraktiken ein, für die die Tötung von Menschen zwar nie ausdrücklich legitimiert, doch unter dem Primat der Forschungsfreiheit und einer utilitaristisch argumentierenden Bioethik weitreichend toleriert wurde. So könne das Labor

... als ein quasi rechtsfreier Raum gelten, in dem der Ausnahmezustand herrscht, der außerhalb des normalen Moral- und Wertesystems steht und seine Rechtfertigung durch das Fortschrittsparadigma erfährt. (S. 24)

Spektakuläre Großtaten wie die Transplantation von Affenköpfen oder das Aufziehen eines fremden Gesichtes, das Annähen neuer Gliedmaße oder die lebensgefährliche Trennung sogenannter siamesischer Zwillinge, die Organentnahme bei gebärfähigen, als hirntot diagnostizierten schwangeren Frauen oder die Gewinnung von Samenzellen aus einer Leiche machen denn auch vor allem als mediales Faszinosum und nicht etwa fragwürdige Entuferung therapeutischen Handelns Furore.

Der den medizinischen und pharmazeutischen Forschungsbetrieb legitimierenden Bioethik spricht Bergmann kategorisch jede Gültigkeit hinsichtlich des beanspruchten Schutzes von Patienten vor fremdnütziger Forschung ab, indem sie deren Aufgabe darauf reduziert,

... für das in der anatomischen Erkenntnismethode liegende Strukturelement der Gewalt Ausnahmeregelungen zu finden und diese mit kulturellen Sittlichkeitsvorstellungen zu vereinbaren. (S. 222)

Beim Opfern von Menschen für den Fortschritt der Medizin gehen religiös grundierte Heilserwartung und säkularer Utilitarismus auf der Basis orakelhafter Statistik eine zwecknützige Verbindung ein, in der das sozialdarwinistische Selektionsprinzip trotz aller Beschwörungen, jeder auch nur im Ansatz erfolgenden Annäherung an die Vernichtungspraktiken des NS-Regimes entgegenzutreten, Urständ feiert.

Wie Bergmann nachweist, wurde die medizinisch und psychiatrisch legitimierte Ausgrenzung sozial Randständiger zum Zwecke ihrer Verwendung in Menschenversuchen schon lange vor der NS-Zeit diskutiert. "Entartete", "antisoziale" Elemente und "Gesellschaftsfeinde" sollten auf diese Weise zum kollektiven Nutzen beitragen, so eine bereits im 19. Jahrhundert unter Sozialingenieuren kursierende Idee, die in den medizinischen Experimenten an KZ-Häftlingen auf brutalste Weise verwirklicht wurde. Trotz der dort im Namen der Wissenschaft praktizierten Grausamkeiten an lebenden Menschen kann nicht die Rede davon sein, daß die konzeptionellen Grundlagen und ideologischen Rechtfertigungen der Menschenversuchspraxis beseitigt worden wären.

Untersucht man maßgebliche Stationen der ethischen Legitimation medizinischer Forschung wie die Bioethikkonvention des Europarats, ist unschwer zu belegen, daß das Interesse einer räuberischen Überlebensordnung über den Anspruch des einzelnen Menschen auf Unversehrtheit insbesondere dann, wenn er aufgrund körperlicher und geistiger Einschränkungen als "nichteinwilligungsfähig" gilt, obsiegt. Gerade dort, wo der einzelne aufgrund eines Geburtsfehlers, einer chronischen Erkrankung oder altersbedingter Gebrechlichkeit als Produktivfaktor ausfällt und als ausschließlicher Kostenfaktor eingestuft wird, wo er also aufgrund seiner Schwäche auf besonderen Schutz angewiesen wäre, werden mit windigen ethischen Parametern wie denen des "Lebenswerts", des "Bewußtseins" oder der "Person" Kriterien der Selektion installiert, die das individuelle Lebensinteresse dem sozialökonomischen Kalkül nachordnen oder der Wiederverwertungslogik der Transplantationsmedizin preisgeben.

Bereits in dem zusammen mit Ulrike Baureithel verfaßten, 1999 erschienenen Buch "Herzloser Tod: Das Dilemma der Organspende" hat Anna Bergmann fundamentale Kritik an der Umdefinition des Todes zum Zwecke einer reichhaltigeren Organernte geübt. Im vorliegenden Werk spitzt sie ihre Kritik vor dem Hintergrund der Zergliederungspraxis und Opferlogik der historischen Anatomie, die bereits versuchte, Sterben und Tod durch das mechanistische Weltbild des Kartesianismus aus der Einbettung in ein integrales humanes Selbstverständnis zu lösen, um die unbeseelten Körper ihren Zwecken unterwerfen zu können, zu.

