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REZENSION/551: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik - Deutsche Zweiheit ... (SB)


Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik


Deutsche Zweiheit - Oder: Wie viel Unterschied verträgt die Einheit?

Bilanz der Vereinigungspolitik



Gerüchte haben die Eigenschaft zur selbstinduzierten Dynamik. Von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund können sie mitunter Kontinente überwinden oder gar ein Geschichtsbild prägen. Eine solche zur Geschichte gewordene Legende ist der Staatsbankrott der DDR, der als politische Legitimierung für die sogenannte Wiedervereinigung vereinnahmt wurde. Ihr zufolge mußte der Arbeiter- und Bauernstaat nicht nur aufgrund seiner Demokratiedefizite, sondern auch seiner Mißwirtschaft von der Weltbühne verschwinden und damit das staatssozialistische Scheitern besiegeln.

Das Verwertungssystem der BRD schien den systemischen Sieg über den mißliebigen Nachbarn, der sich aus den Trümmern einer zerschlagenen Welt menschenfeindlicher Ideologie aufgemacht hatte, um den Traum von einem klassenlosen Miteinander aller Menschen zu verwirklichen, errungen zu haben. Die Utopie, laut der die produktive gesellschaftliche Arbeit im gemeinsamen Schweiß der Werktätigen nie wieder in profitgetriebener Wertabschöpfung entufere und mit ökonomischen wie kriegerischen Feldzügen weltweite Verelendung und millionenfachen Hungertod über die Menschheit bringe, sollte ein für alle mal erledigt sein.

War die DDR wirklich staatsbankrott und mußte alternativlos das Handtuch werfen, weil ihre Überschuldung von der Arbeitsproduktivität nicht mehr aufgefangen werden konnte? An diese Frage ist mehr geknüpft als die simple Bilanz auf dem Konto des Systemvergleichs. 1989 fiel die Mauer, als Tausende von Demonstranten der Forderung nach mehr politischer Selbstbestimmung mit der skandierten Losung "Wir sind das Volk" Geltung verschafften. Haben sie das Glück jenseits der Mauer auf der Sonnenseite des Konsums gefunden? Haben sie mehr gefunden, als sie verloren, indem sie den abgebrochenen Pfad sozialistischer Gesellschaftsentwicklung gegen die kapitalakkumulierende Verheißung tauschten?

In dem von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik verfaßten Buch "Deutsche Zweiheit - Oder: Wie viel Unterschied verträgt die Einheit?" wird Bilanz nach 20 Jahren Vereinigungspolitik gezogen. Dabei diente die kritische Analyse der vermeintlichen Staatspleite der DDR lediglich dem Einstieg in das Hauptthema des Buches, die aus dem Anschluß der DDR an das Gebiet des Grundgesetzes resultierenden sozialen Disparitäten. Dieser Ansatz erlaubt eine weiterreichende Aufschlüsselung dieses historischen Ereignisses in seinen Vorwehen und widersprüchlichen Folgen: "einerseits die Erweiterung politischer Freiheitsrechte und Verbesserungen auf vielen Gebieten und andererseits tiefe Einschnitte in den Möglichkeiten zur Teilhabe an der Erwerbsarbeit und der sozialen Sicherheit" (S.7).

Auf der Basis rein wirtschaftlicher Vergleichstatistiken ließ sich die DDR so vor dem Hintergrund ihres Gesellschaftsentwurfs, der in strikter Abkehr zur Hegemonialgeschichte kapitalistischer Verwertungspraxis konzipiert wurde, untersuchen. Auch die verschieden gelagerten Entwicklungsvoraussetzungen zwischen der DDR und BRD nach Ende des Zweiten Weltkrieges sowie die durch die jeweilige politisch-militärische Einbindung in die NATO bzw. in die Warschauer Vertragsorganisation polarisierten Chancen zum Aufbau menschenwürdiger Arbeits- und Lebensverhältnisse fanden Eingang in die Analyse.

