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REZENSION/520: Kai Ehlers - Russland - Herzschlag einer Weltmacht (SB)


Kai Ehlers


Russland

Herzschlag einer Weltmacht



Die unermeßlichen Ressourcen Rußlands rufen seit Jahrhunderten Begehrlichkeiten westlicher Mächte auf den Plan, deren imperialistische Raubzüge stets vor den Toren Moskaus gescheitert sind. Napoleon, der deutsche Kaiser und Hitler warfen gewaltige Armeen nach Osten, doch ihre hochfliegenden Pläne im Ringen um Vorherrschaft und Lebensraum leiteten den eigenen Untergang ein. Die Konfrontation der Gesellschaftssysteme zu Zeiten des kalten Krieges setzte den expansionistischen Entwurf mit vermehrter Wucht fort, sich durch Niederwerfung dieses Gegners, der einer gewaltsamen Aneignung unüberwindliche Grenzen setzte, der langersehnten Schätze zu bemächtigen. Der Untergang der Sowjetunion drohte dem Riesenreich den Todesstoß zu versetzen, das von den Kräften innerer Zersetzung und äußerer Einkreisung durch die vordringende NATO fragmentiert und gefesselt zu einem ohnmächtigen Spielball kapitalistischer Verwertung degradiert zu werden schien.

Für Rußland folgten Jahre katastrophalen Verfalls und Verlustes, in denen der Reichtum weniger Profiteure massenhaftes Elend erzeugte, während der Zusammenhalt als Nation zerbrach und die Zerschlagung sozialer Strukturen isolierte Individuen produzierte, die im eigenen Vorteil zu Lasten anderer das einzig erstrebenswerte Glück verorteten. Jelzins verheerende Aufforderung, jeder möge sich die Autonomie nehmen, die er wünsche, und sich nach besten Kräften bereichern, mündete in Abspaltungskriege, Rassenhaß und brutale Kämpfe ums nackte Überleben.

Der dämonisierte und zugleich gefürchtete Feind im Osten lag entmachtet und erniedrigt am Boden, von inneren Zerwürfnissen und kultureller Zersetzung so geschwächt, daß der Triumph der unipolaren Welt unter ausschließlicher Führung der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten nahezu vollendet schien. Doch wie der Phönix aus der Asche - kleiner zwar als zuvor, doch deswegen um so wertvoller - ist Rußland wiederauferstanden. Das Herz dieser Weltmacht hat nicht aufgehört zu schlagen und beharrt auf seinem eigenen Takt, der sich dem Diktat der vermeintlichen Siegermächte nicht beugt und ihrer Doktrin der neuen Weltordnung entgegenstemmt.

Der deutsche Rußlandforscher Kai Ehlers geht im Dialog mit dem befreundeten russischen Schriftsteller und Journalisten Jefim Berschin zahlreichen Fragen nach, die um die Umwälzungen der nachsowjetischen Ära kreisen und im wiedererstarkten Rußland soziale und kulturelle Entwicklungskräfte aufzuspüren versuchen, die angesichts weltweiter Krisen substantiell und zukunftsweisend sein könnten. Der Westen muß das neue Selbstbewußtsein dieses Landes und dessen Rückkehr auf die Bühne der Weltpolitik nur solange fürchten, wie er dessen Sturz in Chaos und Armut als eigenen Zugewinn verbucht. Vermag er jedoch die autonome Überlebensfähigkeit Rußlands als Potential zu begreifen, sollte es möglich sein, aus dessen Entschlüsselung Fragen abzuleiten, die Keime eines zukünftigen menschenwürdigen Miteinanderlebens setzen könnten.

Daß die Gesprächspartner nach langen Stunden intensiven Gedankenaustausches und gemeinsamer Bemühungen um Schlußfolgerungen den Leser nicht mit Antworten abspeisen, sondern ihre Ausgangsfragen vertieft und ihnen weiterentwickelte hinzugefügt haben, mag anfangs irritieren. Folgt man den beiden jedoch auf ihrem Gang durch das Labyrinth russischer Wandlungen, beteiligt man sich unversehens an ihrer Zusammenkunft, die eine karge Etagenwohnung in einem Moskauer Vorort in ein Labor gemeinsamen Ringens um Ansätze eines neuen Gegenentwurfs zur kapitalistischen Gesellschaft verwandelt.