Anhand der Fortschritte der Intensivmedizin, die die technischen Voraussetzungen zum Erhalt des Lebens über den Ausfall der Spontanatmung hinaus schuf, und der so spektakulären wie als Experiment am lebenden Menschen fragwürdigen Pioniertaten der Organverpflanzung in den sechziger Jahren schildert Bergmann, wie die Vorverlagerung des Todes in das Leben hinein durch eine funktionelle und partikuläre Betrachtungsweise, die dem Zugriff auf die Organe des Patienten und nicht dem Interesse an seinem Leben entsprungen ist, ermöglicht wurde. Am sogenannten Hirntoten manifestiert sich der Übergang vom originären Anspruch der Medizin, sich stets für das Leben des Patienten einzusetzen, zur Praxis fremdnütziger Verwertung, wie sie bereits aus der experimentellen Forschung bekannt war.

So hält eine an kannibalistische Praktiken gemahnende Therapieform Einzug in den klinischen Alltag, die die aus unmittelbarer sinnlicher Erfahrung geborene Vernunft der Angehörigen wie des Pflegepersonals auf eine harte Probe stellt. Wo bislang aufgrund eindeutiger Todeszeichen wie des Stillstandes des Herzens und Atems, der spezifischen Blässe der Haut und des Verendens jeglicher Motorik des Bewegungsapparates, des weiteren der Totenstarre und der darauf folgenden Verwesungsprozesse kein Zweifel am Ableben des Patienten bestehen konnte, hat man es nun mit zwar künstlich beatmeten, aber lebenswarm durchbluteten Körpern zu tun, die sogar zu körperlichen Bewegungen in der Lage sind. Daß diese ebenso als bloße "Reflexe" eingestuft werden wie die vegetativen Reaktionen, die der Einsatz chirurgischer Instrumente provoziert und die normalerweise als Ausdruck einer Schmerzempfindung gewertet werden, ist die Folge eines funktional differenzierten Menschenbilds, das den Sitz des Bewußtseins in den höheren Hirnteilen ansiedelt und damit eine vertikale Ordnung reproduziert, die ihre Legitimität aus entsprechend organisierten Herrschaftsformen oder dem räuberischen Verhältnis zwischen Mensch und Tier bezieht.

Dieses Konstrukt, das den Rest des Körpers zu einer Form animalischer Existenz degradiert und damit ebenso zur Verwertung freigibt wie ein Schlachtvieh, bedroht nicht nur das Leben aller Komapatienten und anenzephal geborenen Kinder, sondern öffnet mit seiner selektiven, nach Nützlichkeitskriterien gestaffelten Hierarchie menschlicher Organsysteme und Lebensmanifestationen die Tür zu weiteren Dequalifizierungen, die, wie etwa in der um sich greifenden Praxis der Euthanasie zu beobachten, die Tötung nicht mehr benötigter Menschen legitimieren können. Wer wollte schon auf der Grundlage in sich widersprüchlicher neurologischer und medizinischer Konzepte garantieren, daß sich im Limbo des zwischen Leben und Tod bedingt Gestorbenen nicht Grauenhaftes ereignet? Was auf den sogenannten Hirntoten dort als ohnmächtig zu erleidendes Schicksal wartet, entzieht sich so sehr jedem Erfahrungshorizont, wie der erste Eindruck am Bett einer beatmeten "Leiche" unmißverständlich besagt, daß es sich bei dem Urteil, dieser Mensch sei gestorben, um eine zweckrationale Übereinkunft handelt.

Rein theoretisch wäre nicht auszuschließen, daß sich eines Tages für Organentnahmen verantwortliche Ärzte ebenso vor einem Gericht für ihr Tun verantworten müßten, wie es einige der für die Beseitigung "unwerten Lebens" im NS-Staat verantwortlichen Mediziner seinerzeit tun mußten. Tatsächlich ist dies kaum zu erwarten, da die Praxis der Organverpflanzung von einem breiten Konsens der ärztlichen Berufsverbände, des akademischen Wissenschaftsbetriebes, der zuständigen Bioethiker und Politiker getragen wird. Zudem wird durch eine umfassend orchestrierte PR- Strategie verhindert, daß der kannibalistische Tabubruch den ohnehin vorhandenen Widerwillen verstärkt, sich nach dem Ableben, von dem die meisten Menschen nicht wissen, daß es sich längst nicht mehr um den Tod ihrer Vorstellung handelt, den Begehrlichkeiten der Explanteure zu überlassen. So findet die "Behandlung" als hirntot diagnostizierter Patienten in einer hochgradig arbeitsteiligen Struktur statt, mit der eine tragfähige Basis zur Übernahme der nie ganz zu leugnenden moralischen Schuld gewährleistet wird; die Organe werden mit Hilfe einer aufwendigen Logistik an die Empfänger übermittelt, um das Bemühen um eine gerechte Verteilung zu dokumentieren; die die Organspende bewerbende PR-Strategie bedient sich einer Verharmlosung der Hirntodproblematik und der Konsequenzen für den Organempfänger, die die Unwägbarkeiten des Sterbeprozesses, die vielen gesundheitlichen und seelischen Probleme, die aus der die Abstoßung des neuen Organs unterdrückenden Immunsuppression und des Lebens mit einem fremden Organ folgen, umfassend ausspart.

