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REZENSION/452: Gwynne Dyer - Nach Irak und Afghanistan (SB)


Gwynne Dyer


Nach Irak und Afghanistan

Was kommt, wenn die westlichen Truppen gehen?



In Deutschland wird in diesen Tagen eifrig über die Mission der Bundeswehr in Afghanistan diskutiert, weil nach der parlamentarischen Sommerpause die Entscheidung über die erforderliche Mandatsverlängerung durch den Bundestag ansteht. Befördert wird die Diskussion durch blutige Zwischenfälle nahe der nordafghanischen Stadt Kundus: am 27. August starb dort ein Angehöriger der Bundeswehr und drei weitere wurden verletzt, nachdem sie mit ihrem Fahrzeug in eine Sprengfalle gefahren waren; am Tag darauf kamen eine Frau und zwei Kinder ums Leben, als offenbar deutsche Soldaten bei einer Straßenkontrolle das Feuer auf ihr Auto eröffneten. Des weiteren soll, wenn es nach dem Willen der Großen Koalition in Berlin geht, das Afghanistan-Mandat der Bundeswehr nicht wie bisher für weitere zwölf Monate, sondern für 14 Monate verlängert werden. Mit diesem Kniff wollen SPD und CDU die Frage nach Sinn oder Unsinn des militärischen Engagements Deutschlands am Hindukusch aus dem Bundestagswahlkampf 2009 heraushalten und eine allzu breite öffentliche Debatte zu diesem Thema vermeiden.

Allen, die sich dennoch an dieser Diskussion beteiligen beziehungsweise sich über die Hintergründe besser informieren wollen, kann man Gwynne Dyers flott geschriebenes Buch "Nach Irak und Afghanistan - Was kommt, wenn die westlichen Truppen gehen?" wärmstens empfehlen. Anders als die Bundesregierung hält der kanadische Journalist, dessen Kolumne zur internationalen Politik in mehr als 175 Zeitungen in 45 Ländern abgedruckt wird, das Argument der Verteidigung des Westens durch die Stationierung von NATO-Truppen am Hindukusch - wie übrigens auch am Persischen Golf oder in irgendeinem Land der arabisch-islamischen Welt - für blanken Unsinn und prognostiziert bereits jetzt den langsamen, aber sicheren Abzug der ausländischen Soldaten aus Afghanistan und dem Irak.

Für die neokonservativen Verfechter des "globalen Antiterrorkrieges" mag sich das wie blanke Häresie anhören. Nichtsdestotrotz begründet Dyer seine Prognose mit einer umfassenden Analyse der Geschichte der letzten Jahrzehnte der Region zwischen Nordafrika und Himalaya, deren Schicksal seit dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang des Osmanischen Reichs maßgeblich von den Interventionen westlicher Großmächte bestimmt wird und welche die Regierung von Präsident George W. Bush, eingedenk der strategischen Interessen der USA, zuletzt den "Erweiterten Nahen Osten" genannt hat.

Auch wenn es Dyer selbst überrascht, stimmt er der Forderung der Neocons nach mehr Demokratie im Nahen Osten, um die von ihm diagnostizierte "Wildnis vergeudeten menschlichen Potentials" zum Erblühen zu bringen, zu. Ähnlich den Hardlinern in Washington und deren Freunden in Tel Aviv hält Dyer eine ganzen Reihe von Ländern des Nahen Ostens wie Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien und Syrien für regimewechselanfällig, da die jeweiligen verkrusteten Strukturen dort immer weniger in der Lage sind, den Bedürfnissen ihrer Bevölkerung nach anständigen Lebensbedingungen und politischer Beteiligung gerecht zu werden. Doch statt von außen zu versuchen, den politischen Wandel im eigenen Sinne durch diplomatische, geheimdienstliche, militärische und wirtschaftliche Maßnahmen zu steuern, um beispielsweise einen langjährigen Diktator wie Ägyptens Hosni Mubarak durch eine pro-westliche, scheinbar demokratisch-legitimierte Marionette zu ersetzen, plädiert Dyer dafür, es den Menschen in diesen Ländern zu überlassen, wie und von wem sie regiert werden wollen.

