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REZENSION/358: Redaktion Brockhaus - Literatur (Lexikon) (SB)


Lexikonredaktion Brockhaus


Dr. Hildegard Högen (Projektleitung)

Literatur
Schriftsteller, Werke, Epochen, Sachbegriffe



Nicht nur ein kompetenter Lesebegleiter ...

Das Thema "Lesekrise" ist spätestens seit dem PISA-Schock in aller Munde. In Deutschland wachsen Projekte und Aktionsveranstaltungen zur Leseförderung wie Pilze aus dem Boden, von Veranstaltungen in Bibliotheken und Literaturhäusern und Empfehlungskatalogen in den Medien bis zu Netzwerken von Vorlesepaten und Arbeitskreisen "Freies lesen" in den Schulen. Ebenso vielfältig werden Argumente angeführt, die für das Lesen sprechen: Lesen fördere den Spracherwerb, biete Gesprächsanlaß, schaffe Vertrauen zu den Eltern, erweitere das Weltbild. Der große öffentliche Aufwand, mit erhobenem Zeigefinger zum Lesen zu ermahnen, hat jedoch bisher wenig bewirkt, nur sechs Prozent aller Deutschen greifen abends lieber zum Buch als zur TV- Fernbedienung.

Spezialisierte man gar die Themenstellung auf die Frage "Wer liest denn heute noch 'Literatur'?", sähe die Statistik noch alarmierender aus. Denn es besteht die Gefahr, daß das belletristische bzw. literarische Lesen zugunsten des informativen Lesens zurückgeht. Jugendliche widmen sich nicht mehr dem konzentrierten Lesen längerer Texte, dafür erfassen sie den Inhalt einer Webpage oft schneller als ihre Eltern. Wichtig ist nur noch die Information, nicht ihre Auswertung. Hypertexte verleiten im Vergleich zu linearen Texten (in Büchern) zu bloßem Konsum und zum Sammeln, statt zum Entwickeln einer Argumentation. Es fällt schwerer, die Aufmerksamkeit auf inhaltliche Probleme und größere Zusammenhänge zu richten, was nichts anderes heißt, als daß das Problembewußtsein abnimmt. Das wirkt sich auch auf das Lesen gedruckter Texte aus, die heute nicht mehr von vorne bis hinten durchgelesen, sondern nur noch überflogen werden. Dabei sind das Vor- und Rückblättern im Buch, sein Fassungsvermögen, die Möglichkeit, es zu transportieren, sein Vorteil, ohne Drähte, Schaltpläne, Stromkreise und Batterien zu funktionieren, nicht vernetzt oder angeschaltet werden zu müssen, nahezu unschlagbar.

Kein Wunder, daß die Klassiker der deutschen Literaturgeschichte immer mehr in Vergessenheit geraten. Kaum ein Leser bedient sich noch der literarischen Überlieferung, denn die Einsicht, warum man sich noch auf Kenntnisse über alte sprachliche Zeugnisse des Denkens und Handelns - d.h. Literatur - konzentrieren sollte, ist fast verlorengegangen, ebenso wie die Mühe, sich in die Geschichte des deutschen Sprachsystems einzudenken, was allerdings die Ausdrucksmöglichkeiten erweitern würde.

Auch die von Jahr zu Jahr sich steigernden Ermunterungen in den Feuilletons der großen Tages- und Wochenzeitungen, sich mit literarischen Studien intellektuelle, philosophische und politische Denkweisen zugänglich zu machen und nicht nur um der Weltflucht und des Tagtraums willen zu lesen, können zwar das Vorhaben stärken, konkreter sind sie aber nicht.

In Wirklichkeit gilt: Literatur kann nur durch sich selbst überzeugen. Sie ist nicht dazu da, Lebenswirklichkeiten nachzuplappern, zu überhöhen oder Berufskarrieren zu begründen. Sie ist etwas Ernsteres. Sie ist eine echte Alternative, keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern eine Gegenwirklichkeit, mancher sagt: die eigentliche Wirklichkeit. Nur in großer Literatur sind vergangene Zeiten gegenwärtig, nur hier ist das Innere eines anderen für uns erfahrbar, nur hier können wir uns selbst als Fremde begegnen, nur hier sind Anarchie und Subjektivität wirklich zu Hause. Was wüssten wir vom Judentum, was vom Christentum oder den anderen Religionen ohne Literatur?