Bergmann versäumt nicht, auf den systematischen Charakter der Bezichtigung hinzuweisen, mit der jeder, der sich der Organspende verweigert, moralisch zum Mörder an denjenigen Menschen wird, die ohne seine Niere oder sein Herz nicht weiterleben können. Der daran aufgezäumte Anspruch auf die Vergesellschaftung des eigenen Körpers wäre allerdings grundlegender zu kritisieren, als ihn auf eine unheilige Allianz aus utilitaristischer Wissenschaft und christlicher Moral zurückzuführen. Anstelle einer Medizin, die den Menschen nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse "wie eine von der Umwelt abgeschnittene Maschine" modellhaft verallgemeinert und rekonstruiert, sondern die seinen Leib im Rahmen ihres Verwertungsinteresses zergliedert, also die Vollständigkeit seiner Handlungseinheit und Lebensform zerstört und ihn damit praktisch entseelt, verlangt Bergmann nach einer Herangehensweise, die "die komplexe Wechselbeziehung zwischen Umwelt, körperlichen und seelischen Vorgängen zur Voraussetzung ihrer Erkenntnisweise macht" (S. 322).

Daß sich dieser Wunsch in einer Welt, in der Millionen Menschen nicht einmal basistherapeutische Behandlungsformen und einfachste Formen der Notfallmedizin zur Verfügung stehen, während gleichzeitig Unsummen in die Entwicklung einer Privilegiertenmedizin gesteckt werden, deren Ergebnisse niemals auf die Masse der Menschen übertragbar wären, in der Millionen Menschen verhungern und verdursten, während ein reger Organhandel auch noch das Fleisch von den Knochen der Armen zieht, erfüllt, ist kaum anzunehmen. Laut der Autorin wurde der Begriff des Patienten, der auf das lateinische "pati" - "(er)leiden, sich gefallen lassen, (er)dulden, hinnehmen" - zurückgeht, einst in Italien und Frankreich für Hinrichtungsopfer verwendet. Analog dazu wurde er in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in medizinischen Schriften gebräuchlich, und heute werden als hirntot diagnostizierte Menschen trotz der Tatsache, daß ihr Körper fremdnützigen Interessen unterworfen wird, in der klinischen Praxis nicht als Leichen, sondern als Patienten geführt. Es ist an der Zeit, daß sich Patienten - und damit alle Menschen - von der ihnen aufgeherrschten Verfügbarkeit emanzipieren und sie der Behauptung eines Lebenswertes, von dem ohnehin nur die Rede sein kann, wenn er in Frage gestellt wird, die Unteilbarkeit ihrer sozialen Autonomie entgegenstellen.

Bergmanns kulturwissenschaftlicher Ansatz eröffnet interessante Einblicke in die Genese einer medizinalen Verfügungsgewalt, der das Überleben zu Lasten anderer ein grundlegendes Formprinzip zum Erhalt der eigenen gesellschaftlichen Stellung wie der Etablierung sozialdarwinistischer Strukturen ist. Er greift überall dort zu kurz, wo das dokumentierte Raubinteresse nicht auf die Füße einer materialistischen Gesellschafts- und Wissenschaftskritik gestellt wird, die dem Werden eines im Sinne der Verfasserin ganzheitlichen und beseelten Menschen vorausgehen müßte, um haltbare Ergebnisse erzielen zu können. Zudem wäre die Einbindung der Sterbehilfedebatte in die Themenstellung "Die moderne Medizin und der Tod" wünschenswert gewesen.

Unbenommen davon ist das Buch jedem, der dem überbordenden Gültigkeitsanspruch medizinischer Erkenntnisse und der sich darauf berufenden Definitionsmacht der sozialpolitischen Expertokratie auf den Grund gehen will, wärmstens zu empfehlen. Die Quellenlage und weitere Erläuterungen werden in einem 122 Seiten starken Anhang ausführlich dokumentiert, was schon deshalb erforderlich ist, da grundlegende Kritik an der medizinischen Wissenschaft an Hochschulen heute nur noch von einer kleinen Minderheit geübt wird und daher besonders gut belegt sein muß.

08.10.2006


Anna Bergmann
Der entseelte Patient
Die moderne Medizin und der Tod
Aufbau-Verlag, Berlin, 2004
455 Seiten
ISBN 3-351-02587-4