Dem Buch ist der große Wurf und Wendekreis der Umdeutung einer im politischen Sinne verklärten Vereinigung in die Profit- und Wirtschaftsinteressen der BRD gelungen. Dabei betreiben die Autoren den Systemvergleich der sozialökonomischen Prozesse mit wissenschaftlicher Sachlichkeit. Einseitige Parteinahme für das eine oder andere Gesellschaftsmodell kann man ihnen auch seitens der Apologeten der herrschenden Ordnung nicht anlasten. So werden die verschiedenen Wirtschaftstendenzen und Zukunftsperspektiven in ihren Vor- und Nachteilen akribisch gegeneinander gestellt. Die Autoren stellen ihr Anliegen mit den Worten vor, "eine empirisch gestützte differenzierte Analyse und Bewertung der ökonomischen und sozialen Entwicklung in Deutschland seit der Vereinigung mit dem besonderen Schwerpunkt des Umbaus in Ostdeutschland vorzulegen" (S.8).

Die Lesart mag zuweilen trocken und spröde wirken, der hohe Informationsgehalt wiegt diese Unpäßlichkeit jedoch allemal auf. Der Leser sieht sich mit Argumenten und Tatsachen konfrontiert, die in anderen Publikationen zum Thema entweder ins Abstruse verrutscht sind oder gar nicht aufgearbeitet werden. Da ist kein Raum für politische Häme über den Fall der DDR, schon deshalb, weil mit dem antikommunistischen Bade nicht das gesellschaftspolitische Kind, die faktischen Errungenschaften des sozialistischen Staatsmodells, ausgeschüttet werden sollen: "Aus politischen Gründen wurde verhindert, positive Erfahrungen der DDR auf verschiedenen Gebieten - wie in der Bildung, im Gesundheitswesen, bei der Kinderbetreuung und bei der Gleichberechtigung von Frauen - auszuwerten und zu nutzen" (S.9).

Der schon in der Entstehungsgeschichte der BRD angelegte neoliberale Entwicklungspfad mit den Leitplanken der Sicherung des Privateigentums, der sozialen Marktwirtschaft, der Erwerbskonkurrenz und repräsentativen Demokratie schaffte zwar zunächst ein florierendes ökonomisches Wachstum, demaskierte sich aber nach den Wirtschaftswunderjahren durch den beschleunigten und rigorosen Abbau des Sozialstaates.

Im Osten war man dagegen den Weg der Enteignung des Großkapitals an Produktionsmitteln und Landbesitz, der Verstaatlichung und Überführung in das Volkseigentum, einer zentralen Planwirtschaft und der Parteienherrschaft der SED gegangen, mit dem Ziel, die wirtschaftliche Produktivleistung nicht partikularen Profitinteressen zu opfern, sondern auf das Gemeinwohl auszurichten und so die Arbeitskraft gegen Ausbeutung zu schützen.

"Nach übereinstimmenden wirtschaftshistorischen Untersuchungen waren die West-Ost-Unterschiede im Industrialisierungsgrad und im Produktionsniveau nach Kriegsende gering" (S.22). Auch wenn die wirtschaftlichen Startbedingungen für die beiden Gesellschaftskonzepte auf deutschem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg annähernd gleich waren, traten durch politische Entwicklungen und im Zuge des sich früh abzeichnenden Kalten Krieges erhebliche Disparitäten auf. So wurden die von den Alliierten festgelegten Wiedergutmachungsleistungen an die Sowjetunion in den Westzonen nach und nach eingestellt, so daß die DDR faktisch die gesamte Reparationslast, vor allem durch die Demontagen von Industrie- und Verkehrsanlagen, alleine tragen mußte. Diese substantiellen Rückstände beim Anlagevermögen und dem damit verbundenen geringeren Produktivitätsniveau konnte die DDR im Vergleich zur BRD nie aufholen.

Auch die Wirtschaftshilfen aus den USA wie zum Beispiel durch den Marshallplan und die Währungsreform von 1948 mit der Fixierung eines günstigen Wechselkurses der D-Mark gegenüber dem US-Dollar, die die westdeutsche Exportwirtschaft enorm ankurbelten, trugen zu den im Vergleich erschwerten Bedingungen im Aufbau der DDR-Gesellschaft bei. Es hat in der frühen Zeit beider Gesellschaftsmodelle nach Ansicht der Autoren darüber hinaus verschiedene Gründe für die Ausbremsung der Innovationskraft und Effizienz der DDR-Wirtschaft gegeben. Neben der Abwanderung von Fachkräften in die BRD und der Embargopolitik des Westens bei der Hochtechnologie waren dies die systemischen Schwächen der Planwirtschaft und der Mangel an demokratischer Mitbestimmung.

