Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/620: Alexander Neureuter - Fukushima 360° (Fotoreportagen) (SB)


Alexander Neureuter


Fukushima 360°

Das atomgespaltene Leben der Opfer vom 11. März 2011



Es ist still um die Zerstörung des Akw Fukushima Daiichi geworden. Spätestens seit Tokio den Zuschlag als Austragungsort für die Olympischen Sommerspiele 2020 erhalten hat und auch die hochriskante Bergung von mehr als 1500 Brennstäben aus einem 30 Meter über der Erde stehenden Abklingbecken des Reaktors 4 offenbar schadlos angelaufen ist, finden die wenigen Kassandra-Rufer in der Öffentlichkeit kaum noch Gehör. Und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) legt nach: Kein Mensch sei an der Radioaktivität gestorben und die Zahl der strahlungsbedingt Erkrankten werde in der allgemeinen Statistik über Krebsfälle untergehen.

Sollten die Akw-Lobbyisten recht haben, die behaupten, die dreifache Kernschmelze im Akw Fukushima Daiichi, zu der es in Folge eines schweren Erdbebens und gewaltigen Tsunamis am 11. März 2011 gekommen war, beweise doch eigentlich, daß die Atomtechnologie sicher ist?

Die 44 Fotoreportagen des Umweltfotografen Alexander Neureuter bieten einen vollkommen anderen Eindruck. Neureuter setzt der Abstraktion amtlicher Statistiken die Authentizität einfühlsamer Aufnahmen entgegen. Drei Wochen lang war er kreuz und quer durch die Präfektur Fukushima gereist, hatte mit Menschen gesprochen, sie bei ihrem Einkauf im Supermarkt begleitet und auch der medizinischen Schilddrüsenuntersuchung eines Kindes beigewohnt. Mehr als 17.000 Fotos hat er von seiner Reise mitgebracht, 158 davon werden in dem im Eigenverlag herausgegebenen, 204 Seiten starken Foto-Reportagebuch gezeigt. [1]

Es sind keine sensationsheischenden, sondern stille und deshalb um so eindrücklichere Aufnahmen von der tief in den Alltag eingedrungenen Präsenz der Nuklearkatastrophe und der Dauernot der Einwohner, die weiter in der großflächig verstrahlten Präfektur Fukushima leben.

Da ist die Mutter mit ihrer vierzehnjährigen Tochter, die beim Verlassen des Hauses so selbstverständlich einen Mundschutz überzieht wie ihre Jacke. Beide überprüfen im Supermarkt die Herkunft von Gemüse (S. 157). Denn sie wollen keine radioaktiv verstrahlten Produkte aus der Region kaufen, müssen aber dennoch befürchten, daß auch die angeblich aus dem Süden Japans stammende Ware verstrahlt ist, entweder weil das Label gefälscht oder weil verstrahlte mit unverstrahlter Ware vermischt wurde, bis der zulässige Grenzwert gerade eben unterschritten ist - nicht, daß das von irgend jemandem flächendeckend geprüft würde.

Da sind die drei Jungs, die auf einem vermeintlich dekontaminierten, mit frischem Sand aufgeschütteten Spielplatz Fußball spielen (S. 57). Kratzt man den Sand ein wenig mit dem Schuh beiseite, wie es Neureuter tat und wie es sicherlich beim Bolzen laufend passiert, zeigt sich eine Verstrahlung von 5,17 Mikrosievert pro Stunde - das entspricht mehr als dem Doppelten der zulässigen Jahresdosis, die von der japanischen Regierung auf 20 Millisievert und damit auf einen Wert, wie er in Deutschland für Kernkraftwerksarbeiter gilt, angehoben wurde. Bei angemessenen, strengeren Grenzwerten hätten die Sperrgebiete noch viel größer gewählt und viele Menschen mehr evakuiert werden müssen.

