Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/575: Daniel Jonah Goldhagen - Schlimmer als Krieg (Völkermord) (SB)


Daniel Jonah Goldhagen


Schlimmer als Krieg

Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist



Als der US-Soziologe und Politikwissenschaftler Daniel Jonah Goldhagen vor drei Jahren sein Buch "Schlimmer als Krieg" (Worse than War) veröffentlichte, konnte er damit nicht annähernd die Aufmerksamkeit und den Erfolg erringen wie mit seinem weithin rezipierten Werk "Hitlers willige Vollstrecker" aus dem Jahre 1996. Hatte er damals noch ein Thema zumindest randläufig berührt, das für die kritisch eingestellte bundesrepublikanische Nachkriegsgeneration eigentlich eine selbstverständliche Erkenntnis war, nämlich daß das genozidale nationalsozialistische Regime auf den Schultern der Bevölkerungsmehrheit und nicht auf denen einer kleinen Elite errichtet worden war, so reduziert Goldhagen in "Schlimmer als Krieg" die genozidalen Absichten weitgehend auf kulturelle Charaktereigenschaften bestimmter Gruppen und Nationen. Damit bedient sich der Autor aber derselben suprematischen Kategorisierungen wie jene Kräfte, deren Eliminationismus er zu analysieren vorgibt.

"Wie können wir den Begriff des Massenmordes so definieren, dass wir ihn nicht falsch verstehen?" (S. 16), lautet eine typische Fragestellung des Autors, der mit seiner Wahrheitssuche Deutungshoheit darüber beansprucht, was Massenmord sei und was nicht. Logisch folgt daraus, daß er andere Definitionen und damit Sichtweisen oder Positionen ausschließt. Wenn also das wahr ist, was Goldhagen behauptet, bleibt für alle anderen, die sich intensiv mit Völkermord und seinen Vollstreckern auseinandergesetzt haben - beispielhaft genannt sei hier Hannah Arendt mit dem Buch "Die Banalität des Bösen" - nur noch das Falsche übrig. Es wäre somit zu prüfen, ob nicht eben diese Einstellung, das Richtige gegenüber dem Falschen zu reklamieren, sogar eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß Menschen ihre Artgenossen unterwerfen. Nicht nur die vom Christentum geprägte abendländische Geschichte lehrt, daß mit dem Wahrheitsanspruch im Wappen Massenmorde begangen wurden.

Wo sich beim Thema Völkermord die Chance eröffnet hätte, über kulturelle Grenzen hinweg die Gemeinsamkeit der immer gleichen Unterdrückten und Marginalisierten dieser Welt herauszuarbeiten und das als Ausgangspunkt einer emanzipatorischen, jegliche Herrschaft zutiefst ablehnenden Streitbarkeit zu begreifen, verläßt Goldhagen von Anfang an nicht den Sicherheit verheißenden Schoß der von ihm beanspruchten Objektivität (S. 18). Die wird zu Beginn des Buchs noch hinter pseudokritischen Reflektionen verborgen. So schreibt der Autor, daß US-Präsident Truman, der den Befehl zum Abwurf zweier Nuklearbomben gegeben und dadurch schlagartig Hunderttausende Japaner getötet hat, ein Massenmörder war (S. 13). Einige Seiten weiter hingegen lesen wir: Im Unterschied zu "Hitler, Josef Stalin, Mao Zedong und Pol Pot", die "offenkundige Ungeheuer" waren (S. 16), habe Truman etwas Gutes erreichen wollen: "Während der Massenmord dieser Ungeheuer ein natürlicher Ausdruck ihrer lange gehegten rassistischen oder ideologischen Ansichten und politischen Bestrebungen war, ergab er sich bei Truman zufällig und aus einem Zusammenwirken von Umständen, in die er lieber nie geraten wäre." (S. 17)

Damit will uns der Autor glauben machen, daß jene vier Staatsführer "natürlich" böse waren, während Truman nur auf die Umstände reagiert und selbst keinen Einfluß darauf genommen habe. Die Logik solcher Argumentation erinnert sehr an die Erklärung manch eines des Kriegsverbrechens beschuldigten Angeklagten, er habe nicht anders handeln können, er sei nur ein Befehlsempfänger, mithin Opfer äußerer Umstände gewesen. Selbstverständlich besaß Truman alternative Handlungsoptionen zum Abwurf der Atombomben, und ebenso selbstverständlich hat er mit dem Massenmord genauso eigene Interessen verfolgt wie jene oben genannten vier Herrscher.