Zwar erzielte die westdeutsche Ökonomie von Anfang der 1950er Jahre an hohe Wachstumsraten durch den Ausbau einer exportgetriebenen Wirtschaft unter anderem durch Rüstungsaufträge im Zusammenhang mit dem Korea-Krieg ("Koreaboom"). Andererseits wird in dem Buch nicht außer acht gelassen, daß der anfängliche Wirtschaftsaufschwung der BRD seit Mitte der 1970er Jahre zu struktureller Massenarbeitslosigkeit, verringerten Investitionsquoten, geringeren Steigerungsraten der Arbeitsproduktivität und einer chronischen Überakkumulation führte, was einherging mit dem Abbau sozialstaatlicher Regulative und der Förderung der Kapitalinteressen und Profitmaxierung zu Lasten lohnabhängiger Arbeit.

"Der Tendenz zur Verschiebung in den Verteilungsverhältnissen wurde nicht entgegengesteuert, sondern durch Steuersenkungen für die Unternehmen und die Reichen sowie durch die Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme wurde die Schieflage noch verschärft" (S.31). Mit dem Ende der Ära des Rheinischen Kapitalismus Anfang der 1980er Jahre erfolgten die Deregulierungswellen in immer kürzeren Zeiträumen und forcierten aus der realwirtschaftlichen Überakkumulation heraus eine zunehmende Dominanz des Finanzkapitals, da die Gewinne "verstärkt in Finanzanlagen investiert" (S.32) wurden, was eine "Ausrichtung am Typus der Shareholder-value-Kapitalismus" (S.33) zur Folge hatte. Vermögensverwalter und Kapitalfonds betrieben eine drastische Kostenreduktion in Form von Personalabbau und Lohndruck, so daß "heute wieder eine Einkommensungleichheit wie Ende der 1920er Jahre" (S.33) vorliegt und "angesichts hoher Produktivität ein relevanter Teil der Lohnarbeitsbevölkerung dauerhaft aus der gesellschaftlichen Arbeit ausgegrenzt bleibt und mit sozialstaatlichen Transfers alimentiert wird" (S.34).

Die Erfolgsgeschichte der bundesrepublikanischen Wirtschaft war also nach Ansicht der Autoren die Folge einer Verselbständigung und materiellen Vertiefung des gesellschaftlichen Widerspruchs zwischen Arbeit und Kapital, der heutzutage durch die systematische Abkoppelung von Hartz-4-Empfängern aus den Erwerbsperspektiven und einer sprunghaft wachsenden Zahl von Obdachlosen und Rentnern, die ihre Grundversorgung nicht mehr oder nur noch notdürftig decken können, eine hochqualifizierte Stufe der Abhängigkeit erreicht hat.

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat vor diesem Hintergrund die Entwicklungsphasen und das Scheitern der DDR als sozialistisches Gesellschaftsmodell akkurat nachgezeichnet und dabei durchaus der Problematik eines bipolaren Systemvergleichs mit einer differenzierten Bewertung der inneren Wirtschaftskreisläufe und Reproduktionsschwerpunkte Rechnung getragen. Die Reduktion auf den abstrakten Indikator des Wirtschaftswachstums bot in den Augen der Autoren keine ausreichende Bewertungsgrundlage für den Abgleich zwischen DDR und BRD, da die "Veränderungen in den Produktionsstrukturen, die Übereinstimmung des Warenangebots mit der Bedarfsentwicklung, die Innovativität der Produkte und Technologien und die Effizienz des gesamten Reproduktionsprozesses" (S.37) im Rahmen und Entwurf der jeweiligen Gesellschaftsgeschichte zu untersuchen wäre.

In der von der SED 1971 verkündeten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde der Schwerpunkt auf die Erhöhung des Wohlstands der Bevölkerung gelegt, ein "an sich richtiges, auf die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen gerichtetes Ziel". Sein gesellschaftspolitischer Wert wurde, wie die Autoren feststellen, allerdings durch Motiviationsschwächen bei der Arbeitsproduktivität gemindert, zudem war die soziale Ausrichtung des planwirtschaftlichen Modells anfällig für gravierende "Veränderungen des außenwirtschaftlichen Umfelds" (S.39). Das grundlegende Problem, die Werktätigen an die Bänder industrieller Massenproduktion zu stellen und ihre Produktivität mit Elementen tayloristischer Arbeitsorganisation zu steigern, wurde auch in der DDR nicht gelöst und bietet Anlaß zu grundsätzlicher Kritik am fremdbestimmten Charakter auch einer in staatseigenen Betrieben vollzogenen Form von Lohnarbeit.

