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REZENSION/485: Gustav Heinemann-Initiative & Humanistische Union - Graubuch Innere Sicherheit (SB)


Gustav Heinemann-Initiative & Humanistische Union (Hrsg.)


Graubuch Innere Sicherheit

Die schleichende Demontage des Rechtsstaates nach dem 11. September 2001



Angesichts der fast täglichen Nachrichten über Verschärfungen im Bereich Innere Sicherheit verliert der Bürger nicht nur den Überblick. Er neigt dazu, die zunehmende Einschränkung seiner Freiheitsrechte gezielt zu ignorieren, um sich nicht mit der wenig einladenden Aussicht auf gesellschaftliche Veränderungen befassen zu müssen, die ihn am Ende doch ganz konkret betreffen. Die naive Arglosigkeit vorhaltende Formel, daß, wer nichts zu verbergen, auch nichts zu befürchten habe, ist spätestens mit der Verschleppung sogenannter Terrorverdächtiger in die Folterlager eines Landes, das in der Bundesrepublik als Hort liberaler Rechtsstaatlichkeit gilt, der Verstrickung deutscher Dienste in den Terrorkrieg Washingtons und der politischen Forderung nach Verwertung in Folterverhören erbrachter Aussagen haltlos geworden. Die Möglichkeit, als unbescholtener Bürger in das kafkaeske Räderwerk eines bereits im Vorfeld konkreter Strafbarkeit ermittelnden und vollstreckenden Sicherheits- und Justizapparats zu geraten, ist so real wie der Versuch, sich von derartigen Nachstellungen freizuhalten, zwecklos.

Um dies zu illustrieren, sei an den exemplarischen Fall des Wissenschaftlers Andrej Holm erinnert, dem 2007 die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, der "militanten gruppe" (mg), zur Last gelegt wurde. Er habe sich zweimal "konspirativ" mit einer Person getroffen, die der Teilnahme an einem Brandanschlag auf LKWs der Bundeswehr bezichtigt wird. Der verschwörerische Charakter des Treffens soll daraus hervorgegangen sein, daß die beiden Beschuldigten sich mehrfach umdrehten und keine Handys bei sich trugen, so daß die Ermittler nicht mitlauschen konnten.

Holm war ins Visier der Bundesanwaltschaft geraten, weil er laut dem gegen ihn ausgestellten Haftbefehl in seinen Texten "Phrasen und Schlagwörter" benutzt habe, "die in Texten der 'militanten Gruppe (mg)' gleichfalls verwendet" würden. Er sei intellektuell in der Lage gewesen, "die anspruchsvollen Texte der 'militanten Gruppe (mg)' zu verfassen", und ihm stünden "Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der 'militanten Gruppe' erforderlichen Recherchen durchzuführen". Erschwerend kam hinzu, daß er "in dem von der linksextremistischen Szene inszenierten Widerstand gegen den Weltwirtschaftsgipfel 2007 in Heiligendamm aktiv" gewesen sei. (*)

Wie sich durch eine Ungeschicklichkeit des Bundeskriminalamts im mg-Prozeß herausstellte, haben sich zwei BKA-Mitarbeiter selbst als Autoren linksradikaler Texte hervorgetan, was den Aberwitz einer Fahndung nach Terrorverdächtigen per Suchbegriff im Internet auf die Spitze treibt. Sie beteiligten sich an der Militanzdebatte, bei der es maßgeblich um die "militante gruppe" ging, mit einem in der Szenezeitschrift interim 2005 veröffentlichten Text, aus dem wiederum im Berliner Verfassungsschutzbericht 2005 zitiert wurde, um die Relevanz der Militanzdebatte zu belegen. Auch die seit längerem bekannte - laut einem Bericht des Spiegels (21.03.2009) nach acht Jahren nun auf Weisung des Bundesinnenministeriums eingestellte - Maßnahme, Besucher der Homepage des BKA zu erfassen, zu identifizieren und möglicherweise zum Ziel von Ermittlungen zu machen, kann das Vertrauen des Bürgers in diese Bundesbehörde nicht eben stärken.