(aus: "Zeichen und Wunder, gute Bücher bilden nicht nur Herz und Verstand: Sie machen auch glücklich", von Iris Radisch, DIE ZEIT Nr.51, 11.12.2003)

Ein Stück entschiedener - denn er versteht sich als Lesebegleiter -, moralfrei und unaufdringlich überzeugend, wenn auch im wahrsten Sinne des Wortes ein "wuchtiger" Beitrag von 960 Seiten zum Thema, ist das Brockhaus Lexikon "Literatur". Seine Stellungnahme: "Lesen ist eine unverzichtbare Kulturtechnik, notwendig zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben" (S. 474). Es versteht sich als "ein Muss für alle Bücherwürmer, aber auch für Menschen, die sich in Ausbildung und Beruf mit Literatur befassen" (Presseinformation).

Nimmt man das Lexikon zur Hand, folgt man, verführt durch Layout und inhaltliche Struktur, immer vertiefender den Stichworten.

Wer gern liest, wird aber noch weitaus mehr Fragen haben: zu Fachbegriffen, zu Epochen, zu Stilrichtungen und, nicht zuletzt, zu den Werken der Weltliteratur. (aus dem Vorwort)

Das Konzept ist wegen des umfangreichen Stoffes, aus dem zwangsläufig eine Auswahl präsentiert werden muß, gewagt: Dieser Band vereint eigentlich vier verschiedene Bereiche aus der Literaturwissenschaft, zu denen jeweils regalmeterweise Lexika herausgekommen sind, nämlich Autoren- und Werklexika, Literaturgeschichten (Epochen) und Sachwörterbücher der Literatur. Für den Leserkreis ist die Auswahl jedoch gelungen, sie deckt mehr als nur die Grundkenntnisse in den Bereichen ab und ist so akzentuiert, daß sie den aktuellen Fragestellungen entspricht. Zudem ist ein Nachschlagewerk in Buchform auch heutzutage noch zum Gewinn umfassender Eindrücke und zur Leistung des Behaltens und "Begreifens" im wahrsten Sinne des Wortes "griffiger" als das entsprechende elektronische Medium. Das Wort "begreifen" erinnert treffend daran, daß etwas mit den Händen zu greifen, der Tastsinn, eine ältere Form des Lernens ist als der visuelle Vorgang, der für sich allein genommen (am Bildschirm) die Lernqualität einschränken kann.

Insgesamt 4.000 Stichwörter sollen das Lesen begleiten und fördern, darunter sind 3.000 Biographien von Schriftstellern, auch Gegenwartsautoren, zu finden. 1.200 Abbildungen und Tabellen machen die "Literatur" anschaulich. Zudem gibt es 24 doppelseitige, reich illustrierte Sonderartikel, die Begriffe der Literatur und des Literaturbetriebs beleuchten, z.B. "Bibliotheken - Sammlungen kollektiven Gedächtnisses", "Film und Literatur - Illustration oder Transformation", "Kitsch - Ein 'Echo der Kunst?'", "Literaturkritik - Zwischen Werk und Publikum", "Literaturzeitschriften - Organe des Literaturbetriebs", "Neue Medien - Von Lyrikmaschinen und Hypertexten", "Verlage - Literatur als Ware" und "Zensur - Überwachung der öffentlichen Äußerung", um nur einige zu nennen.

Des weiteren stellen 24 Verweistafeln zu den großen Epochen der Literatur diese in ihren historischen Kontext und bieten verwandte Begriffe zum Nachschlagen an. 150 hervorgehobene Infokästen präsentieren die Hauptwerke der Weltliteratur (entweder Inhalt, besondere Bedeutung oder Wirkungsgeschichte) und 120 Infokästen gibt es zu Hintergründen aus der Literaturgeschichte.