Anders als in der BRD war die Versorgung aller Mitglieder der Gesellschaft mit den Grundbedürfnissen des Lebens die Mindestvoraussetzung für eine gesamtwirtschaftliche Produktivität, während in der Bundesrepublik und ihrer auf Leistungsprinzipien gegründeten Wirtschaftsweise ein Härteausgleich vorgesehen war mit dem Modell einer Wohlfahrtsgesellschaft, das allerdings nur solange Bestand hatte, als es den Profiterwartungen der besitzenden Klasse und ihrer unmittelbaren Nutznießer nicht im Wege stand. Der allgemeine Wohlstand in der BRD stand in direkter Abhängigkeit nicht nur zur Wirtschaftsentwicklung, sondern auch der Legitimationserfordernisse eines durch die sozialistische Staatenwelt herausgeforderten Kapitalismus, was dem daraus resultierenden Klassenkompromiß nach deren Niedergang die Grundlage entzog. Seitdem werden die Errungenschaften historischer Arbeitskämpfe sukzessive zurückgenommen, begünstigt durch die Schwäche jener Gewerkschaften, die es nicht geschafft haben, der neoliberalen Standortlogik die radikale Solidarität der Lohnabhängigen wie Erwerbslosen entgegenzustellen.

So spielt die Dynamik des Systemvergleichs für die Analyse der Entwicklung der DDR-Wirtschaft eine erhebliche Rolle. Das gesamtgesellschaftliche Produkt wuchs "von 1950 bis 1989 etwa in gleichem Tempo wie das der Bundesrepublik" (S.36). Daß die DDR "bis zum Ende dem in die Krise geratenen fordistischen Produktions- und Konsumtionsmodell verhaftet" (S.47) blieb, war den Autoren nur ein Indiz für die schwächeren Wirtschaftsdaten gegenüber der BRD, nicht aber wesentlicher Grund für das Scheitern der DDR. Denn "auch für die 1970er und 1980er Jahre gilt, daß die vorgenommenen Erhöhungen der Einkommen und Sozialleistungen überwiegend durch die eigene wirtschaftliche Leistung und nicht durch Auslandsschulden gedeckt wurden" (S.39).

"Für Waren des Grundbedarfs und für Dienstleistungen der Daseinsvorsorge gab es in der DDR hohe staatliche Preissubventionen zur Sicherung eines stabilen Niveaus der Preise und Tarife für die Bevölkerung (Mieten, Tarife für Energie, Wasser)" (S.39). Darüber hinaus waren Bildungs- und Gesundheitsleistungen für die Bevölkerung unentgeltlich und Kita- und Ferienplätze preisgünstig. "Das relative Einkommensniveau je Person erreichte in Arbeitnehmerhaushalten der DDR infolge des im Vergleich zu Westdeutschland höheren Beschäftigungsgrades der Frauen (größerer Anteil von Doppelverdienerinnen bzw. -verdienern je Haushalt) und der Subventionen ('zweite Lohntüte') rund zwei Drittel des Westniveaus." (S.40)

Nun kamen jedoch im letzten Zeitabschnitt der Existenz der DDR "die Verschärfung der Absatz- und Preisprobleme in den Außenhandelsbeziehungen und der Rückgang der Lieferungen von Erdöl und anderen Rohstoffen aus der Sowjetunion" als retardierende Faktoren hinzu (S.36). Die Einschränkung eines freien Zugangs zum Weltmarkt hatte indes einen politischen Hintergrund. "Die BRD hatte in der Hallstein-Doktrin offen den Grundsatz ihrer Deutschlandpolitik formuliert: Es gibt nur einen deutschen Staat! Diese Maßgabe wurde mit außenpolitischem und ökonomischem Druck derart durchgesetzt, daß es die übrige Welt in den ersten zwanzig Jahren der DDR-Existenz (...) nicht wagte, diplomatische Beziehungen mit ihr aufzunehmen" (S.46).

