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REZENSION/522: Renate Dillmann - China. Ein Lehrstück (SB)


Renate Dillmann


CHINA   Ein Lehrstück ...



Seit zehn Jahren werden wir Zeuge eines dramatischen, weltverändernden Prozesses, nämlich des Wiederaufstiegs Chinas zur wirtschaftlichen und politischen Supermacht. Wie es die Chinesen seit der Ausrufung der Volksrepublik im Jahre 1949 geschafft haben, die katastrophalen Folgen der rund einhundert von kolonialer Einmischung, Teilbesetzung durch die Japaner und einem Bürgerkrieg geprägten Jahre zu beseitigen und ihr damals völlig am Boden liegendes Land wieder zu einer der bestimmenden Kräfte auf dem Globus zu machen, und was dies für die Zukunft bedeuten könnte, sind Gegenstand des Buchs "China: Ein Lehrstück" von Renate Dillmann. Für die marxistische Politikwissenschaftlerin, die in Staatstheorie promoviert und mehrere Forschungsaufenthalte in China absolviert hat, ist die Volksrepublik schon länger vom kommunistischen Weg abgekommen und hat sich zu einer imperialistischen Großmacht entwickelt, die genau wie Deutschland, Japan oder die USA die eigene Bevölkerung ausbeutet, während sie gleichzeitig in Übersee die notwendigen Ressourcen für den Fortgang des eigenen kapitalistischen Verwertungsprozesses zu sichern versucht.

Ohne die ehrlichen Absichten und redlichen Bemühungen der kommunistischen Parteiführung bis heute in Abrede zu stellen, bei gleichzeitiger Würdigung der gigantischen Leistungen des chinesischen Volkes in den letzten rund 60 Jahren, siedelt Dillmann die Fehlentwicklung Chinas hin bzw. zurück zum Kapitalismus früh an, vor allem und zuerst in der Übernahme - zwecks Gesellschafts- und Wirtschaftplanung - von Begriffen und Konzepten wie Geld, Preis, Lohn und Gewinn, die jenen kapitalistischen Konkurrenzverhältnissen entstammen, welche die Revolutionäre von einst eigentlich überwinden wollten. Von dort war der Weg zu dem in den fünfziger Jahren unter der Leitung des damaligen KP-Vorsitzenden Mao Tsetung angestrebten, dem Modell Sowjetunion folgenden, "großen Sprung nach vorne" oder zu dem von Deng Xiaoping Anfang der achtziger Jahre unter Verweis auf die Erfolge der "Tigerstaaten" Südkorea, Hongkong, Taiwan und Singapur herausgegebenen Ziel einer Vervierfachung des chinesischen Bruttosozialprodukts bis zum Jahr 2000 nicht mehr weit.

Zwar hatte die KP, als sie die Macht in China eroberte, kaum eine Alternative, als die ihr einzig zur Verfügung stehende Ressource, die menschliche, so effektiv wie möglich einzusetzen, um das Land wieder aufzubauen und es vor Angriffen seitens der USA und ihrer Marionette Tschiang Kaischek, der sich nach der Niederlage im Bürgerkrieg mit seiner nationalistischen Armee nach Taiwan abgesetzt hatte, zu schützen. Gleichwohl fragt Dillmann, wozu die Opfer der chinesischen Massen gut gewesen sein sollen, wenn ab 1978 das ganze Volkvermögen zwecks Ankurbelung der "Produktivkräfte" allmählich privatisiert wurde und man zu einem System überging, in dem jeder Mensch künftig wieder allein tagein, tagaus um die Sicherung des eigenen Überlebens und dessen seiner Familie kämpfen muß. Von der dem Kommunismus zugrundeliegenden Idee der Befreiung des Menschen vom Zwang jedweder Art hat man sich wahrlich sehr weit entfernt, wenn man, wie die chinesische Regierung es vor einigen Jahren tat, sein Volk mit modernen Managementmethoden à la Harvard Business School traktieren läßt.