Indem der Autor einleitende oder erläuternde Passagen mit direkter und indirekter Rede der Gesprächspartner sowie nicht zuletzt kontextbezogenen Auszügen ihres jahrelangen Briefwechsels verknüpft, schafft er einen lebendigen Fluß des Dialogs. Wo die eigenen Sprachkenntnisse an Grenzen stießen, trug die Übersetzerin Olga Matschilski dazu bei, die Verständigung zu fördern und die Kommunikation zu präzisieren. Und nicht zuletzt bereichert die Zusammenarbeit mit dem Künstler Herman Prigann das Buch, dessen Collagen Umbruch und Widersprüche der russischen Gesellschaft ins Bild setzen.

Gerade weil Ehlers und Berschin die Liebe zu Rußland vereint, nähern sich innere und äußere Sicht in aller gebotenen Vorsicht an, um Widersprüche auszuloten und Übereinstimmungen zu befestigen. Ehlers hat auf seinen ausgedehnten Reisen in zahlreiche Winkel des riesigen Landes zu viele Menschen unterschiedlicher Zugehörigkeit und Kultur kennengelernt, als daß er dem allzu schnellen Verstehen und unzulässigen Angleichen den Zuschlag geben würde. Wenn Jefim Berschin des öfteren die Vielfalt und Wandlungsfähigkeit, aber auch Grenzen der Kompatibilität einzelner Bestandteile des Vielvölkerstaats hervorhebt, ja darauf besteht, daß Rußland in letzter Konsequenz niemals schlüssig zu erklären sei, flüchtet er keineswegs in Beliebigkeit oder Komplexität. Beide sind sich der Grenzen ihrer Verständigung wie auch des von ihnen begangenen Feldes so deutlich bewußt, daß sie ernsthaft an deren Überwindung arbeiten können und den Leser an diesem Prozeß teilhaben lassen.

Daß dabei dem heutigen Rußland und der dort stattfindenden Entwicklung lebendiger Alternativen mehr Sympathie entgegengebracht wird, als das in westlichen Medien üblich ist, liegt auf der Hand. Obgleich es hierzulande nicht mehr statthaft ist, sich verbal über östliche "Untermenschen" zu erheben oder den "Klassenfeind" zu verteufeln, hat man neue Begriffe der Abgrenzung und Diskreditierung geschmiedet, die das Mißtrauen nähren und eine inakzeptable Andersartigkeit postulieren. Wenn der Autor diesem Konsens der Feindseligkeit ein erfreulich positives Rußlandbild entgegenhält, geht es ihm weder um eine Aufwertung Gorbatschows, Jelzins oder Putins, noch um eine romantische Verklärung der "russischen Seele". Er will vielmehr deutlich machen, wie Rußland sich in widersprüchlichen Windungen und Wendungen, aber doch als untrennbares Ganzes entwickelt. Davor Angst zu haben, gebe es keinen Grund, gerade weil dieses Land in seiner sich selbst genügenden Existenz letztlich von niemandem abhängig ist.

Der Untersuchung dieser Autonomie ist das Buch im Kern gewidmet, da der Autor bei seinen an die dreißig ausgiebigen Reisen nicht nur auf die verheerenden Folgen der Privatisierung, sondern auch auf nach wie vor existierende Gemeinschaftskräfte stieß, durch die sich die Entwicklung Rußlands prinzipiell von der westlichen unterscheidet. Sie entstanden aus der Lage zwischen Asien und Europa und bilden ein Element der Selbstversorgung als grundlegender Bestandteil der russischen Ökonomie, der Lebensweise und selbst der Organisation als Staat. Die russische Kolonisation unterschied sich vom Imperialismus westlicher Prägung insofern, als die durch Kriegszüge, Handel oder Erforschung einverleibten Regionen integriert wurden, ohne sie völlig anzugleichen, die Kulturen zu nivellieren und ihre Ökonomie zu vernichten. Obgleich dem expandierenden Reich zugehörig und seiner Führung unterworfen, behielten viele Landesteile ein beträchtliches Maß an Eigenständigkeit, das insbesondere auf ihrer Fähigkeit zur Eigenversorgung gründete.