Damit legten die Autoren den Finger in die eigentliche Wunde. Keine Industrienation kann auf Dauer ohne hinreichende Absatzmärkte und Devisen, die für den Import von Rohstoffen dringend benötigt werden, bestehen. Für die DDR war die Sowjetunion über einen langen Zeitraum ein stabiler Hauptrohstofflieferant gewesen. "70 Prozent des DDR- Imports aus der Sowjetunion entfielen auf Energieträger, Rohstoffe und Material. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre trat bei den Rohstoffbezügen der DDR eine dramatische Lage ein: Die Sowjetunion erklärte, nur die Hälfte des geplanten DDR-Bedarfs an Erdöl, Erdgas, Walzstahl, Aluminium, Kautschuk, Kupfer u.a. liefern zu können" (S.43). Und "1982 kam es zu einer weiteren Reduzierung der Erdöllieferungen um jährlich zwei Millionen Tonnen" (S.44).

Dies und der Umstand, daß die DDR-Wirtschaft dazu beitragen sollte, "den Industrialisierungsrückstand des Riesenlandes aufzuholen, den 'Maschinenhunger' der sowjetischen Landwirtschaft zu stillen sowie den Bedarf an Transportausrüstungen und Infrastruktureinrichtungen zu decken" und "die sowjetische Ökonomie von zivilen Aufgaben [zu] entlasten, um ihr den Rücken für die Rüstungsproduktion freizuhalten" (S.44), führten dazu, daß die Außenhandelsbilanz der DDR mit dem devisenstarken Ausland, ungeachtet dessen, daß viele Erzeugnisse vor allem im Maschinen- und Anlagenbau bei westlichen Partnern eine hohe Wertschätzung genossen, zunehmend in Bedrängnis geriet und für die eigene Inlandsverwertung immer weniger Produkte zur Verfügung standen, das Warenangebot sank und sich häufig lange Schlangen vor den Kaufhäusern bildeten.

"Die Widersprüche zwischen den hohen Exporterfordernissen zur Sicherung dringender Importe sowie den Verpflichtungen aus dem Schuldendienst" (S.49) spitzten sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in erheblichem Maße zu. Dennoch gelangen die Autoren zu der Schlußfolgerung: "Aber eine kritische Analyse der Stärken des DDR-Handels und der politische Wille, sie im Interesse des Arbeitsplatzerhalts für Hunderttausende zu nutzen und auszubauen, hätte den abrupten Absturz der Umsätze verhindern können", zumal der Exportüberschuß der DDR gegenüber der Sowjetunion in den 1980er Jahren beträchtlich war. "An ihrem Ende hatte die DDR Guthaben gegenüber der Sowjetunion in Höhe von 7,4 Milliarden Transferrubel." (S.46)

Der These vom Staatsbankrott der DDR fehlt damit die Stichhaltigkeit einer bilanzwirtschaftlichen Beweisführung. Vielmehr zeigt das Buch auf, daß die DDR trotz massiver Entwicklungsrückstände in ihren Gründungsjahren, der rigiden Obstruktionspolitik seitens der BRD und einer im Klima des Kalten Krieges heruntergedrosselten Außenhandelswirtschaft durchaus in der Lage war, ihren Bürgern eine frei zu gestaltende gesellschaftliche Zukunft und Perspektive zu gewährleisten. Ausgemergelte Gestalten oder einen lebensgefährdenden Hunger hat es in der DDR jedenfalls nicht gegeben, allerdings auch keinen freizügigen konsumorientierten Hedonismus wie im Westen.

Damit schließt das Buch das Kapitel zur volkswirtschaftlichen Analyse einer sozialistisch ausgerichteten Gesellschaftsordnung, deren Produktivkraft in den Dienst ihrer Bürger gestellt wurde, deren Scheitern jedoch keineswegs ökonomisch definiert werden kann. Daß die DDR-Wirtschaft zweifellos beträchtliche Defizite im Innovationsprozeß sowie in ihren Verflechtungen mit den internationalen Märkten aufwies, bleibt nicht unerwähnt, wird aber nicht zum ideologischen Totschlagargument hochstilisiert. Die Mär vom Staatsbankrott hatte eine Vorgeschichte. So wurde die Westverschuldung im sogenannten Schürer-Papier vom Februar 1990, für das Gerhard Schürer, der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, verantwortlich zeichnete, völlig überhöht mit 49 Milliarden D-Mark angegeben. Die Zahlen wurden noch zu Zeiten der DDR richtiggestellt, konnten aber die politische Kapitulation und den Anschluß an die BRD nicht mehr verhindern. Schließlich wies die Deutsche Bank in einem abschließenden Bericht am 30. Juni 1999 als Netto-Schuldenstand der DDR in konvertierbaren Devisen 19,9 Milliarden D-Mark aus.

