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REZENSION/501: P.M. - Neustart Schweiz - So geht es weiter (Gesellschaft) (SB)


P.M.


Neustart Schweiz - So geht es weiter



WG-erfahrene Zeitgenossen wissen, daß das rein räumliche Zusammenrücken in einem Haus oder die überschaubare dörfliche Siedlungsform nicht per se von den vielfältigen Zwängen befreien, denen Menschen mit diesen Wohn- und Lebensformen, vor einigen Jahrzehnten noch häufiger als heute, zu entkommen hofften. So wissen sie, daß die zwischenmenschlichen Probleme dann erst aus ihren Verstecken hervorkommen, wenn der gewohnte Raum, den man benötigt, um sich gegenseitig aus dem Weg gehen zu können, eingeengt wird. Von einem 1946 geborenen, lebenserfahrenen Publizisten, der in seinen Büchern und Texten einen utopischen Gesellschaftsentwurf beschrieben und sogar Menschen gefunden hat, die seine Idee eines anderen, gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu verwirklichen versuchen (gemeint ist die genossenschaftlich organisierte Wohnsiedlung Kraftwerk1 in Zürich), sollte man eigentlich erwarten, daß er um dieses ungelöste Problem der Gegenseitigkeit weiß und es in seinem Zukunftsentwurf nicht unberücksichtigt läßt.

Vielleicht hat sich der Schweizer Autor, um den es hier geht und der seit 30 Jahren unter dem Pseudonym P.M. schreibt, in früheren Büchern wie "bolo'bolo" (1983; inzwischen 8. Aufl. 2003) und "Subcoma" (2000) abgearbeitet und sein Feuer verschossen. Mit "Neustart Schweiz" jedenfalls kehrt er in den behüteten Schoß der bürgerlichen Mitte, in der heutzutage Nachhaltigkeitsideen vielfältigster Art weit verbreitet sind, zurück.

Ausgehend von der Schweiz als Modell will P.M. die ganze Welt in eine neue Verwaltungsordnung mit Nachbarschaften (LMO) von durchschnittlich 500 Personen (kombiniert mit Landwirtschaftsbetrieben zwecks räumlich naher Versorgung), kooperativen Quartieren (CA) von 10.000 - 20.000 Menschen, agrourbanen Regionen (AUR) von 100.000 - 1 Million Einwohnern, subkontinentalen Netzwerken (SN) und einer planetarischen Organisation (PO) gliedern. Nationalstaaten werden abgeschafft. Eine drastische Reduzierung der Bürokratie, eine umfangreiche Bildung für alle, die Aufnahme von Flüchtlingen (auch Wirtschaftsflüchtlingen) aus anderen Weltregionen, die Verringerung des Lebensstandards (nicht der Lebensqualität) und dadurch eine Freisetzung von Mitteln für Menschen in anderen Regionen kennzeichnen den Entwurf.

Er, dem es um die Rettung der Menschheit geht - seine Einleitung ist mit "so geht es nicht weiter" unterschrieben -, hat bei allem Bemühen um die theoretische Konstruktion einer verbrauchsärmeren, ressourcenschonenden, klimafreundlichen, friedlicheren Weltgesellschaft anscheinend das Entscheidende aus den Augen verloren: die Menschen. Wenn die Hardware dieselbe bleibt, und das ist in diesem Fall die soziale Matrix, das Verhältnis des Menschen zum anderen, wie es die hinlänglich bekannten Herrschaftsformen hervorgebracht hat, kann das System bei einem Neustart nicht überwunden werden. Es droht, um in diesem Bild zu bleiben, lediglich durch einen gehörigen Schuß Energie von neuem in Betrieb gesetzt zu werden.

Das ist insofern bedauerlich, als daß utopische Ideen heutzutage dünn gesät sind, nachdem es den realpolitischen Interessen, die vom Fortbestand der räuberischen und extrem destruktiven Gesellschaftsordnung profitieren, gelungen ist, sie als realitätsverkennende Träumereien zu diskreditieren. Bedarf es in der heutigen Welt multipler Krisen, in der der sogenannte Fortschritt der technologisch und militärisch hochgerüsteten westlichen Staaten auf den Schultern massenhaft externalisierten Elends und sklavereiähnlicher Arbeit erzielt wurde, nicht einer absichtsvoll und entschiedenen Verkennung der Realität, eines unverbrüchlichen Neins, um an utopischen Ideen, wie sie unausgesprochen auf jeder Seite dieses 96seitigen Büchleins durchscheinen, festzuhalten?

P.M. hinterfragt die mörderischen Gewaltverhältnisse dieser Gesellschaft (Tag für Tag verhungern bis zu 100.000 Menschen) nicht, sondern entwirft eine nur strukturell geringfügig abweichende Form von Gesellschaft; er lehnt die supranationale Administration der Europäischen Union, die sich mit dem Lissabon-Vertrag vollends als gestaltgewordene Utopie der Neoliberalen erweist, keineswegs ab, sondern erklärt, daß nichts, was er zum Umbau der Schweiz geschrieben habe, einem Beitritt zur EU widerspricht (S. 85); er erkennt nicht, daß die blockfreie Bundesrepublik Jugoslawien durch die NATO-Staaten zerschlagen wurde, sondern führt den Zerfall herrschaftshörig auf "Extremnationalismus" und Mobilisierung "ethnischer Werte" (S. 86) zurück.

Aber vielleicht besaß der Autor niemals Träume von einer anderen Welt, sondern strebte schon immer den "New Deal" (S. 13) mit den Machthabern dieser Welt an. Jedenfalls schreibt er mit Blick auf die Entwicklungshilfe der Schweiz, die er nicht als "falsch" ansieht, sondern lediglich als zu gering: "Wenn wir das, was ich vorschlage, mit dem vergleichen, was die Schweiz heute schon tut und was Entwicklungsexperten vorschlagen, so stelle ich fest, dass es weitgehend deckungsgleich ist" (S. 28).

Die Ideen und Vorschläge des Autors sollten nicht deshalb gründlich hinterfragt werden, weil sie ohnehin keine Chance auf Durchsetzung besitzen, sondern genau umgekehrt, weil sie deckungsgleich, also systemimmanent bleiben. Daß an dieser Stelle dennoch die Lektüre des Büchleins mit Nachdruck empfohlen wird, geht darauf zurück, daß es sich hervorragend für einen konstruktiven Streit eignet - entweder mit sich im stillen Kämmerlein, mit Weggefährten oder auch mit politischen Gegnern. Bei aller Kritikwürdigkeit der Ausführungen muß es P.M. sehr wohl positiv angerechnet werden, daß er überhaupt Grundfragen menschlicher Gemeinschaft aufwirft, sicherlich auch um die Machbarkeit seiner Konzepte ringt und damit eine Menge Angriffsflächen bietet.

12. Januar 2010


P.M.
Neustart Schweiz - So geht es weiter
Edition Zeitpunkt. Solothurn, 1. Aufl. November 2008
92 Seiten, ISBN 978-3-033-01779-5