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REZENSION/463: Tariq Ali - Pakistan (SB)


Tariq Ali


Pakistan

Ein Staat zwischen Diktatur und Korruption



In Pakistan geht die Angst um, die USA und ihre Verbündeten Israel und Indien planten die Balkanisierung des Landes, um ein für allemal das Problem der islamischen Atombombe aus der Welt zu schaffen. Den bisher wichtigsten Beleg für diese These liefert jene Karte, die Ralph Peters, ein ehemaliger Oberstleutnant des US-Militärgeheimdienstes und heute einflußreicher neokonservativer Kommentator bei Fox News und der New York Post, in einem Artikel für die Juni-2006-Ausgabe der US-Militärzeitschrift Armed Forces Journal unter der Überschrift "Blood Borders: How a Better Middle East Would Look" veröffentlichte. Auf der Karte eines durch neue Grenzziehungen und massive ethnische Säuberungen radikal veränderten Erweiterten Nahen Ostens gibt es nur noch ein kleines Rumpfpakistan, bestehend aus den Provinzen Pandschab, Sindh, der Bundeshauptstadt Islamabad und einer kleinen Nordregion. Die mehrheitlich von Paschtunen bewohnte Nordwestfrontierprovinz (NWFP) ist Afghanistan zugeschlagen worden. Die größte Provinz Belutschistan hat die Hegemonialmacht USA mit dem Südosten des Irans zu einer Free Republic of Balochistan erhoben, um besser den Gasreichtum der Region auszubeuten, dem Ausbau des Tiefseehafens Gwadar durch die Volksrepublik China ein Ende zu machen und eine Energietrasse vom Kaspischen Meer über Afghanistan an den Indischen Ozean zu verlegen.

Über die in Pakistan grassierenden Sorgen, was die wirklichen Ziele des scheinbar niemals endenden Anti-Terrorkrieges der USA betrifft, wird in den westlichen Medien kaum berichtet. Eine Ausnahme machte am 23. November die Korrespondentin Jane Perlez in der New York Times mit dem Artikel "Ringed by Foes, Pakistanis Fear the U.S. Too". Unter Verweis auf die berühmt-berüchtigte Karte von Ralph Peters zitierte Perlez einen ungenannten, ranghohen Regierungsbeamten in Islamabad mit den Worten: "Eine der größten Befürchtungen der pakistanischen Militärplaner stellt die Zusammenarbeit zwischen Indien und Afghanistan, um Pakistan zu vernichten, dar. Einige Leute glauben, daß die Vereinigten Staaten dem zuarbeiten." Um besagte Angst der Pakistaner, die von Perlez eher registriert als wirklich ernst genommen wurde, besser zu verstehen, empfiehlt sich Tariq Alis "Pakistan - Ein Land zwischen Diktatur und Korruption", dessen englischer Originaltitel "The Duel - Pakistan on the Flight Path of American Power" den Kern des Problems, nämlich das seit Jahrzehnten gespannte Verhältnis zwischen Islamabad und Washington, näher eingrenzt.

Der 1943 in Lahore als Sproß einer Landadelsfamilie geborene, seit den sechziger Jahren in England lebende Ali gilt international als Galionsfigur der Neuen Linken. Der Studentenführer von einst engagiert sich heute in der Anti-Globalisierungsbewegung, schreibt regelmäßig Artikel für die linksliberale britische Tageszeitung Guardian, für die Londoner Review of Books und die US-Politzeitschrift Counterpunch und sitzt im Redaktionskomitee des Journals New Left Review sowie des Verlagshauses Verso. Der bekennende Marxist hat über die Jahre neben Romanen und einem Theaterstück zahlreiche politische Sachbücher verfaßt, darunter "The Nehrus and the Gandhis: An Indian Dynasty" (1985), "Can Pakistan Survive? The Death of a State" (1991), "Masters of the Universe: NATO's Balkan Crusade" (2000) und "Bush in Babylon" (2003). Seine Auseinandersetzung mit dem 11. September 2001 und dessen Folgen, "Clash of Fundamentalisms: Crusades, Jihads and Modernity" (2002) erschien 2003 in Deutschland unter dem Titel "Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung - Die Krisenherde unserer Zeit und ihre historischen Wurzeln".

Heute steckt Pakistan in seiner schwersten Krise seit der Abspaltung Bangladeschs im Jahre 1971. Der Krieg in Afghanistan weitet sich zusehends auf das südöstliche Nachbarland, in dessen Grenzgebiet die Taliban Zuflucht finden, aus. Während die USA das pakistanische Militär zu einem stärkeren Vorgehen gegen mutmaßliche Taliban-Stellungen drängen und diese selbst immer häufiger mit Raketen unter Beschuß nehmen, reagieren in Pakistan die Gegner der westlichen Besetzung Afghanistans mit Anschlägen im ganzen Land sowie Überfällen auf die NATO-Nachschubkonvois. Die Ermordung der als pro-westlich geltenden Ex-Premierministerin Benazir Bhutto am 27. Dezember letzten Jahres bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Garnisonsstadt Rawalpindi hat eine enorme Kapitalflucht ausgelöst, weswegen vor kurzem die Regierung in Islamabad den Internationalen Währungsfonds um eine Finanzspritze in Milliardenhöhe ersuchen mußte. Für die Destabilisierung Pakistans, die unter Umständen zu einem Atomkrieg mit Indien führen könnte, woran die jüngsten Anschläge in Mumbai die Welt erinnert haben, macht Ali in erster Linie die USA und deren Imperialstreben verantwortlich.