"Es gab damals jedoch viele Länder mit einer wesentlich höheren absoluten und Pro-Kopf-Auslandsverschuldung, deren Wirtschaft nicht bankrott gegangen ist. So betrug zum Beispiel die Netto- Auslandsverschuldung je Einwohnerin und Einwohner in Polen das 1,8-Fache und in Ungarn mehr als das Dreifache der DDR. Interessant ist auch ein Vergleich der damaligen Nettoschuldenquote der DDR in konvertierbarer Währung mit der Nettoschuldenquote einiger hoch verschuldeter EU-Länder im Jahr 2009. Nach den umgerechneten Daten zum BIP der DDR im Jahre 1989 betrug ihre Nettoschuldenquote in konvertierbarer Währung rund sechs Prozent. Die Nettoschuldenquoten betrugen 2009 in Spanien rund 97 Prozent und in Griechenland 96 Prozent, in Portugal und Irland lagen sie 2008 bei 92 Prozent bzw. 55 Prozent." (S.50) Weder konnte die DDR Ende 1989 ihren fälligen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen noch war sie international nicht mehr kreditwürdig. "Nachdem die Sowjetunion die DDR faktisch aufgegeben hatte, war klar, daß sie als zweiter selbständiger deutscher Staat keine Perspektive haben würde" (S.51).

Die sogenannte Wiedervereinigung von DDR und BRD und deren Folgen für die gesamtdeutsche Bevölkerung müssen daher in einen erweiterten zeitlichen Horizont gestellt werden: "Die für Deutschland insgesamt charakteristische neoliberale, marktradikale Politik zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und zur Schaffung immer günstigerer Bedingungen für die Kapitalverwertung durch eine Verbesserung der internationalen Konkurrenzfähigkeit hat den schon vor 1990 weit fortgeschrittenen Prozeß der Zerstörung des Rheinischen Kapitalismus und des Abbaus des Sozialstaats beschleunigt." (S.74)

Es hat, und das ist der Kern- und Angelpunkt der thematischen Auseinandersetzung, falsche wirtschaftspolitische Weichenstellungen im Vereinigungs- und Transformationsprozeß gegeben, deren Realitäten im Lichte der zum Armenhaus verkommenen neuen Bundesländer weder zu leugnen noch schönzureden sind. Das Buch zeigt unterdessen auf Seiten der BRD "Entwicklungslinien der Erosion eines sozial regulierten Kapitalismus" (S.74) auf, die bereits vor der Eingliederung der DDR wirkten und nach dem Anschluß in ungehemmter Brisanz fortgeführt wurden.

Allein aufgrund statistischer Wirtschaftsdaten in Verbindung mit übersichtlichen Tabellen werden die Rückschläge und relativen Fortschritte in den einzelnen Etappen (Transformationskrise, Aufschwung, Stagnation, neue Abkopplung) im Angleichungsprozeß Ost-West dargestellt und aufs sachlichste beurteilt, was schon deshalb dringend erforderlich ist, da die "politische Elite der vereinigten Bundesrepublik (...) in offiziellen Verlautbarungen die tatsächlich erreichten Ergebnisse durch Beschönigungen des Aufbau Ost" (S.53) vernebelte.

Statt dessen erfährt der Leser, daß mit der Währungsunion und Treuhandprivatisierung bewährte ostdeutsche Produktions- und Absatzbedingungen regelrecht zerschlagen wurden mit den Folgen massenhafter Migration, einer "historisch einmaligen Deindustrialisierung mit einem Absturz der Wertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes" (S.53) sowie dem Verlust von über zwei Millionen Arbeitsplätzen. Im Nachhinein wurden diese Ergebnisse auf die späten Nachwirkungen und Erblasten des scheinbar maroden Systems der DDR abgewälzt, um vom Versagen der Vereinigungspolitik abzulenken.

Die Integration der neuen Bundesländer in die kapitalistische Marktwirtschaft war trotz anderslautender Behauptungen eben kein Erfolgsmodell. Auf die Phase der Transformationskrise folgte zwar eine Zeit steigender Wirtschaftsdynamik mit überdurchschnittlich hohen öffentlichen und privaten Investitionen, vor allem im Bauwesen, erwirtschaftet wurde dies indes durch eine "Verstetigung von Arbeitsmarkt- und Strukturdefiziten in Verbindung mit einer weiteren Abwanderung und Transferabhängigkeit" (S.54), so daß der Übergang in die Stagnationsphase von 1996 bis 2000 die logische Konsequenz fremdbestimmter Akkumulation im Verbund mit einer nach wie vor anhaltenden Senkung des Lohnleistungsniveaus darstellte.