Mit dem neuen, am 28. Mai im Bundestag verabschiedeten Staatsschutzstrafrecht nach den Paragraphen 89a und 91 StGB wird die Praxis der Sicherheitsbehörden, nicht nur die Autoren als staatsfeindlich eingestufter Texte zu kriminalisieren, sondern ihre Sprache - und das damit verbundene Denken - selbst zum verbotenen Territorium zu erklären, noch gefährlicher für alle Menschen, die sich herausnehmen, mit den vorherrschenden politischen Normen nicht konform zu gehen. Mit der Strafbarkeit bloßer Vorfeldhandlungen und der angeblich möglichen Bestimmung der Absichten eines Menschen, der sich aufgrund des Besuchs eines sogenannten Terrorcamps oder einer Website mit mutmaßlich terroristischen Inhalten verdächtig gemacht hat, wurde das Prinzip der Unschuldsvermutung auf den Kopf gestellt. Wer in den Dunstkreis des Terrorverdachts gerät, hat künftig alle Mühe zu beweisen, daß er die ihm vorgeworfenen Handlungen aus lauteren und legalen Motiven und nicht in "Vorbereitung einer Gewalttat" (89a StGB) vollzogen oder als "Anleitung zu einer Gewalttat" (91 StGB) gemeint hat.

Um diesen Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung wurde ebensowenig Aufhebens auf der legislativen Bühne gemacht wie um die zahlreichen gesetzlichen Änderungen und Neuerungen, die seit dem 11. September 2001 erfolgt sind. Eine breite demokratische Debatte über die angebliche Erfordernis, die Bürgerrechte im Kampf gegen den Terrorismus einzuschränken, ist bis heute ausgeblieben. Anstelle dessen haben Politik und Medien auf inflationäre Weise zum Mittel der Terrorangst gegriffen, um Vollmachten der Exekutive zu legitimieren, die die Bundesrepublik zusehends in einen verstetigten Ausnahmezustand versetzen.

Wer sich genauer über den Stand dieser Entwicklung und die seit Beginn des Globalen Kriegs gegen den Terrorismus vor acht Jahren erfolgten legislativen Schritte und administrativen Maßnahmen informieren will, dem wird mit dem von der Gustav Heinemann-Initiative und der Humanistischen Union herausgegebenen "Graubuch Innere Sicherheit" ein zuverlässiger Leitfaden an die Hand gegeben. Auch wenn die referierten sicherheitspolitischen Innovationen lediglich bis zum Dezember 2007 reichen, schafft man mit der Lektüre ein solides Fundament des Wissens, auf das in einem Diskurs, der seitens der Bundesregierung auf fast systematische Weise unüberschaubar gehalten wird, mit desto größerer Gewißheit um die eigene Urteilskraft aufgebaut werden kann.

Bei den Autoren des Sammelbands handelt es sich um namhafte Politik- und Rechtswissenschaftler, die zum Teil im akademischen Lehrbetrieb zuhause sind, aber auch Regierungsämter innehatten, in Verfassungsgerichten saßen oder als Sachverständige bei parlamentarischen Anhörungen auftreten. Die Beiträge des Buches sind jeweils spezifischen Feldern der Sicherheitspolitik gewidmet, die auf akribische Weise dokumentiert und analysiert werden.

Ergänzt werden die Kapitel zu den diversen Anti-Terror-Paketen, zum umstrittenen Luftsicherheitsgesetz, zur Überwachung der Telekommunikation, zu biometrischen Verfahren der Identitätsfeststellung und Ermittlungspraxis oder zur Transparenz des individuellen Finanzverkehrs, um nur einige Themenfelder zu nennen, durch Kommentare, in denen die Autoren eine politische Bewertung der sicherheitsstaatlichen Entwicklung vornehmen. Diese erfolgt meist aus dem jeweiligen Fachkontext heraus, so daß übergreifende gesellschaftskritische Stellungnahmen eher selten sind. Das tut dem Nutzen des Buchs jedoch keinen Abbruch, geht es doch in erster Linie darum, dem interessierten Bürger einen Einblick in die komplexe Materie polizei- und strafrechtlicher Praktiken und Regeln zu bieten, der ihn befähigt, das Bewußtsein der Bevölkerung für das empfindliche Verhältnis von Freiheit und Sicherheit auf kompetente Weise zu fördern und zum notwendigen demokratischen Streit um die Fragen einer Sicherheitspolitik beizutragen, deren konstitutives Innen- und Außenverhältnis durch die Politik längst aufgehoben wurde.

