Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/409: Mearsheimer & Walt - Die Israel-Lobby (SB)


John J. Mearsheimer & Stephen M. Walt


Die Israel-Lobby

Wie die amerikanische Außenpolitik beeinflusst wird



Im März 2006 löste die Veröffentlichung des Artikels "The Israel Lobby" von John Mearsheimer und Stephen Walt in der London Review of Books über den Einfluß pro-israelischer Gruppen in den USA auf die Nahostpolitik Washingtons eine Kontroverse aus, die bis heute an Heftigkeit nichts eingebüßt hat. Ursprünglich war der Artikel im Auftrag der liberalen US-Politzeitschrift Atlantic Monthly geschrieben worden, die ihn jedoch nach der Fertigstellung vermutlich aus Angst vor dem Verlust von Abonnenten und Werbekunden plötzlich nicht mehr drucken wollte. Das sonderbare Verhalten der Verantwortlichen bei der Atlantic Monthly und die aufgeregte Reaktion auf den London-Review-of-Books-Artikel, der weltweit für Schlagzeilen sorgte, beweisen die Richtigkeit der Kernthese von Mearsheimer und Walt, nämlich daß in den USA eine offene und ehrliche Auseindersetzung über die Nahostpolitik von chauvinistischen Verfechtern der Militärallianz mit Israel nach allen Regeln der Kunst blockiert wird.

Neu ist diese These nicht. Was jedoch den letztjährigen Artikel und das dieser Tage gleichzeitig in mehreren Sprachen erschienene Buch zum selben Thema so explosiv macht, ist die Tatsache, daß es zum erstenmal zwei der führenden Politikwissenschaftler der USA gewagt haben, die Dinge endlich beim Namen zu nennen. John Mearsheimer ist R. Wendell Harrison Distinguished Service Professor für Politikwissenschaften und Leiter des Programms für internationale Sicherheitspolitik an der Universität von Chicago. Er hat mehrere Bücher verfaßt, darunter "The Tragedy of Great Power Politics". Stephen Walt ist Belfer Professor für internationale Beziehungen an der John F. Kennedy School of Government der Universität Harvard und Autor von "Taming American Power: The Global Response to U. S. Primacy".

Wie man an den Titeln beider Bücher erkennen kann, gehören Mearsheimer und Walt zur Schule der Realisten, die sich um den langfristigen Erhalt amerikanischer Macht sorgen und diese am besten durch Diplomatie und Zusammenarbeit in multilateralen Zusammenhängen gesichert sehen. Das Buch "Die Israel-Lobby" ist folglich eine offene Kampfansage an die Adresse der Neokonservativen, die für militärische Stärke und eine unilaterale Mißachtung der Vereinten Nationen und internationaler Abkommen plädieren, sobald diese den Aktionsradius Washingtons und Tel Avivs einzuschränken drohen, und deren abenteuerliche Empfehlungen seit mehr als sechs Jahren von der Regierung George W. Bush in die Tat umgesetzt werden. Folglich dürfte es einen nicht wundern, daß die Hysteriker, die Mearsheimer und Walt nun "Antisemitismus" unterstellen, praktisch dieselben Kommentatoren sind, die seit den Anschlägen vom 11. September 2001 die USA und Israel in einem manichäischen Überlebenskampf gegen den sogenannten "Islamofaschismus" und dessen angebliches Werkzeug, den "internationalen Terrorismus", verwickelt wähnen.