Die Einbindung der ostdeutschen Exporte in den westdeutschen Konjunkturzyklus kennzeichnete die vierte Phase der irreführend als Ost-West-Angleichung titulierten Zementierung des Ostens als Unterentwicklungsregion, deren Langzeitfolgen auch mit Blick auf die globale Wirtschafts- und Finanzmarktkrise noch gar nicht absehbar sind. Ohne eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern wird die Ungleichbehandlung von Ostdeutschen weiter bestehen bleiben. "Im zwanzigsten Jahr der Einheit bestehen immer noch erhebliche strukturelle Defizite in den Arbeits- und Lebensverhältnissen. Zu den Defiziten in den Arbeitsbedingungen gehören neben der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit vor allem der hohe Anteil der Langzeitarbeitslosen, die überproportionale Ausdehnung des Niedriglohnsektors und der prekären Beschäftigung sowie die zunehmende Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse." (S.57)

In den ostdeutschen Armutszonen sind die "Merkmale einer abhängigen und abgehängten Transferökonomie" (S.58) so frappant, daß die zunehmend Raum greifenden subregionalen Abbau- und Verödungsprozesse nur den Schluß zulassen, daß der Aufbau Ost mit der Zwischenstufe Nachbau West längst schon wieder in den "'Rückbau Ost' in vielen Städten und Kommunen" (S.71) übergegangen ist. Das Fazit ist so ernüchternd wie illusionslos, denn Deutschland bleibt in den "wesentlichen Grundzügen zweigeteilt" (S.57), was sich sowohl in der Lebensqualität durch Wohlstandsverluste als auch im Lebensgefühl durch kulturelle Einbußen niederschlägt.

Auch der sich gerne mit Stigmatisierungen verbrüdernde Vorwurf, der Osten der Republik habe sich infrastrukturell auf Kosten der alten Bundesländer entwickelt, erweist sich als wirtschaftspolitische Sackgasse. Im gesamtdeutschen Vergleich wurden in den Jahren 1991 bis 2007 nur 13,8 Prozent aller gesamtdeutschen Investitionen in Ausrüstungen der neuen Bundesländer investiert. "Im Trend der beiden letzten Jahrzehnte stagnieren in den neuen Bundesländern diese Investitionen jährlich um eine 25 Milliarden Euro-Marke, während sie in Westdeutschland von 120 Milliarden Euro 1995 auf 204 Milliarden Euro 2007 gestiegen sind." (S.66)

So sind es ambivalente Zerrbilder, die die Wahrnehmung Ostdeutschlands auch zwanzig Jahre nach der Einheit prägen: "Moderne Infrastruktur und neue Produktionsstätten neben verfallenen oder schon verschwundenen Industrieanlagen, neue und rekonstruierte Wohnsiedlungen neben Abrißgebieten und entindustrialisierten Landstrichen, aufwändig restaurierte historische Stadtzentren bei drastisch gesunkenen Bevölkerungszahlen vieler Klein-, Mittel- und Großstädte" (S.73).

Unterm Strich war die innerdeutsche Krise das Ergebnis eines rücksichtslosen Wirtschaftstransfers, infolgedessen ein dominanter Absatzmarkt für westdeutsche Produkte durch eine "Verbesserung der Angebots- und Wertschöpfungsbedingungen" (S.82) geschaffen und im Gegenzug das volkseigene Vermögen der DDR einer entschädigungslosen Enteignung preisgegeben wurde. Der Aderlaß für die ostdeutsche Arbeitsmarktinfrastruktur durch den Abzug gut ausgebildeter, qualifizierter Fachkräfte, wissenschaftlich-technischen Potentials und der Umstand, daß die "umfassenden Außenwirtschaftsbeziehungen der DDR zu Rußland und den anderen ehemaligen RGW-Staaten, die zum größten Teil von Unternehmen der alten Bundesländer übernommen wurden" (S.73), kompensationslos wegfielen, hat die sozioökonomische Mesalliance geradezu festgezurrt. "Die neuen Bundesländer waren und sind oftmals Experimentierfeld für die Deregulierung der Arbeitsmärkte." (S.81)

