Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/549: Steffen Stierle - Reichtum & Armut: eine Verteilungsfrage (SB)


Steffen Stierle


Reichtum & Armut: eine Verteilungsfrage



Bereits mit dem Titel "Reichtum & Armut: eine Verteilungsfrage" positioniert sich der Buchautor Steffen Stierle als Vertreter einer reformistischen Veränderung der Gesellschaft. Mit der von ihm vorgeschlagenen anderen Verteilung würden Armut und Reichtum nicht aus der Welt geschafft, sondern modifiziert. Aus heutiger Sicht würde eine neue Verteilungsordnung womöglich als gerechter empfunden werden, aber solange die prinzipielle Möglichkeit der Bereicherung besteht, wird zwangsläufig Armut produziert.

Konsequenterweise dürfte man genau nicht von einer Verteilungsfrage sprechen, wollte man die vorherrschenden Verhältnisse grundlegend ändern. Tut man es dennoch, wird der eigenen Analyse Grenzen gesetzt. Das drückt sich dann in vagen Formulierungen aus wie: "Dass Armut und Reichtum zusammenhängen, liegt auf der Hand. Was der eine hat, das kann die andere nicht haben. (...) Armut und Reichtum sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer Armut bekämpfen will, der muss auch Reichtum bekämpfen. Es geht um eine gerechtere Verteilung." (S. 14)

Wer wie der Autor Armut und Reichtum als Gegensatzpaar auffaßt und beides in Form einer Umverteilung "bekämpfen" will, ignoriert die Grundlage der national wie global zu verortenden Produktionsverhältnisse, die Ausbeutung bzw. den Raub. Wo die Produzenten von den Produktionsmitteln getrennt werden, werden deren Eigner in die Lage versetzt, sich den von den Produzenten geleisteten Mehrwert anzueignen. Die Akkumulation des Kapitals in den Händen von wenigen entspricht der Erzeugung von Mangel bei vielen Menschen. In den sogenannten Entwicklungsländern treibt dieses System Milliarden Menschen in Armut. Durch die Produktionsverhältnisse wird der Unterschied zu den relativ wohlhabenden Staaten aufrechterhalten. Zugespitzt gesagt wird durch die Forderung nach Umverteilung lediglich der Anspruch erhoben, daß mehr Menschen von der Bereicherung profitieren sollen. Die Verarmung an sich wird damit nicht behoben.

Steffen Stierle, Volkswirt und Mitglied im Attac-Koordinierungskreis, stellt verschiedene Konzepte vor, wie eine gerechtere Verteilung aussehen könnte, und befürwortet schließlich den demokratischen Ansatz, wonach die Verteilung dann gerecht sei, wenn die "größtmögliche Akzeptanz" in der Bevölkerung erreicht wird (S. 15). Dieser Definitionsversuch läßt entscheidende Fragen offen. Wer bestimmt, was "größtmöglich" ist? Hochwahrscheinlich besteht innerhalb einer Gesellschaft über die Grenze dessen, was an Umverteilung "möglich" ist und was nicht, kein Konsens. Dennoch eine Grenze festzulegen hieße, denen Gewalt zuzufügen, die eine abweichende Vorstellung zu der der politischen Entscheidungsträger haben. Ein einfaches Beispiel: Wenn die Bundesregierung sagt, daß der Hartz-IV-Regelsatz nur um fünf Euro pro Monat erhöht werden muß, dann ist aus Sicht der Regierung das eine Grenze, über die hinaus keine weitere Verteilung "möglich" ist. Ein von dieser Mangelverwaltung Betroffener dürfte das anders sehen.

Zudem könnte in einer Gesellschaft, in der die sozialrassistischen Ausflüsse eines ehemaligen Berliner Finanzsenators und Bankmanagers allgemeinen Zuspruch erfahren und zum Mega-Bestseller gerinnen, die "größtmögliche Akzeptanz" der Verteilung darin bestehen, die bestehenden neofeudalen Verhältnisse zu qualifizieren, dazu die Sozialleistungen weiter zu kürzen und den Raubzug in den Armutsländern skrupelloser denn je durchzuziehen. Das wäre sicherlich nicht im Sinne Stierles, würde aber durch seine Fürsprache der demokratischen Verteilungsordnung im Sinne einer "größtmöglichen Akzeptanz in der Bevölkerung" gedeckt.