Dezidiert weisen Mearsheimer und Walt nach, daß es Politakteure wie John Bolton, Richard Perle und Paul Wolfowitz, Kommentatoren wie Charles Krauthammer, William Kristol und Norman Podhoretz, Volksvertreter wie Joseph Lieberman, John McCain und Ileana Ros-Lehtinen sowie Einrichtungen wie das American Enterprise Institute (AEI), das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC), die Anti-Defamation League (ADL), die Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations, das Jewish Institute for International Security Affairs (JINSA), das Washington Institute for Near East Policy (WINEP) und die Zionist Organization of America (ZOA) sind, die zu den größten Befürwortern eines amerikanischen Einmarsches in den Irak gehörten, die seit langem jede Kritik an Israel im Keim zu ersticken versuchen und bis heute "Regimewechsel" in Syrien und dem Iran fordern. Angetrieben von der unablässigen Lobbyarbeit solcher Personen und Organisationen, bestärken sich die USA und Israel wechselseitig in einer Politik, die nach Meinung von Mearsheimer und Walt sowohl beiden Staaten als auch dem gesamten Nahen Osten abträglich ist. Weil die Israel-Lobby in der US-Öffentlichkeit das Thema Nahost dominiert, muß die Regierung in Tel Aviv keine Kürzung der militärischen und wirtschaftlichen Hilfe aus Washington befürchten, muß den leidgeplagten Palästinensern kaum Zugeständnisse machen und muß keinen Frieden mit den Nachbarstaaten schließen - obwohl bereits 2002 die Arabische Liga ein großzügiges Angebot, dem sich auch die Islamische Republik Iran hätte anschließen können, gemacht hat.

Mearsheimer und Walt nennen dies "kontraproduktiv". Das Argument mag aus der Perspektive der breiten Bevölkerung in den USA und Israel, die sich in Umfragen immer wieder mehrheitlich für Kompromiß und Verständigung unter den verfeindeten Gruppen und Staaten im Nahen Osten ausspricht, stimmen, berücksichtigt jedoch die Absichten und Interessen der Verfechter einer angeblich demokratischen "Transformation" der Region nur ungenügend. Es wäre nicht übertrieben, statt von der Israel-, von der Kriegslobby zu sprechen, deren Angehörige den militärischen Konflikt für ein unvermeidliches Wesensmerkmal der menschlichen Existenz halten und die dank ihrer Verflechtung mit der Rüstungs- und Sicherheitsindustrie aus Instabilität und "kreativer Zerstörung" Profit zu schlagen wissen.

Perle zum Beispiel, dessen berühmt-berüchtigtes, 1996 für den damals frischgebackenen israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu verfaßtes Strategiepapier "A Clean Break" von vielen Experten, darunter Mearsheimer und Walt, als Grundlage der aggressiv-konfrontativen Nahost-Politik der Bush-Regierung betrachtet wird, hat bereits 1986 in Reykjavik, damals als Stellvertretender US-Verteidigungsminister, wesentlich dafür gesorgt, daß Ronald Reagan glaubte, sich nicht auf das Angebot Michail Gorbatschows hinsichtlich der Beseitigung sämtlicher amerikanischer und sowjetischer Atomwaffen einlassen zu können. Kurz nach dem 11. September erklärte Amerikas oberster Säbelraßler, damals Leiter des Defense Policy Board des Pentagons, gegenüber dem mehrfach ausgezeichneten australisch-britischen Journalisten und Filmemacher John Pilger, wie dem Bösen auf der Welt ein Ende zu machen wäre:

Keine Etappen. Dies ist der totale Krieg. Wir kämpfen gegen verschiedene Feinde. Dort draußen gibt es viele von ihnen. All dieses Gerede von "zuerst erledigen wir Afghanistan, danach nehmen wir uns den Irak vor...", das ist die völlig falsche Vorgehensweise. Wenn wir einfach unsere Vision in die Welt hinaus tragen, uns ihrer vollkommen annehmen und nicht versuchen, clevere Diplomatie zu betreiben, sondern statt dessen den totalen Krieg führen ... werden unsere Kinder in künftigen Jahren große Lieder über uns singen.

Nicht weniger dem Einfluß des Mars zu unterliegen scheint Norman Podhoretz, langjähriger Chefredakteur der vom American Jewish Committee (AJC) herausgegebenen Zeitschrift Commentary, Patriarch der neokonservativen Bewegung und Mitglied des Project for the New American Century (PNAC). Podhoretz, der gelegentlich ins Weiße Haus eingeladen wird, um Bush an seiner Weisheit teilhaben zu lassen, fungiert derzeit als außenpolitischer Berater des führenden republikanischen Präsidentschaftskandidaten und Ex-Bürgermeisters von New York, Rudolf Giuliani. Podhoretz' jüngstes Manifest trägt den grauenerregenden Titel "World War IV: The Long Struggle Against Islamofascism". Er hat zum Beispiel für das einflußreiche Wall Street Journal am 30. Mai dieses Jahres einen Gastkommentar mit der hetzerischen Überschrift "The Case for Bombing Iran - I hope and pray that President Bush will do it", zu deutsch "Die Argumente für einen Bombenangriff auf den Iran - Ich hoffe und bete, daß Präsident Bush es macht", geschrieben.

