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REZENSION/532: Marc Thörner - Afghanistan-Code (Antiterrorkrieg) (SB)


Marc Thörner


Afghanistan-Code

Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie



In der Afghanistanfrage macht sich bei NATO-Politikern und -Militärs eine gewisse Resignation breit, auch wenn man dies nicht nach außen hin eingestehen will. Wegen des fehlenden Rückhalts in der Bevölkerung für den Afghanistankrieg ist im Februar die Regierung der Niederlande gestürzt. Die Kanadier und Polen bereiten schon jetzt den Abzug ihrer Truppen vor. Die neue liberalkonservative Regierung in London gibt sich eisern, könnte sich jedoch durch die enorme Staatsverschuldung Großbritanniens zu Verringerung des kostspieligen und verlustreichen militärischen Engagements im südlichen Afghanistan gezwungen sehen.

In den USA, für die der Einsatz in Afghanistan vor wenigen Tagen offiziell zum längsten Krieg ihrer Geschichte geworden ist, herrscht allgemeines Rätselraten über das weitere Vorgehen. General Stanley McChrystals im Frühjahr groß angekündigte "Entscheidungsschlacht" um die Taliban-Hochburg Kandahar ist wegen des ausgebliebenen Erfolges des Testlaufs, nämlich der NATO-Offensive in der Region von Mardschah, bis auf weiteres verschoben worden. Nun fragen sich in Washington alle, was das für Präsident Barack Obamas Zeitplan, wonach mit dem Abzug der US-Streitkräfte aus Afghanistan im Juli 2011 begonnen werden soll, bedeutet. Die Tatsache, daß McChrystals unmittelbarer Vorgesetzter, der CENTCOM-Chef General David Petraeus, vor zwei Tagen bei einer Anhörung auf dem Kapitol kollabierte, als ihm von Senator John McCain, der wegen seiner Vietnamkriegserfahrungen von sich selbst und den Medien als Kongreßmitglied mit dem meisten Sachverstand in militärischen Angelegenheiten betrachtet wird, gerade diese Frage gestellt wurde, spricht Bände über die innere Verfaßheit der außen- und sicherheitspolitischen Elite in der Imperialhauptstadt Washington.

Auch in Deutschland bleibt das Thema Afghanistan nach wie vor hochbrisant, wie der aktuelle Streit um die Auftritte von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und dem von ihm im letzten Herbst entlassenen Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wolfgang Schneiderhan, und Ex-Staatssekretär Peter Wichert vor dem Kundus-Untersuchungsausschuß zeigt. Um dem Grundgesetz formal gerecht zu werden, halten die allermeisten Politiker in Berlin an der vom früheren Verteidigungsminister Peter Struck formulierten Begründung für den Afghanistaneinsatz, Deutschland verteidige sich am Hinkusch, eisern fest. Die umstrittenen Äußerungen Horst Köhlers über die angebliche Notwendigkeit der militärischen Absicherung der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands im Ausland, weswegen er vor wenigen Tagen als Bundespräsident zurückgetreten ist, lassen jedoch erkennen, daß es in Afghanistan um das Ringen um Macht, Einfluß und Ressourcen geht. Nicht umsonst plädiert zu Guttenberg für eine Abschaffung der Wehrpflicht, um mit einer reinen Berufsarmee, natürlich unterstützt von Privatunternehmen aus dem militärisch-industriellen Bereich, den nicht näher spezifizierten Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden - womit die Bundesrepublik, die sich zwischenzeitlich als "Friedensmacht mitten in Europa" gefeiert hatte, natürlich beim guten, alten bzw. neuen Kolonialkrieg landete.

Doch wenn Marc Thörner mit seinem neuen Buch Recht hat, und dafür scheint wirklich alles zu sprechen, führen die Deutschen in ihrem Verantwortungsbereich in Nordafghanistan längst genauso einen klassischen Kolonialkrieg, wie es die NATO-Verbündeten USA und Großbritannien in den an Pakistan angrenzenden, südlichen Provinzen tun, nur mit bisher weniger Toten. Wie zuletzt in "Der falsche Bart" [1] zieht Thörner, der Geschichte und Islamwissenschaft studiert hat, häufiger in dem Teil der Welt zwischen Atlasgebirge und Kaschmirtal zugange ist und 2009 wegen seiner erhellenden Berichterstattung über den "Antiterrorkrieg" den Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus erhielt, in "Afghanistan-Code" erneut gegen die These vom Kampf der Kulturen zwischen dem säkular-demokratischen Westen und der rückständigen Welt des Islams erfolgreich zu Felde. In seiner "Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie" klärt er auf, warum mit solch reduziertem Schwarzweißdenken die komplizierte, unübersichtliche Lage in Afghanistan nicht zu verstehen ist.

Lediglich von einem einheimischen Fahrer und Dolmetscher namens Harun begleitet, reist Thörner zunächst im Norden Afghanistans umher und macht sich ein Bild von der Region, in der die Bundeswehr für die Sicherheit zuständig ist, jedoch offenbar hauptsächlich damit befaßt ist, die Verluste unter den eigenen Soldaten auf einem Minimum zu halten, weshalb die allermeisten von ihnen ihren Stützpunkt Camp Marmal niemals verlassen. Er geht Berichten von tödlichen Überfällen ausländischer Soldaten auf Dörfer nach, trifft sich unter anderem dabei mit paschtunischen Stammesführern, Vertretern der Hizb Islami des ehemaligen afghanischen Premierministers und heutigen Taliban-Verbündeten Gulbuddin Hekmatyar, dem Gouverneur der Provinz Balkh, Mohammed Atta, und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. Von Wiederaufbau und Einführung der Demokratie kann lange nicht mehr die Rede sein. In Afghanistan arbeitet die NATO - im Fall des Regionalkommandos Nord die Bundeswehr - mit korrupten und brutalen Warlords, Drogenbossen und religiösen Fanatikern zusammen gegen das einfache Volk. Kritische Journalisten, Islamreformer, aufmüpfige Studenten sowie Frauen- und Menschenrechtler, die gern das Rückgrat einer aufgeklärten Zivilgesellschaft stellten, werden allen hehren Beteuerungen aus Berlin, London, Paris und Washington zum Trotz aus realpolitischen Gründen im Stich gelassen.