Mit seinen von zahlreichen inneren Widersprüchen getränkten Erklärungen ignoriert Goldhagen, daß auch Hitler, Stalin, Pol Pot, etc. niemals von sich gesagt haben, daß sie Vollstrecker des Bösen seien. Innerhalb ihres jeweiligen Wertekanons befanden sie sich im Recht. Es spricht daher einiges dafür, daß sich die Frage, welcher Massenmord im Guten und welcher im Bösen geschah, allein auf den Umstand reduziert, wer sich am Ende durchgesetzt und Deutungshoheit erlangt hat.

Goldhagen, der sich mit dem vorliegenden Buch am 1993 von dem Autor Samuel P. Huntington auf den Begriff gebrachten "Kampf der Kulturen" beteiligt, baut sein ideologisches Konstrukt allmählich auf, wohl um ihm den Anschein von Stringenz zu verleihen. So widerspricht er zunächst der anderen Genozidforschern unterstellten These, "dass die Kultur, in der Menschen aufwachsen und leben, für die Erklärung ihrer Beteiligung am Massenmord ohne Bedeutung sei" (S. 23). Daran anschließend fragt er nach den "sozialen und kulturellen Besonderheiten", die (...) "Massenvernichtung als Projekt einer Gruppe oder Nation möglich machen" (S. 24), und steuert nach mehreren hundert Seiten teils emotional schwer aufgeladener Behauptungen auf die Aussage zu, daß "Islamisten (...) vor allem durch ihre totalitäre, aggressive und phantastische Weltanschauung zu einer dauerhaften eliminatorischen Gefahr" (S. 523) werden.

Ist der Begriff "Islamist" schon für sich genommen unpräzise und daher mit willkürlichen Interpretationen befrachtet, so verallgemeinert Goldhagen noch mehr und schreibt von "islamistischen Gesellschaften und Kulturen". Die führen seiner Meinung nach dazu, "dass Islamisten Massenmord und eliminatorische Angriffe für eine notwendige und wünschenswerte Politik halten" (S. 523). Goldhagens Beitrag zum Kampf der Kulturen spitzt sich immer mehr zu, wobei das Bezichtigungsgefüge schlußendlich wieder breiter gefaßt wird: Neben den zwei Gefahren des Politischen Islams und des Besitzes der Kernwaffe seien es "die undemokratischen und tyrannischen Regime, die zusammengenommen die Hälfte der weltweiten Staatengemeinschaft ausmachen, die allein schon durch ihre Existenz die Gefahr von Massenmord und -eliminierung heraufbeschwören" (S. 544). In welchen Ländern und welchen Kreisen die Überzeugung der Eliminierung stecke, wisse man nicht, "dennoch können wir mit Bestimmtheit davon ausgehen, dass es solche Überzeugungen vielerorts gibt", schreibt der Autor und versteigt sich zu der Aussage, daß die Führer aller "nichtdemokratischen Regime" den Finger am Abzug haben. (S. 545) Anscheinend hat sich Goldhagen im Gespinst der von ihm selbst in die Welt gesetzten Bezichtigungen derart verlaufen, daß er sich allseits von den so kreierten Feindbildern umgeben sieht.

Mit Aussagen wie, es seien "die undemokratischen Staaten und Führer, die immer noch darauf aus sind, ihr Territorium und ihre Macht zu erweitern, sich Ruhm zu erwerben und wirtschaftliche Werte anzuhäufen" (S. 630), bereitet er den ideologischen Boden, um darauf ein Bedrohungsszenario aufzubauen, das sich nicht vom simplen, religiös verbrämten Gut-Böse-Schema der US-Administration unter Präsident George W. Bush unterscheidet und die eigenen Absichten, Methoden und Ziele völlig auszublenden scheint. Steht doch ausgerechnet ein Staat wie die USA, der von sich annimmt, er erfülle demokratische Prinzipien, wie kein anderer für die Anhäufung wirtschaftlicher Werte, das Erlangen von Ruhm in allen gesellschaftlichen Bereichen und Machtausdehnung.