Vor diesem Hintergrund ist "Die Israel-Lobby" kein reines Sachbuch, sondern der mutige Versuch Mearsheimers und Walts, eine dringend notwendige Diskussion um den Kurs Amerikas in der Nahostpolitik zu entfachen, bevor auf das blutige Fiasko im Irak ein noch schlimmeres Desaster im Iran folgt. Die beiden Politikwissenschaftler treten für eine Zweistaatenlösung für Palästinenser und Israelis einschließlich des Rückzugs letzterer hinter die Grenzen von 1967, für eine Öffnung gegenüber Syrien und dem Iran, wie es Ende letzten Jahres die überparteiliche Iraq Study Group (ISG) unter der Leitung von Ex-Außenminister James Baker empfohlen hat, und einen Abzug aller US-Streitkräfte aus dem Irak ein. Die USA sollten als "ehrlicher Makler" und nicht mehr als "Anwalt Israels" auftreten und vom Mittelmeer und Persischen Golf aus eine Politik des "Offshore Balancing" betreiben.

Mearsheimer und Walt wissen die vielen Leistungen Israels seit seiner Gründung 1948 zu würdigen, meinen jedoch, daß es für die USA längst an der Zeit sei, seinen wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten wie einen "normalen Staat" zu behandeln. Das hieße konkret Beibehaltung der Garantie Washingtons für die Sicherheit Israels bei gleichzeitiger Einstelllung der sich inzwischen auf mehr als drei Milliarden Dollar im Jahr belaufenden Hilfe aus dem US-Haushalt. Würden die USA Israel nicht mehr "bedingungslos" unterstützen, wäre Tel Aviv gezwungen, sich endlich mit den Nachbarn zu arrangieren, was allen Menschen in der Region zugute käme und die ständigen Spannungen dort abklingen ließe, so die Einschätzung der beiden Autoren.

In einer Zeit, in der eine von Joseph Lieberman in den US-Senat eingebrachte Resolution zur Verurteilung der angeblich tödlichen "Einmischung" des Irans in die Auseinandersetzungen im Irak mit 97 zu null Stimmen verabschiedet wird und sich der demokratische Präsidentschaftskandidat Barack Obama nach einem Bericht in der New York Sun veranlaßt sieht, auf die Entfernung eines Links auf seine Website von der Werbeseite für das Buch von Mearsheimer und Walt bei Amazon.com zu pochen, wäre es vollkommen illusorisch, eine rasche Umsetzung der Empfehlungen der beiden Realisten zu erwarten. Das wissen Mearsheimer und Walt auch, doch sie hoffen, mit ihrem Vorstoß diejenigen gemäßigten Kräfte in den USA, besonders unter den am Schicksal Israels aus verständlichen Gründen interessierten Juden, zu ermutigen, den Kampf gegen die bislang tonangebenden Hardliner in der Israel-Lobby endlich aufzunehmen. Daß das Vorhaben rechtzeitig Früchte trägt, um den drohenden Iran-Krieg zu vermeiden, ist jedoch zu bezweifeln.

27. September 2007


John J. Mearsheimer & Stephen M. Walt
Die Israel-Lobby
Wie die amerikanische Außenpolitik beeinflusst wird
(Aus dem Englischen "The Israel Lobby and U. S. Foreign Policy" von
Ulrike Bischoff, Claudia Buchholtz, Birgit Lamerz-Beckschäfer, Ute
Mareik und Dr. Harald A. Stadler)
Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2007
503 Seiten
ISBN: 978-3-593-38377-4