Ohne ihre grundsätzliche Kritik abzumildern, bringt Dillmann nicht wenig Verständnis für die Lage der chinesischen Staatsführung auf, die ihr zufolge fast notgedrungen den Kommunismus gegen den Nationalismus eingetauscht hat. Recht genau schildert sie die internationale Konkurrenzsituation, in der sich das aufstrebende China gegenüber den wirtschaftlich schwächelnden, dafür um so gefährlicheren, weil enorm hochgerüsteten Vereinigten Staaten von Amerika befindet. In diesem Zusammenhang erläutert sie die aktuellen Spannungen zwischen Peking und Washington recht präzise unter Verweis auf Problemfelder wie Nordkorea, Iran, Taiwan, Währungen und Handel.

Die heftigste Kritik spart Dillmann für westliche Scheinmoralisten auf, welche die unbestreitbaren Mißstände in der Volksrepublik wie behördliche Willkür, unzureichende Arbeitsschutzgesetzgebung, das Fehlen einer freien Presse und des Rechts auf freie Meinungsäußerung sowie schwerwiegende Umweltzerstörungen der KP anlasten. Hinter den ständigen Rufen nach "mehr Demokratie" sowie hinter der vermeintlichen Sorge um das Schicksal von chinesischen Wanderarbeitern, von Minderheitenvölkern wie den Tibetern oder den Uiguren oder von Menschenrechtlern kann die Autorin nichts anderes als das Streben bestimmter Kräfte im Westen erkennen, dem unliebsamen Konkurrenten im Osten Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

China ist nicht nur bevölkerungsmäßig ein Land der Superlative und das nicht immer im positiven Sinne. Seit 2006 ist es der weltweit größte Produzent von Treibhausgasen. In der Volksrepublik verkauft der US-Konzern General Motors inzwischen mehr Autos als im Stammland. Allein für den Ausbau des Schienennetzes hat China 2009 200 Millionen Tonnen Beton produziert; die Gesamtproduktion der USA an Beton im selbem Zeitraum betrug dagegen nur 93 Millionen Tonnen. Die Volksrepublik, die 2003 als drittes Land nach den USA und Rußland die bemannte Raumfahrt gemeistert hat, ist auch der Staat, dessen Neureiche inzwischen 27,5 Prozent der weltweit produzierten Luxusgüter verkonsumieren. Das geht aus dem jüngsten Jahresbericht der World Luxury Association hervor. Es dürfte nicht lange dauern, bis die Japaner den ersten Platz auf dieser Rangliste an den Nachbarn am westlichen Ufer des Gelben Meeres abgetreten haben.

China scheint das frühere Ziel einer egalitären Gesellschaft längst hinter sich gelassen zu haben. In der nominell sozialistischen Volksrepublik vergrößert sich die Kluft zwischen Arm und Reich beständig. In den letzten Jahren kommt es deshalb auf dem Land sowie in den Betrieben immer wieder zu spontanen Massenprotesten. Diese dürften zunehmen, wenn, wie befürchtet, sich die Folgen der aktuellen internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise in der Volksrepublik erst richtig bemerkbar machen. Das könnte bald der Fall sein. Am 11. Mai meldete die US-Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg aus China einen bedrohlichen Anstieg der Inflation, der Menge an verliehenem Geld und der Grundstückspreise. Nicht umsonst sagen einige Ökonomen China eine Immobilienkrise voraus, welche die Japans Ende der achtziger Jahre und die aktuelle in den USA übertreffen könnte. Was auch immer in nächster Zeit in der Volksrepublik geschieht, nach der Lektüre von Renate Dillmanns hochinformativem und flott geschriebenem "China: Lehrstück" wird man es auf jeden Fall besser begreifen können.

14. Mai 2010


Renate Dillmann
China: Ein Lehrstück
VSA Verlag, Hamburg, 2009
389 Seiten + Begleit-CD
ISBN: 978-3-89965-380-9