So verweist der Autor auf die schwierige Lage von Präsident Hamid Karsai in Kabul, der gerne Gespräche mit den Taliban um Mullah Omar aufnähme, um den Krieg in Afghanistan zu beenden und die Vertreter der Paschtunen in eine Große Koalition einzubinden, der jedoch an einem solchen Vorhaben von den USA und den anderen Besatzungsmächten gehindert wird, nur weil diese noch keinen Plan ausgeheckt haben, wie sie den Rückzug vom Hindukusch organisieren und durchführen können, ohne das dadurch die "Glaubwürdigkeit" der NATO Schaden leidet. Dyer hält die bisherige Politik des Westens, populäre konservativ-islamische oder israelfeindliche Kräfte im Nahen Osten wie die palästinensische Hamas-Bewegung oder die Moslem-Bruderschaft in Ägypten zu unterdrücken, für eine wesentliche Ursache der Gewalt, sogar für den "Kern des Übels" in der Region. Würde man solche Gruppen nach gewonnenen Wahlen an der Macht teilhaben oder sie diese übernehmen lassen, verlören sie - siehe Libyen - angesichts der Fülle an zu bewältigenden Problemen über kurz oder lang an Radikalität und wären vermutlich für jede Hilfe oder Unterstützung des Auslands, die sie bekommen könnten, froh. Ähnlich sieht Dyer das problematische Verhältnis der USA zum Iran. Ihm zufolge sind es gerade die Dauerdrohungen Washingtons, welche die Reformgegner in Teheran an der Macht halten und die Entwicklung der Islamischen Republik zu einem ganz normalen Industriestaat mit leicht muslimischer Prägung ähnlich Malaysien oder der Türkei verhindern.

Dyer, der 1943 im kanadischen Neufundland geboren wurde, hat in den siebziger Jahren zuerst am Londoner King's College in Militärgeschichte und Geschichte des Nahen Ostens promoviert und danach an der renommierten königlichen britischen Militärakademie Sandhurst als Dozent gearbeitet. Neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Zeitungsjournalist hat er in den letzten drei Jahrzehnten zum Thema Verteidigungspolitik mehrere Bücher geschrieben und eine Reihe von Radio- und Fernsehdokumentationen unter anderem für die BBC produziert. Was moderne Militärstrategie, die innenpolitische Lage der im Buch hauptsächlich behandelten Länder Ägypten, Afghanistan, Irak, Iran, Israel, Jordanien und Syrien sowie die politische Diskussion in den westlichen Hauptstädten betrifft, kennt er sich bestens aus. Dies zeigt sich besonders eindrücklich an Dyers nüchterner Erläuterung des zum Teil hysterisch geführten Streits um das iranische Atomprogramm, von dem keine "existentielle" Bedrohung Israels ausgeht, sondern das lediglich die Beibehaltung von Tel Avis liebgewordenem Nuklearmonopol in der Region in Frage stellt.

Durch den Sturz Saddam Husseins, den Einmarsch der angloamerikanischen Streitkräfte 2003 in den Irak und den daraufhin dort einsetzenden Aufstand islamisch-nationalistischer Gruppen sind laut Dyer im Nahen Osten starke ethnische und religiöse Kräfte freigesetzt worden, welche die seit Jahrzehnten bestehende Ordnung in der Region niederreißen könnten. Statt sich ihnen in den Weg zu stellen, wie es derzeit die USA und ihre Verbündeten tun, wäre es seiner Meinung nach sinnvoller, es den Menschen vor Ort zu überlassen, besagte Kräfte selbst in den Griff zu bekommen, auch wenn dies mit einigen Erschütterungen in Form von Bürgerkriegen, ethnischen Säuberungen und ähnlichem einherginge. Blutig werde es sowieso, die Frage sei nur, wie man es abmildern könne, statt es zu verschlimmern, so Dyer.

Dyer verurteilt den Unilateralismus der Bush-Regierung als kontraproduktiv und hochgefährlich und plädierte statt dessen vehement für eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerrechts und der Vereinten Nationen. Dem 65jährigen, in London lebenden, ehemaligen Reservisten der kanadischen Marine zufolge wäre nur auf diesem Wege ein dritter Weltkrieg zu verhindern. Was Israel betrifft, so fällt Dyers Prognose düster aus. Er glaubt, die Israelis hätten eine große Chance verpaßt, als sie es versäumten, den Oslo-Friedensprozeß in die Tat umzusetzen. Durch den forcierten Bau jüdischer Siedlungen im besetzten Westjordanland wird eine Zwei-Staaten-Lösung immer unwahrscheinlicher. Doch wegen des Bevölkerungswachstums der Palästinenser in den besetzten Gebieten und der arabisch-israelischen Bürger lehnt die Regierung in Tel Aviv die Möglichkeit eines einheitlichen Staats kategorisch ab, weil dadurch der jüdische Charakter Israels verlorenginge. Die Art, wie die Israelis mit dieser Quadratur des Kreises fertig zu werden versuchen, dürfte die ohnehin verzwickte Lage im Nahen Osten in den kommenden Jahren weiterhin bestimmen.

2. September 2008


Gwynne Dyer
Nach Irak und Afghanistan
Was kommt, wenn die westlichen Truppen gehen?
(Aus dem Englischen "The Mess They Made: The Middle East After Iraq"
übersetzt von Andreas Simon dos Santos),
Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2008
248 Seiten
ISBN: 978-3-593-38705-5