Welche "Lösung" propagiert ein Autor, der die Hälfte der Welt als Bedrohung definiert? Er schlägt vor, präemptiv zuzuschlagen und die Gegner zu vernichten, bevor sie einen vernichten können. Goldhagen empfiehlt allen Ernstes, ein monetäres Programm, einen Automatismus einzurichten, bei dem jeder "zur Zielscheibe" gemacht werden soll, der auch nur "mit dem Gedanken an Massenmord und -eliminierung" spielt" (S. 615). Der "Kreis der vom Programm 'automatisch' für schuldig befundenen und deswegen gesuchten und deswegen zur Zielscheibe erklärten Personen" solle so ausgeweitet werden, "dass er alle hochrangigen Mitarbeiter staatlicher oder behördlicher Einrichtungen, deren Untergebene und prominente Täter" umfasse. Es sollten "Prämien nicht nur für Informationen", sondern auch für die "Tötung" von Tätern gezahlt werden. (S. 615). So ein Programm sei "gerechtfertigt" und "kostengünstig", unterstreicht Goldhagen die angeblichen Vorteile der von ihm vorgeschlagenen willkürlichen Liquidierung des gesamten Verwaltungsapparats und aller Funktionsträger Dutzender Staaten.

Der Autor, der sich "philosophisch" (S. 616) für die Todesstrafe ausspricht, konnte mit seinem Buch "Schlimmer als Krieg" nicht nur wegen solcher, jedes Maß sprengender Selbstgerechtigkeit, gepaart mit eklatanten inhaltlichen Schwächen und krassen inneren Widersprüchen, keinen Erfolg verzeichnen, sondern auch weil ihn die Geschichte überholt hat. Heute werden zwar vom Westen unter Inanspruchnahme der Schutzverantwortung ("responsibility to protect", auch R2P genannt) interventionistische Kriege geführt, aber mit sozialwissenschaftlichen Erörterungen, ob Völkermord vorliegt oder nicht, hält man sich längst nicht mehr auf. Da wird nicht lange erörtert, sondern behauptet und unverzüglich militärisch interveniert.

Es würde Goldhagen überbewerten, attestierte man ihm, daß er die Funktion eines Stichwortgebers für die heutigen Interventionskriege erfülle oder daß er dazu gar das theoretische Rüstzeug liefere. Dennoch bleibt festzustellen, daß das Buch vor dem Hintergrund eben jenes Wertekonsens geschrieben wurde, in dem diese Kriege geführt werden. Goldhagen schlägt völlig unreflektiert, pauschalisierend, von einer beinahe zelotischen Unerschütterlichkeit getrieben, das Richtige zu tun, vor, mit Massenmördern kurzen Prozeß zu machen - auf nichts anderes laufen die unter US-Präsident Barack Obama erheblich ausgeweiteten Drohnenangriffe in Pakistan, Afghanistan, Jemen und Somalia hinaus. In immer mehr Regionen der Welt wird der Ausnahmezustand zur Permanenz getrieben. In einem Akt völliger Willkür werden Männer, Frauen und Kinder jeden Alters im Namen des angeblich höheren Rechts von sicherer Warte aus und ferngelenkt liquidiert.

Der Autor vermag mit seiner These, daß Völkermord schlimmer als Krieg sei, nicht einmal ansatzweise zu überzeugen. Dabei gäbe es etwas, das mit einiger Berechtigung als "schlimmer als Krieg" bezeichnet werden könnte und näher zu untersuchen sich lohnte: Frieden. Der Eliminationismus der Friedensbringer und Kämpfer im Zeichen von Frieden und Demokratie. Deren Opfer sind bekannt, auch wenn sie namenlos bleiben. Es sind zur Zeit rund eine Milliarde hungernde und weitere zwei Milliarden verarmte Menschen, von denen jährlich je nach Einschätzung bis zu mehreren Dutzend Millionen mangels Nahrung oder aufgrund vermeidbarer Krankheiten sterben. Ein Massenmord sondergleichen, nicht begangen in Zeiten und Regionen des Krieges, nicht "vorsätzlich als Massenmordmethode eingesetzt" (S. 41), wie Goldhagen schreibt, sondern in Zeiten und Regionen des Friedens.

Dieses Leichentuch zu lüften und sich Gedanken über konkrete Schritte zu machen, wie der global tobende Überlebenskampf zu Lasten der eigenen Art beendet werden könnte, ohne sich wie Goldhagen als Richter und Henker in personam aufzuspielen und das vernichtende Gegeneinander dadurch regelrecht auf die Spitze zu treiben, würde allerdings die Grundwerte der gesellschaftlichen Ordnung und das nach eigenen Vorteilen strebende Beteiligungsinteresse des einzelnen, selbstverständlich auch eines politikwissenschaftlichen Autors wie Daniel Jonah Goldhagen, von Anfang an fundamental in Frage stellen.

29. Januar 2012


Daniel Jonah Goldhagen
Schlimmer als Krieg
Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist
Aus dem Englischen von Hainer Kober und Ingo Angres
Siedler Verlag, München 2009
688 Seiten, 29,95 EUR
ISBN: 978-3-88680-698-0