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REZENSION/627: T. Müller-Heidelberg u.a. (Hg.) - Grundrechte-Report 2014. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland (SB)


Till Müller-Heidelberg, Elke Steven, Marei Pelzer, Martin Heiming, Heiner Fechner, Rolf Gössner, Ulrich Engelfried und Sophie Rotino (Herausgeber)


Grundrechte-Report 2014

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland



Tödliche Schüsse. Gefallen im Neptunbrunnen neben dem Berliner Fernsehturm im Sommer 2013. Ein Mann hatte sich mit einem Messer selbst verletzt. Ein Polizist stieg zu ihm und erschoß ihn ohne Vorwarnung, als dieser auf ihn zukam. Die Ermittlungen wurden alsbald eingestellt, der Beamte habe in Notwehr gehandelt. [1] Fälle dieser Art - es war in Berlin bereits der dritte tödliche Kontakt mit der Polizei in einem Zeitraum von zwei Jahren für Menschen, die Hilfe benötigt hätten - berühren aufs unmittelbarste eines der zentralen Grundrechte, das Recht auf Leben. Nicht selten mischen sich in die Trauer und Verzweiflung der Angehörigen, Freunde und Nachbarn auch Wut und Unverständnis darüber, daß solch ein Umgang der Polizei in einem Staat wie der Bundesrepublik überhaupt möglich ist. Die mediale Berichterstattung trägt dem bei aller Zurückhaltung durchaus Rechnung, auch wenn dem Thema Polizeigewalt nicht annähernd der gleiche Stellenwert wie den Snowden-Enthüllungen eingeräumt wird.

Die Frage nach den Bürger- und Menschenrechten in Deutschland, wie sie im neuen Grundrechte-Report 2014 gestellt und - ansatzweise - beantwortet wird, scheint zur Zeit von ganz besonderer Aktualität zu sein. Die zum NSA-Skandal medial aufgeheizte Kooperation zwischen US-amerikanischen, britischen und deutschen Geheimdiensten nimmt einen breiten Raum ein, so als ob die langjährige Zusammenarbeit zwischen engsten NATO-Verbündeten nun plötzlich eines national orchestrierten Aufbegehrens wert wäre. Hiesigen Dienststellen und politischen Verantwortungsträgerinnen und -trägern mag eine Lesart, die Wut und Empörung über den Atlantik in Richtung Washington abzulenken bemüht ist, nur recht sein. Auf diese Weise kann leicht in Vergessenheit gebracht werden, wie problematisch das angeblich grundrechtlich geschützte Verhältnis zwischen Bürger und Staat ohnehin ist.

Gerade in einem demokratischen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland bedarf das beanspruchte Gewaltmonopol einer überzeugenden Rechtfertigung. Sie wurde 1949 mit dem Grundgesetz und den in ihm verankerten Grundrechten gegeben, womit der seinerzeit weitverbreiteten Stimmung "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!" Rechnung getragen werden konnte. Die Grundrechte wurden als gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte konzipiert. Die neue Republik versprach also in ihrer Verfassung, die Bürgerinnen und Bürger vor von ihr drohenden Übergriffen zu schützen. Die wichtige Frage, wie es um die Einlösung dieses für die Legitimation des Rechtsstaats elementaren Versprechens bestellt ist, wurde getrennt vom sogenannten "Schutz der Verfassung", der in die Hände gleichnamiger Ämter und damit von Geheimdiensten gelegt wurde, die die "freiheitlich demokratische Grundordnung" vor Bestrebungen "extremistischer" Bewegungen, Organisationen und Parteien zu schützen vorgeben und sich längst als Instrumente politischer Repression erwiesen haben.