Abgesehen von diesen eher das Auge ansprechenden Akzenten beim Durchblättern lohnt es sich, gezielt Stichwörter aufzuschlagen, die oft umfangreicher sind als die doppelseitigen Sonderartikel, an denen zudem die durch die Kürze etwas schlagwortartig geratenen Begrifflichkeiten stören (wie "Grenzziehung und Dekonstruktion"). Zum Beispiel findet ein Leser, der entweder durch einen Schriftsteller, einen Heftroman oder einen Comic auf das Genre Sciencefiction aufmerksam geworden ist und mehr darüber wissen will oder Anregungen zum Weiterlesen sucht, mehr als nur die Definition, Hintergründe, die literaturgeschichtliche Entwicklung und Trends, sondern auch gleich eine Stellungnahme, nämlich daß dieses Genre oft eine politische Funktion erfüllt und allein schon durch seine historische Entwicklung als ein ernstzunehmender Teil der sogenannten "gehobenen" Literatur anzusehen ist.

Wer auch mal Gedichte lesen will und eventuell etwas fassungslos vor dem Inhalt eines Geschenkbandes steht, der findet gleich eine vierseitige Einführung zum Thema "Lyrik" mit diversen Querverweisen, so daß die literarische Gattung vertrauter wird und möglicherweise sogar neugierig macht.

Die Sachbegriffbeiträge sind ausführlich und aktualisiert. Etwas kürzer fallen bei der Menge die Autorenporträts aus. Ihre Sprache unterscheidet sich zudem unangenehm von der gut verständlichen Sprache der Sachbegriffe. Zum Beispiel endet der kurze Beitrag zum Literatur-Nobelpreisträger von 2006, Orhan Pamuk, in unverständlichem literaturwissenschaftlichen Kauderwelsch:

Pamuk, Orhan, türkischer Schriftsteller, * Istanbul 7.6.1952; reflektiert in seinen Romanen die Frage nach der Identität des Individuums. Er steht dabei nicht in der Tradition des engagierten Realismus der türkischen Republik, vielmehr ist sein Werk ironisch-distanziert, historisierend, surreal, symbolistisch und bewußt eklektisch, die Komposition polyphon und heterogen. (S. 620 f)

Wer hat nun eine Vorstellung von der Schreibweise dieses hochprämierten Autoren?

Die kleine Schriftgröße ermöglicht sehr viel Inhalt. Trotzdem ist der Brockhaus "Literatur" auch bei komplizierten Fragestellungen nicht schwierig zu handhaben. Durch die übersichtliche Struktur und ein akzentuiertes Layout, dem man Absicht und Erfahrung anmerkt, findet sich der Benutzer gut zurecht und wird nicht zuletzt von den zahlreichen Bildern darüber hinaus noch zum Weiterblättern verführt. "All diese konzeptuellen Besonderheiten dienen einem einzigen Zweck: dem Leser beides zu bieten - ästhetischen Genuss und intellektuelle Urteilskraft." (aus dem Vorwort)

Zuletzt bleibt nur noch anzumerken, daß der Brockhaus "Literatur" in seiner 3. aktualisierten Auflage ein Profi darin ist, die oben angesprochene Lesekrise überwinden zu helfen, und wer andere vom Abenteuer "Literatur" überzeugen will, der kann ihn als reiches Anschauungsmaterial weiterempfehlen. Was allerdings auch das verführerischste Literatur-Lexikon dem Benutzer nicht abnehmen kann, ist das Lesen der Literatur selbst.

26.10.2006


Lexikonredaktion Brockhaus, Dr. Hildegard Högen (Projektleitung)
Der Brockhaus Literatur
Schriftsteller, Werke, Epochen, Sachbegriffe
3., aktualisierte Auflage
4.000 Stichwörter, 1.200 Abbildungen und Tabellen
Bibliographisches Institut und F.A. Brockhaus AG
Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2007
960 Seiten, Euro 49,95
ISBN-10: 3-7653-3133-3
ISBN-13: 978-3-7653-3133-6