Der Rückgang der ostdeutschen Lohnquote hatte natürlich eine Rückwirkung auch auf die Verteilungsverhältnisse in den alten Bundesländern. "Die realen Nettogewinne und Vermögenseinkommen sind von 1991 bis 2008 auf fast 140 Prozent gestiegen, während die realen Nettoarbeitseinkommen 2008 unter dem Niveau von 1991 lagen. Die Lohnquote ist von 72,2 Prozent im Jahr 1992 auf 64,6 Prozent im Jahr 2007 zurückgegangen." (S.75)

Wie in einem ungebremsten Verdauungs- und Verwertungsprozeß schuf der westdeutsche Kapitalismus durch den Flächenzuwachs und die untertarifliche Ausplünderung der ostdeutschen Arbeitskräfte die weitreichenden Voraussetzungen dafür, den EU-Binnenmarkt mit gesamtdeutschen Industrie- und Gebrauchsgütern zu dominieren. Durch den Exportüberschuß Deutschlands gegenüber den anderen Ländern der EU von ca. 120 Milliarden Euro "hat die Bundesrepublik einen Teil ihrer Arbeitslosigkeit in andere EU-Länder exportiert und zu den hohen Zahlungsbilanzdefiziten und Haushaltskrisen nicht nur Griechenlands, sondern auch mehrerer anderer EU-Mitglieder beigetragen." (S.78)

Nicht nur dieser in die Krise des Euro mündende Aspekt des schlagartigen Anschlusses der DDR an die BRD verweist auf die hohe Aktualität dieses nur vermeintlich abgeschlossenen Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte. Die Frage einer sozial gerechten und menschenwürdigen Gestaltung des gesellschaftlichen Gemeinwesens rückt angesichts der Krise des kapitalistischen Weltsystems, seiner natürlichen Grundlagen und politischen Legitimation wieder ganz nach oben auf die Agenda aller Bevölkerungsgruppen, die sich der Verabsolutierung des Primats der Ökonomie zugunsten einer selbstbestimmten demokratischen Entwicklung widersetzen. Der vielgescholtene Staatssozialismus der DDR verfügte über Entwicklungsmöglichkeiten, über die vor dem Hintergrund des immer weiter auseinanderklaffenden Anspruchs auf fortgesetzte Produktivkraftentwicklung und realer Lebensnot von Millionen Menschen neu nachzudenken wäre. Wenn die Autoren des Buches konstatieren, daß in der DDR "soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit und Solidarität (...) weiter oben in der Prioritätenliste des Wertesystems der Menschen" (S.51) standen, dann nennen sie damit Qualitäten sozialer Existenz beim Namen, deren Wert sich desto mehr bewahrheitet, als ihr Fehlen schmerzhaft erfahren wird.

Das Buch "Deutsche Zweiheit - Oder: Wie viel Unterschied verträgt die Einheit?" widmet sich über die ernüchternde Korrektur der ideologischen Glorifizierung der Wiedervereinigung hinaus der Darstellung der Transformationsprozesse Ostdeutschlands gegenüber den ost- und mitteleuropäischen Beitrittsländern der EU, der vergleichenden Bewertung einzelner Entwicklungsverläufe in den alten und neuen Bundesländern sowie einem Ausblick auf die Horizonte alternativer Wirtschaftspolitik. Der Blick auf die jüngere deutsche Geschichte belegt, daß Gesellschaftsveränderung not tut, denn die sozialen Widersprüche der politischen Einheit sind nicht nur Ergebnis des Aneignungsinteresses der Kapitaleliten der BRD. Sie sind der dem Kapitalismus immanenten Expansionslogik geschuldet, sich ökonomisch schwächere Akteure in einem Konzentrationsprozeß einzuverleiben, der den Unterschied zwischen arm und reich vergrößert, weil sich sein Verwertungsimperativ nicht ohne Mangel an Lebensressourcen durchsetzen läßt. Von daher ist die titelgebende Frage eindeutig damit zu beantworten, daß Einheit im Sinne eines solidarischen Gemeinwesens mit Unterschieden, die aus dieser ökonomischen Funktionslogik heraus generiert werden, unvereinbar ist.

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
Deutsche Zweiheit - Oder:
Wie viel Unterschied verträgt die Einheit?
Bilanz der Vereinigungspolitik
PapyRossa Verlag, Köln, 2010
255 Seiten, 16,90 Euro
ISBN 978-3-89438-447-0


21. Februar 2011