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REZENSION/576: Joseph Gerson - Empire and the Bomb (US-Atompolitik) (SB)


Joseph Gerson


Empire and the Bomb

How the US Uses Nuclear Weapons to Dominate the World



Unter anderem mit dem Versprechen, im Namen Amerikas internationale Verhandlungen zur Beseitigung aller Nuklearwaffen aufzunehmen, hat sich 2008 der politische Senkrechtstarter Barack Obama aus Chicago bei der US-Präsidentenwahl gegen zwei Washingtoner Schwergewichte - die demokratische Rivalin und ehemalige First Lady Hillary Clinton und den Vietnamkriegshelden John McCain - durchsetzen können. Im März 2009 hat sich Obama bei seinem ersten Europabesuch als US-Präsident demonstrativ zur Vision einer atomwaffenfreien Welt bekannt, was ihm einige Monate später den Friedensnobelpreis einbrachte. Drei Jahre danach kämpft Obama um eine zweite Amtszeit im Weißen Haus, während die Hoffnungen, die er bezüglich einer Aufhebung der größten Bedrohung für das Überleben der Menschheit geweckt hat, schlicht verpufft sind.

Zwar haben die USA 2010 mit der Russischen Föderation im Rahmen des Rüstungsabkommens mit Namen New START eine drastische Reduzierung der Zahl ihrer einsatzfähigen Atomsprengköpfe auf 1550 vereinbart, doch im Ernstfall reicht diese verbliebene Menge mehr als aus, um die Erde für den Menschen unbewohnbar zu machen. Hinzu kommt, daß Washingtons Drängen auf Ausbau des US-Raketenabwehrsystems in Osteuropa die angestrebte Verbesserung in den Beziehungen zu Moskau unterminiert hat. Um den Kongreß in Washington zur Ratifizierung des neuen strategischen Rüstungsvertrags zu bewegen, mußte Obama außerdem einer 185 Milliarden Dollar teuren Modernisierung der bestehenden US-Kernwaffenbestände einschließlich der wichtigsten Labore und Produktionsstätten zustimmen. Einerseits hat die Obama-Regierung aus der Nuclear Posture Review von 2010 die Erstschlagsoption der Vorgänger-Administration von George W. Bush gegenüber Rußland, China, dem Iran, Kuba, Nordkorea und Syrien gestrichen, andererseits sich den Griff auf diese Maßnahme bei Staaten, die ihren Verpflichtungen nach dem Nicht-Verbreitungsvertrag nicht nachkommen, vorbehalten. Eine echte Befreiung der Menschheit vom Übel der Atomwaffe sähe freilich anders aus.

Auch wenn Obama es mit seinen damaligen Absichtserklärungen ernst gemeint haben sollte, hat sich die politische Elite in Washington seit 1945 leider daran gewöhnt, sich in geopolitischen Krisensituationen mit dem drohenden Einsatz von Kernwaffen durchzusetzen, als daß eine rasche Abkehr denkbar wäre. Dies geht aus dem Buch "Empire and the Bomb" von Joseph Gerson [1] deutlich hervor. Darin erläutert der langjährige Friedensaktivist und Leiter des Peace and Economic Security Program des American Friends Service Committee (AFSC) in New England die Geschichte der Atombombe als politisches Druckmittel des Weißen Hauses und des Pentagons mit großer Akribie. Das Ergebnis der Nachforschungen Gersons, die sowohl auf Standardwerke, Politikermemoiren und Augenzeugenberichte als auch auf inzwischen freigegebene ehemalige Geheimdokumente aus dem US-Nationalarchiv beruhen, ist mehr als erschreckend. Das Schicksal der Menschheit hängt seit Jahrzehnten an einem seidenen Faden. Eine falsche Entscheidung eines einzelnen Militärs im falschen Moment - von letzterem es mehr gab, als den meisten bislang bekannt war - und die Gattung Mensch hätte aufgehört zu existieren.

Gerson fängt mit der Entscheidung zur Durchführung der beiden ersten und bisher letzten Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki an. Er weist nach, daß es der Regierung Harry Trumans mitnichten um die rasche Beendigung des Zweiten Weltkrieges gegen das kaiserliche Japan ging, sondern um die Einschüchterung der Kreml-Führung um Joseph Stalin und die Eindämmung der kommunistischen Sowjetunion im asiatisch-pazifischen Raum. Wohl wissend um das ungeheuerliche Verbrechen, das man durch die augenblickliche Ausradierung zweier japanischer Großstädte und die Ermordung Hunderttausender von Zivilisten beging, haben die Verantwortlichen und ihre geistigen Erben bis heute den Aufbruch zum Atomzeitalter mit Lügen und Schutzbehauptungen falsch dargestellt und, wenn nötig, belastende Informationen zurückgehalten. Selbst 50 Jahre später waren einige Bilder der Opfer des Atomangriffs auf Hiroshima immer noch so entsetzlich, daß sie auf Druck militaristischer Kreise in den USA aus der großen Gedenkausstellung 1995 im renommierten Washingtoner Smithsonian Institute verbannt wurden.