Bemerkenswerterweise hat sich die Grundstruktur einer in Gemeineigentum verwurzelten Bauernschaft, russisch óbschtschina, bis in die Gegenwart erhalten, obgleich zahlreiche Phasen der Modernisierung, Versuche ihrer Zerstörung, ihrer Verwandlung in das sowjetische Kollektiv und zuletzt der Privatisierung sie zu eliminieren drohten. Diese soziale Struktur, in der gemeinschaftliche und individuelle Selbstversorgung miteinander gekoppelt sind, schafft einen Rahmen, der die Menschen unabhängig von Fremdversorgung macht und damit nicht zuletzt in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen, die mit dem Ausfall einer zentralen Versorgung verbunden sind, ihr Überleben sichert. Verwandte bäuerliche Existenzweisen im westlichen Europa wurden schon sehr viel früher von anderen Wirtschaftsformen abgelöst, so daß diese Tradition dort längst versiegt ist.

Durchaus nicht auf landwirtschaftliche Produktion beschränkt, stößt man in der russischen Gesellschaft in vielen Milieus auf einen Gemeinschaftsgeist, wie er im Nachkriegsdeutschland für eine gewisse Frist aufblühte, jedoch mit dem Ende der akuten Not wieder verschwand und allenfalls bei schweren Katastrophen noch einmal ein Scheinleben als kurzfristiger Schattenwurf führt. Wer in Rußland einer solchen ländlichen oder urbanen Gemeinschaft angehört, erhält in existentiellen Nöten Hilfe wie etwa ein Obdach, die Verteidigung gegen äußere Angreifer oder die Abwendung einer anderen akuten Gefahr, die er als einzelner nicht aus dem Feld schlagen kann. Wenngleich auch die Helfenden darauf vertrauen können, daß sie im Bedarfsfall rückhaltlose Unterstützung erfahren, handelt es sich doch um keine Leistung, die unmittelbar verrechnet würde und abgegolten werden müßte.

Zwangsläufig erörtern Ehlers und Berschin in diesem Zusammenhang den Umstand, daß auch mafiöse Banden und andere einflußreiche Gruppierungen einen ähnlichen Kodex aufweisen. Indessen einigen sich die beiden Gesprächspartner darauf, daß der wesentliche Zweck solcher Zusammenschlüsse die Schädigung Dritter sei, die auszuplündern und zu drangsalieren man vorhat. Das gelte für óbschtschina nicht, die auf den autonomen Erhalt einer Gemeinschaft abziele und diese somit auch gegen äußere Einflüsse stärke, jedoch keinen expansiven Übergriff anstrebe.

Das Ende das Sozialstaats in Westeuropa leitet eine gesellschaftliche Transformation ein, die nur wenige Jahre auf den Zusammenbruch des sogenannten russischen Fürsorgestaates folgt. Vieles spricht dafür, daß es sich um ein und denselben Prozeßverlauf der an ihre Grenzen stoßenden kapitalistischen Verwertung handelt. Ob nach dem Ende der Sowjetunion aus einer alten Tradition Rußlands eine Entwicklung erwächst, die trotz der hemmungslosen Privatisierung und aufgezwungenen Modernisierung oder vielleicht sogar als deren fast zwangsläufiger Gegenentwurf eine neue Qualität der Beziehung von Gemeinschaft und Individuum hervorbringt, ist nicht entschieden. Als Fürsprecher eines solchen Entwicklungsschritts führt Kai Ehlers eine Gewißheit ins Feld, die auf der Erfahrung seiner Reisen gründet, bei denen er nie allein, sondern stets in Begleitung rußländischer Bekannter oder Freunde unterwegs war und vielerorts erstaunliche Lebenszeichen dieses Phänomens vorfand. Wenn er den westlichen Leser mit solchen Innenansichten Rußlands bekannt macht, so geschieht das nicht zuletzt in der Hoffnung, daß etwas von diesem Gemeinschaftsgeist auf den Westen ausstrahlen möge.

7. Mai 2010


Kai Ehlers
Russland
Herzschlag einer Weltmacht
Pforte Verlag, Dornach 2009
300 Seiten
ISBN 978-3-85636-213-3