Jahrzehntelang galt Pakistan als Bollwerk gegen den weltweiten Kommunismus. Von seinem Territorium aus erfolgte in den achtziger Jahren die größte Einzelaktion in der Geschichte der CIA, nämlich die finanzielle, logistische und militärische Unterstützung der Mudschaheddin im Kampf gegen die Streitkräfte der Sowjetunion und deren Verbündete in Afghanistan. Heute gelten die "Freiheitskämpfer" von einst als "islamistische Terroristen", welche die NATO-Präsenz am Hindukusch erforderlich machen. Ginge es nach dem Willen des designierten US-Präsidenten Barack Obama, könnten wir bald den Einsatz von amerikanischen Bodenstreitkräften in Pakistan erleben. Von einem solchen Schritt, der Armee und Bevölkerung Pakistans noch weiter in die Arme der Taliban triebe, raten Ali und mit ihm viele andere Experten dringend ab.

Bei aller Kritik an den Machenschaften Washingtons fällt Alis Urteil über die politische Unfähigkeit der korrupten pakistanischen Führungselite, die aus Generalität, höherer Beamtenschaft und Großgrundbesitzertum besteht, vernichtend aus. Ihm zufolge hätten diese das Land seit seiner Gründung im Jahre 1947 als ihr Privateigentum behandelt und die soziale sowie wirtschaftliche Entwicklung völlig vernachlässigt. Deshalb lebt ein Großteil der heute mehr als 170 Millionen Pakistaner in bitterer Armut; Schätzungen zufolge leiden rund 60 Prozent der Kinder unter Mangelernährung.

Auch wenn die Kontakte Alis, dessen Onkel Chef des Militärgeheimdienstes war, zur pakistanischen Oberschicht im Buch gelegentlich einen etwas zu breiten Raum einnehmen, profitiert der Leser vom Insider-Wissen des Autors über die mächtigen Familien Bhutto, Chaudhry und Sharif, von seinen Einschätzungen wichtiger Persönlichkeiten wie dem Ex-Diktator Pervez Musharraf oder dessen Nachfolger als Staatsoberhaupt, Benazir Bhuttos Witwer Asif Ali Zardari, und von seinen häufigen Verweisen auf die geschichtlichen Kontinuitäten wie zum Beispiel die Tatsache, daß der heutige, demokratisch-gewählte Premierminister Syed Jussuf Rasa Gilani ein Protegé des früheren Militärmachthabers General Zia ul Haq ist.

Was dagegen im Buch etwas zu kurz kommt, sind Informationen über die Anfänge der aktuellen politischen Krise in Pakistan, die im März 2007 mit der umstrittenen Entlassung des Obersten Richters Muhammed Iftikhar Chaudhry durch Präsident Musharraf und vier Monate später mit der Belagerung und Erstürmung der von Moslemfundamentalisten besetzten Roten Moschee in Islamabad durch die pakistanischen Spezialstreitkräfte ihren unheilvollen Lauf nahm. Bei der zuletzt genannten spektakulären Aktion kamen mehr als 100 Menschen ums Leben, die meisten von ihnen Studentinnen einer Islamschule. Weder geht Ali auf die Gründe für den damaligen Streit zwischen Richter Chaudhry und Musharraf, nämlich auf die willkürliche Verhaftung und Internierung mutmaßlicher "Terroristen", ein, noch beleuchtet er im ausreichenden Maße die Beweggründe der pakistanischen Taliban und ihres Anführers Baitullah Mehsud.

Ali beläßt es nicht nur bei Kritik, sondern macht auch praktische Vorschläge, mittels derer Pakistan wieder zur Ruhe gebracht und seinen Menschen ernsthaft geholfen werden könnte. Nach Meinung Alis müssen die überkommenen Feudalstrukturen im landwirtschaftlichen Sektor endlich zerschlagen werden, während man gleichzeitig in Bildung und Infrastruktur investiert. Er regt zudem die ökonomische Annäherung Pakistans an Indien einschließlich der Gründung einer Südasiatischen Wirtschaftsunion an. Auf diesem Wege ließe sich die nukleare Konfrontation auf dem Subkontinent auflösen und eventuell eine atomwaffenfrei Zone errichten. Zu diesem Zweck verlangt er von den offiziellen Nuklearmächten, daß diese ihre Verpflichtungen nach dem Atomwaffensperrvertrag endlich einlösen und mit der ernsthaften Beseitigung der eigenen Kernwaffenarsenale beginnen. Leider dürfte dieser Vorschlag Alis im Westen so wenig Anklang finden wie der des von ihm empfohlenen Abzugs aller ausländischen Streitkräfte aus Afghanistan.

4. Dezember 2008


Tariq Ali
Pakistan
Ein Land zwischen Diktatur und Korruption
(Aus dem Englischen "The Duel - Pakistan on the Flight Path of
American Power" übersetzt von Michael Bayer)
Diederichs, München, 2008
334 Seiten
ISBN: 978-3-7205-3059-0