Die Liste der Fälle, in denen die USA laut Gerson von der "nuklearen Erpressung" Gebrauch gemacht und zur Unterstreichung der Drohung ihre Atomstreitkräfte zum Teil oder gänzlich in Alarmbereitschaft versetzt haben, ist lang. Hierzu gehören unter anderem Südaserbaidschan 1946, Berlin 1948, der Koreakrieg 1950-1953, die Suezkrise 1956, der Libanon 1958, China im selben Jahr (wegen des Streits um die Insel Quemoy nahe der Taiwanstraße), Berlin 1961, die Kubakrise 1962, der Sechstagekrieg 1967 im Nahen Osten, 1967 Südvietnam (um die Belagerung von US-Streitkräften in Khe Sanh zu beenden), 1969 Nordvietnam, 1970 Jordanien (während des "Schwarzen Septembers" gegen die PLO), 1973 beim Yom-Kippur-Krieg zwischen Israel und Ägypten, Irak im Vorfeld des Golfkrieges 1991, 1993/1994 Nordkorea, 1996 China (im Streit um Taiwan), Libyen 1996 (wegen des Verdachts der Chemiewaffenproduktion), 2001 in Reaktion auf die Flugzeuganschläge vom 11. September sowie im Vorfeld des angloamerikanischen Einmarsches in den Irak im März 2003.

Wie Gerson betont, haben auch der Druck der Öffentlichkeit und die Proteste der Nuklearwaffengegner dazu beigetragen, daß es in den vergangenen 67 Jahren zu keinen weiteren Atombombenabwürfen gekommen ist. Nichtsdestotrotz halten neokonservative Neoimperialisten an Kernwaffen fest, setzen deren Optimierung durch und predigen vom "gewinnbaren" Atomkrieg, den zu führen die USA jederzeit bereit sein müßten. Dieselben Kräfte sind es, die dem Iran die Beherrschung des kompletten Nuklearkreislaufs streitig machen und dafür sorgen, daß sich Washington im sogenannten "Atomstreit" mit Teheran die Möglichkeit eines nuklearen Überraschungsangriffs offenhält. Um sich politisch gegen die Hardliner im eigenen Land abzusichern, muß Obama im Dauerringen mit den Iranern genauso wie vor ihm Bush jun. immer wieder erklären, daß "alle Optionen auf den Tisch" liegen, denn dies gehört zum Selbstverständnis der einzigen Supermacht.

Seit dem Ende des Kalten Krieges bauschen die USA Atomwaffen und Nukleartechnologie in den Händen irgendwelcher "Schurkenstaaten" zur neuen großen Gefahr in der Außen- und Sicherheitspolitik auf. Für Gerson wie für die meisten unabhängigen Beobachter ist es doch gerade die Weigerung der USA und der anderen vier offiziellen Nuklearmächte - China, Frankreich, Großbritannien und Rußland -, ihrer Verpflichtung nach Artikel VI des Nichtverbreitungsvertrages zur Trennung von den eigenen Kernwaffenbeständen nachzukommen, welche die Welt mit jedem Tag gefährlicher macht und die Risiken eines Atomkrieges erhöht. Dazu schreibt Gerson: "... weil keine Nation das, was sie als ungerechtes und repressives Ungleichgewicht der Macht empfindet, lange tolerieren wird, ist der Besitz von Atomwaffen der Hauptantrieb ihrer Proliferation" (S. 266 - SB-Übersetzung). Nicht umsonst insistiert der umtriebige Friedensaktivist in seinem hoch informativen und gut geschriebenen Buch darauf, daß die Öffentlichkeit auf der ganzen Welt weiterhin ihre Volksvertreter unter Druck setzen soll, damit die Verbannung der Atomkriegsgefahr endlich Realität wird. Daß die Lage mehr als prekär ist, zeigt die aktuelle Konfrontation am Persischen Golf, bei der nur ein kleiner Zwischenfall genügt, um den lange befürchteten Krieg zwischen dem Iran und den USA auszulösen. Da hat Joe Gersons 2007 erschienenes Buch "Empire and the Bomb" nichts an Aktualität verloren.

Fußnote: 1. Siehe das Interview, das der Schattenblick mit Joseph Gerson im März 2009 in Strasbourg anläßlich des damaligen NATO-Gipfels geführt hat: http://schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0012.html

Joseph Gerson
Empire and the Bomb
How the US Uses Nuclear Weapons to Dominate the World
Pluto Press, London & Ann Arbor, Michigan, 2007
348 Seiten
ISBN: 978-0-7453-2494-4


1. Februar, 2012