Auf der Suche nach einer Antwort, wie es hierzu kommen konnte, beleuchtet Thörner die Ideen und das Wirken zwei der wichtigsten Vorbilder der modernen Aufstandsbekämpfung: Roger Trinquier, der in den fünfziger Jahren als französischer General in Algerien und Vietnam wichtige Erkenntnisse auch in Sachen Folter gewonnen zu haben scheint - jedenfalls werden sie von den Amerikanern angewandt - und Großmarschall Hubert Lyautey, der Ende des 19. Jahrhunderts Marokko mit der französischen Armee und der Hilfe lokaler Potentaten "befriedete". Von letzterem stammt das Bild der ölfleckartigen Inseln der "Sicherheit" im Feindesland, die man peu-à-peu ausweitet, bis man die Aufständischen von der Zivilbevölkerung getrennt und vernichtet und letztlich das ganze Gebiet unter seine Kontrolle gebracht hat. Unter der Bezeichnung COIN, einer pentagoneigenen Abkürzung des Wortes Counterinsurgency, versuchen McChrystal, Petraeus und die NATO-Generalität in Afghanistan bislang vergeblich die Männer um Mullah Omar, den bereits erwähnten Hekmatyar und Jalaluddin Hakkani in die Knie zu zwingen.

Auch wenn die von Thörner beschriebenen Erfahrungen aus dem letzten Jahr stammen, bleibt seine Analyse der Lage in Afghanistan hochaktuell, während seine Auswahl an Situationen und Ansprechpartnern dem Leser einen hervorragenden Einblick in die Verhältnisse des von der NATO besetzten Afghanistans gewährt, in dem die von Barack Obama befohlene Truppenaufstockung auf Hochtouren läuft und die Nordatlantiker mit einem gigantischen materiellen Aufwand einen vorzeigbaren Sieg gegen die ressourcentechnisch minderbemittelten Taliban erzwingen wollen. Das Verrückte am Vorhaben der Obama-Regierung ist, daß man diesen Sieg angeblich nur will, um aus Gründen der Public Relations mit den Taliban aus einer Position der Stärke heraus über eine dauerhafte Friedenslösung verhandeln zu können. Letztlich scheitert Thörner an der selbstgestellten Aufgabe, den Afghanistan-Code, nämlich den eigentlichen Grund für die westliche Militärpräsenz am Hindukusch, zu knacken. Dies liegt nicht an Thörner selbst, sondern an der Tatsache, daß niemand sagen kann, was der Grund ist. Die Aufnahme immer weiterer Teile von Süd- und Zentralasien in den Verantwortungsbereich des Pentagons scheint einfach aus dem institutionellen Selbsterhaltungstrieb des weltumspannenden Basenimperiums der USA, das längst Anzeichen einer chronischen Überdehnung aufweist, zu resultieren.

So birgt Thörners Bericht über sein Intermezzo als "eingebetteter" Journalist bei den US-Truppen am Forward Operating Base (FOB) Salerno in der südafghanischen Grenzprovinz Khost jede Menge unfreiwilliger Komik. Man könnte glauben, Thörner sei versehentlich in eine moderne Version von Joseph Hellers "Catch 22" geraten, wo sich der Krieg nach seiner eigenen, für den rational denkenden Menschen nicht erfaßbaren Logik unaufhaltsam entfaltet. Eines schönen Tages, der Warterei auf eine Zuteilung bei irgendeiner Aktion im Rahmen Operation Enduring Freedom überdrüssig, steigt Thörner einen nahegelegen Berg, auf dem ein Wachturm steht, hoch. Kurz bevor er den Betonbau erreicht, wird die Luft von zwei ohrenbetäubenden Explosionen erschüttert. Thörner flüchtet sich in den Wachturm hinein. Folgende Szene ergibt sich:

Hier saßen zwei lateinamerikanische wirkende GIs namens Velez und Ortiz. Sie saßen schon sehr lange hier. Und eigentlich saßen sie hier jeden Tag hier. Sie saßen hier, weil sie hier saßen, auf ihrem ganz privaten Zauberberg. Ich händigte ihnen die Genehmigung des Lieutenants aus. Willkommen, sagten sie - sichtlich erfreut über die Abwechslung. Was es mit den Detonationen auf sich hatte, das wollten oder konnten sie nicht erklären.

"Grundsätzlich" werde das Lager des Öfteren mit Raketen beschossen. "Eine ist etwa fünfzig Meter von unserem Turm eingeschlagen", kicherte Velez. "Ich habe mir fast in die Hosen gemacht. Junge, es war wie im Film. Der ganze Posten hat gewackelt. Ein paar Meter weiter und das wär's für uns gewesen."

Gibt es dann Gegenreaktionen? Ortiz nickte.

"Zurück schießen wir immer."

Wohin? Ortiz zuckte mit den Achseln. "Da drüben soll Pakistan liegen."


18. Juni 2010



Fußnote:

1. Siehe im Schattenblick.de -> INFOPOOL -> BUCH -> SACHBUCH:

    REZENSION/423: Marc Thörner - Der falsche Bart (Antiterrorkrieg) (SB)


Marc Thörner
Afghanistan-Code
Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie
Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenberg, Hamburg, 2010
156 Seiten
ISBN: 978-3-89401-607-4