Dies betrifft nicht nur die von Regierungspolitikern vorgenommene Verknüpfung äußerer Kriegführung mit innerer Sicherheit, deren sachzwanggenerierte Logik die vermeintliche Notwendigkeit beiderseitiger Aufrüstung konträr zur Vernunft einer antiinterventionistischen Außenpolitik und einer strikten Teilung der Gewalten und Zuständigkeiten im Innern aufzäumt, sondern insbesondere das Verhältnis zwischen Bundesrepublik und Europäischer Union. Gleich zu Beginn des Buchs werden "einige zentrale Charakteristika der neuen Sicherheitsgesetzgebung (...) skizziert", die vor allem das Einwirken supranationaler Instanzen auf die Gesetzgebung des Bundes und der Länder zum Gegenstand haben. So ist von einem "ständig gewachsenen, omnipräsenten und inzwischen fast schon übermächtigen (...) Einfluss der Vereinten Nationen und Europäischen Institutionen" (S. 13) die Rede, doch auch die Beteiligung der Bundesrepublik am internationalen Prozeß wird von der Exekutive dominiert, während die Volksvertretung ihrem legislativen Auftrag kaum mehr gerecht wird. Als ein Beispiel dafür genannt wird der Versuch des EU-Ministerrats, die bisherige Rechtsgrundlage der europäischen Polizeibehörde Europol, das Europol-Übereinkommen, durch einen Ratsbeschluß zu ersetzen, um die beabsichtigte Stärkung der operativen Kompetenzen dieser bislang vor allem als Organ der Datenüberwachung und -vernetzung tätigen Einrichtung von der parlamentarischen Zustimmung auf nationaler wie europäischer Ebene unabhängig zu machen.

Auch das bei bürgerrechtlich prekären Vorstößen im Sicherheitsbereich beliebte Spielen über die supranationale Bande stellt ein demokratische Partizipation aushebelndes Mittel deutscher Regierungspolitik dar:

"Das Changieren zwischen 1. und 3. Säule der EU, die damit einhergehende Austauschbarkeit der Rechtsgrundlagen und Wahl der Handlungsformen, (Rahmenbeschluss, Gemeinsamer Standpunkt, sonstiger Beschluss, Richtlinie, Verordnung usw.) sowie die Geschwindigkeit, mit der auf europäischer und nationaler Ebene die jeweiligen Vorhaben abgeschlossen werden, machen die Rechtsmaterie unüberschaubar und für die davon betroffenen Bürger - entgegen den verfassungsrechtlichen Vorgaben - unkalkulierbar".
(S. 14)

Vertieft wird das so wichtige, schon aufgrund seiner hochgradigen Komplexität meist unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Bürgers verbleibende und das Subsidiaritätsprinzip der EU weitgehend aushebelnde Problem der sicherheitspolitischen Verschränkung nationaler und supranationaler Entscheidungsprozesse in dem umfangreichen Kapitel über "Europäische Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung". Hier bietet sich dem Leser ein weites Feld des Studiums monströser exekutiver Innovationen wie etwa die EU-Terrorliste, die Terrorismusdefinition der EU, die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit im Rahmen des Schengener Abkommens und des Vertrags von Prüm oder der Europäische Haftbefehl. Der Begriff des Studiums ist nicht metaphorisch gemeint, tatsächlich bedarf es einiger Mühe, den Dschungel an administrativen Prozessen und Rechtsakten so urbar zu machen, daß man sich trittsicher auf dem morastigen Grund der Hybridisierung staats- und verfassungsrechtlicher Normen bewegen kann.

Unterstützt wird diese Mühe durch einen umfassenden Fußnotenapparat, der es empfehlenswert erscheinen läßt, das Buch auf der Webseite der Humanistischen Union (http://www.humanistische-union.de/shop/buecher/) in seiner elektronischen Version zu erstehen, um die zahlreichen Quellenangaben direkt in den Browser eingeben zu können. Im Anhang findet sich eine ausführliche Literaturliste, ein Index der im Text verwendeten Gesetze und Verordnungen sowie ein Namensindex. Nichtsdestotrotz ist auch eine Printversion des Buches nützlich, wenn man sich mit dieser per se trockenen, in der Ausdeutung und Bewertung der politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen allerdings sehr spannenden Thematik beschäftigt.

(*) Mehr über die abenteuerlichen Konstrukte, mit denen im mg-Prozeß letztendlich Politik gemacht wird, erfährt man auf der Webseite http://einstellung.so36.net. Wie es Menschen ergehen kann, die einmal in das Netzwerk staatlicher Überwachung geraten, ist auf http://annalist.noblogs.org nachzulesen. Dort berichtet Anne Roth, über die Nachstellungen, die sie und ihr Lebensgefährte Andrej Holm seit bald zwei Jahren zu erleiden haben.

3. Juni 2009


Gustav Heinemann-Initiative & Humanistische Union (Hrsg.),
Graubuch Innere Sicherheit.
Die schleichende Demontage des Rechtsstaates nach dem
11. September 2001.
Books on Demand, Norderstedt/Berlin 2009,
240 Seiten, 14,00 Euro
ISBN 978 3 83709 003 1