Und da ist der ausgebildete Krankenpfleger, der ein Jahr lang für die Akw-Betreibergesellschaft TEPCO gearbeitet hat und über das System der Leiharbeiter spricht, die von einem Subunternehmen an das nächste weitergereicht und für die wirklich gefährlichen Aufräumarbeiten in den hochverstrahlten Bereichen des Akw Fukushima Daiichi eingesetzt werden. "Wegwerfarbeiter" werden sie genannt, denn sobald sie die zulässige Jahresdosis an radioaktiver Strahlung abbekommen haben, werden sie entlassen, ohne jede soziale Absicherung. Wer sich bei der "yakuza", wie das organisierte kriminelle Netzwerk in Japan genannt wird, verschuldet hat, läuft Gefahr, zu eben solchen Tätigkeiten gezwungen zu werden. Die "yakuza" verdient gut an der Nuklearkatastrophe, ebenso wie TEPCO, die Betreibergesellschaft des havarierten Atomkraftwerks.

Wer schon mal die Gelegenheit besaß, Alexander Neureuters Vortrag [2] mitzuerleben, wird das eine oder andere von dem, was der Referent über seine Reise ins Land der aufgehenden Sonne berichtet hat, wiederfinden. Doch geht der Foto-Reportageband deutlich darüber hinaus. Er schildert mit Wort und Bild das Leben von Betroffenen und ist doch keine "Betroffenheitslektüre". Auch wenn der im Wendland lebende Fotograf hier keine ausgearbeitete politische Analyse beispielsweise des Profitinteresses eines milliardenschweren Konzerns, der Atomenergie als Mittel des Staates zur Erweiterung seiner Befugnisse oder gar grundsätzlich des gesellschaftlichen Zusammenhangs von Arbeit und Ausbeutung vorlegt, spricht er mit seinen Reportagen zur Fukushima-Katastrophe doch etliche Widersprüche der zentralistischen Atomenergieproduktion und ihrer Nutznießer an.

So macht er am Anfang auf den - von den Medien viel zu oft unterschlagenen - engen Zusammenhang zwischen der militärischen und zivilen Nutzung der Atomenergie aufmerksam und läßt dazu Überlebende der beiden Atombombenabwürfe am 6. und 9. August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki zu Wort kommen (S. 14 ff). Auch zitiert er den ehemaligen Gouverneur der Präfektur Fukushima, Eisaku Sato, der festgestellt hat: "Ich würde sagen, Japan ist ein Atomreich geworden: Informationen werden unterdrückt, Regierung, Medien und Wissenschaft schließen die Menschen aus, die eine andere Meinung haben als sie. Das ist Faschismus. Dieses Denken im Land hat Fukushima erst ermöglicht." (S. 10)

Nach seinem 2012 erschienenen Bildband "Was wäre wenn ..." über seine Tschernobyl-Expeditionen legt Neureuter mit "Fukushima 360°" ein weiteres Plädoyer gegen die Atomenergie vor. Nicht etwa in Form einer apokalyptischen Warnung vor der unkontrollierbaren Kerntechnik, sondern in Form einer durchaus detailreichen Entmystifizierung des unterstellten Nutzens für die Menschen.


Fußnoten:

[1] Vom Erlös des Buchprojektes gehen 2 Euro pro Buch als Spende an die privat organisierte Fukushima Collaborative Clinic, in der kostenlos medizinische Untersuchungen beispielsweise der Schilddrüse vorgenommen werden.

[2] Einen Schattenblick-Bericht zu Alexander Neureuters Vortrag finden Sie unter:
BERICHT/059: Fukushima - Vergebliche Mühe (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umrb0059.html

Dazu ein zweiteiliges Interview mit dem Vortragenden:
INTERVIEW/060: Fukushima - Der unverstellte Blick, Umweltjournalist Alexander Neureuter im Gespräch - 1. Teil (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0060.html

INTERVIEW/061: Fukushima - Der unverstellte Blick, Umweltjournalist Alexander Neureuter im Gespräch - 2. Teil (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0061.html

16. Februar 2014


Alexander Neureuter
Fukushima 360°
Das atomgespaltene Leben der Opfer vom 11. März 2011
44 Fotoreportagen von Alexander Neureuter
In Kooperation mit IPPNW Deutschland
Eigenverlag, 1. Auflage 2/2014
204 Seiten, 29,80 Euro
ISBN 978-3-00-004733-4