Der Autor hat das 96seitige Büchlein, das im vergangenen Jahr als Nummer 34 in der Reihe AttacBasis Texte des VSA-Verlags erschienen ist, in sechs Hauptkapitel unterteilt. Nach dem einführenden Abschnitt mit definitorischen Erläuterungen zu Armut, Reichtum und gerechter Verteilung widmet er sich der "Wohlstandsverteilung in Europa" (Kapitel 2) und fordert im anschließenden Kapitel, "Alternativen I: Einnahmen und Ausgaben des Staates", eine Umverteilung durch Steuern sowie das Trockenlegen von Steueroasen. Umgekehrt spricht er sich für das "universalistische Wohlfahrtsregime" nach skandinavischem Vorbild aus, auch wenn sich in den letzten Jahren "dort einiges zum Schlechteren gewandelt" habe (S. 52). Schließlich propagiert er das von Attac entwickelte Modell der solidarischen Bürgerversicherung (Kranken- und Rentenversicherung), an deren Finanzierung alle Einkommen, unter anderem durch Abgaben auf Unternehmensgewinne, beteiligt werden sollen. Durch die Abschaffung der privaten Altersvorsorge wiederum würde verhindert, daß "gigantische Geldsummen" in die Finanzmärkte gepumpt werden. Das gegenwärtige System trage nämlich maßgeblich zu den "abartigen Auswüchsen" der Finanzmärkte bei (S. 53), stellt der Autor fest.

Auch an solchen Formulierungen wird erkennbar, daß Stierle die Entstehung von Armut als Folge der Bereicherung nicht an der Wurzel angreift, sondern daß er unerwünschte "Auswüchse" beschneiden will. So spricht er sich im fünften Kapitel für die "globale Finanztransaktionssteuer" aus, um darüber "wichtige" Einnahmen zur Bekämpfung der Armut zu generieren (S. 83). In der Konsequenz läuft dieser Vorschlag, der zu den Gründungsforderungen des Attac-Netzwerks gehört, darauf hinaus, daß der globale Finanzverkehr kräftig angeheizt werden müßte, um die Einnahmen zur Armutsbekämpfung zu vermehren. Somit unterscheidet sich diese Idee nicht von ihrem vermeintlichen Gegenstück, dem neoliberalen Lehrsatz, wonach eine Senkung der Unternehmensbesteuerung und das Ausräumen jeglicher Handelsbeschränkungen das Mittel der Wahl zur Armutsbekämpfung darstellen. Nach dem Motto: Wenn der Tisch der Reichen bis über die Kante hinaus beladen wird, fällt um so mehr für das Fußvolk ab.

"Eine andere Welt ist möglich!" überschreibt Stierle das abschließende, sechste Kapitel und bemüht sich darin, die zuvor formulierten reformistischen Ideen wieder etwas zurückzunehmen, indem er konstatiert: "Die Utopien einer anderen Welt können nicht in einem Gesellschaftsmodell münden, das zwar durch sozialstaatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen Ungleichheiten reduziert, aber dennoch auf dem Prinzip der Konkurrenz zwischen Menschen, Unternehmen und Staaten beruht." (S. 87) Die andere Welt könne nur als ein "solidarischer Zusammenschluß von Milliarden individueller und unabhängiger Lebenswelten" verstanden werden. Überall auf der Welt brächen bereits Menschen auf, sich in solidarischen Zusammenschlüssen die "Freiräume" zu schaffen, die sie bräuchten, um ihre andere Welt zu leben - eine Behauptung, die reichlich hoffnungsgetragen wirkt, wird doch jeder Freiraum stets durch seine Begrenzung bestimmt.

Eingedenk der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise und des Demokratieabbaus spricht Stierle die Notwendigkeit einer internationalen Solidarität an: "Nur eine eindrucksvolle, große, solidarische und organisierte Widerstandsbewegung ist noch in der Lage, den Sand ins Getriebe der Umverteilungsmaschinerie zu streuen, den es braucht, um dem autoritären Neoliberalismus Einhalt zu gebieten." (S. 91)

So verlockend die Vorstellung sein mag, mit etwas Sand an den passenden Stellen das globale Verwertungssystem aufhalten zu können, werden dabei die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu gering geschätzt. Wenn die vorherrschenden gesellschaftlichen Interessen in der Lage sind, eine riesige, weltweite "Umverteilungsmaschinerie" zu betreiben, werden sie auch fähig sein, das Einbringen von Sand ins Getriebe zu verhindern; schließlich hat es im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder entsprechende Störversuche, teils mit sehr viel radikaleren Mitteln, gegeben. Zeigt nicht aktuell die Entschärfung des Widerstands gegen das Projekt "Stuttgart 21" durch das mit der Maske eines Mediators aufgetretenen Attac-Mitglieds Heiner Geißler, wie weit entwickelt die Herrschaftstechnologien sind?

2. Januar 2011


Steffen Stierle
Reichtum & Armut: eine Verteilungsfrage
VSA Verlag, Hamburg 2010
96 Seiten, 6,50 Euro
ISBN: 978-3-89965-398-4