Eine Kontrolle staatlicher Stellen findet seitens des Bundes- wie der Landesverfassungsschutzämter nicht statt. In diese systemimmanente Lücke sind Organisationen gestoßen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Finger in die klaffenden Widersprüche zwischen propagiertem Grundrechtsschutz und dem, was Menschen im direkten Kontakt nicht nur mit staatlichen Institutionen widerfährt, zu legen und die Ergebnisse - so weit sie sich von privater Seite überhaupt feststellen und belegen lassen - zu veröffentlichen. Wesentliches Resultat dieses zivilgesellschaftlichen Engagements ist der Grundrechte-Report, auch "alternativer Verfassungsschutzbericht" genannt, der sich, von einem Konglomerat namhafter Bürger- und Menschenrechtsorganisationen seit 1997 Jahr für Jahr herausgegeben, zu einem wertvollen Spiegel bundesrepublikanischer (Rechts-) Verhältnisse entwickelt hat.

Er unterliegt allerdings denselben Restriktionen wie der Gegenstand seiner Untersuchungen. Die Grundrechte setzen - wie die gesamte Verfassung - eine rechtsetzende Instanz voraus, die die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung gesellschaftlich dominierenden Interessen widerspiegelt. Auch der neue Grundrechte-Report kann insofern von seinem Ansatz her nur einen Teilbereich der bundesrepublikanischen Verhältnisse erfassen. So kann Obdachlosigkeit, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht als Grundrechtsverstoß untersucht werden, auch wenn Betroffene ihre Lage als mit ihrer Würde unvereinbar erleben, weil es kein Grundrecht auf Wohnung gibt. Wird ein Grundrecht, beispielsweise die Unverletzlichkeit der Wohnung, durch Ausnahme- und Sonderregelungen in der Verfassung selbst bereits so weit ausgehöhlt und durchlöchert, daß Durchsuchungs- oder Überwachungsmaßnahmen problemlos gerechtfertigt werden können, haben alternative Verfassungsschützerinnen und -schützer kaum eine Handhabe, hier Grundrechtsverletzungen anzuprangern.

Dennoch zeichnet der neue Grundrechte-Report ein aufschlußreiches und in seiner Vielfalt erschreckendes Bild - kaum ein gesellschaftlicher Bereich, der nicht in grundrechtsrelevanter Weise als frag- und kritikwürdig in Erscheinung getreten ist. Thematisiert wurden neben dem NSA-Skandal und dem vom Herausgeberkreis als unvorstellbar bezeichneten Versagen des Verfassungsschutzes bei der (Nicht-) Aufklärung der NSU-Mordserie auch Menschenrechtsverletzungen, die eher wenige Menschen betreffen. Beispielhaft erwähnt sei der Bericht über einen 72jährigen Obdachlosen [2], der im tiefsten Winter vom Sicherheitsdienst der Deutschen Bahn aus dem Hamburger Hauptbahnhof vertrieben wurde und sich - stellvertretend für viele? - von seinen Grundrechten nicht mehr viel versprechen wird.

Der Report gibt in den 42 Einzelbeiträgen zumeist juristisch bewanderter Autorinnen und Autoren Aufschluß über weitere, hier nur in Stichworten aufgezählte Problembereiche: Abschiebungshaft, die große Not von Flüchtlingen (Lampedusa in Hamburg), Internetüberwachung, die Unterbringung "problematischer" Kinder und Jugendlicher in geschlossenen Heimen sowie die Fixierung "behinderter" Minderjähriger, Mißstände in puncto Glaubensfreiheit im Arbeitsrecht, verfassungswidrige Steuernachteile eingetragener Lebenspartnerschaften, kriegsrelevante Forschung an Universitäten, unter Beobachtung gestellte Parlamentarierinnen und Parlamentarier, Polizeiwillkür bei Demonstrationen und Repressalien gegenüber Rechtsanwältinnen und -anwälten...

Es scheint mittlerweile politisch en vogue zu sein, Defizite im Bereich der Grundrechte zu bemängeln. Vorwürfe dieser Art, mögen sie auch - wie im Grundrechte-Report - glaubwürdig vorgetragen werden, bringen die politisch Verantwortlichen allerdings nicht in Verlegenheit. Sie sehen sich zu keiner öffentlichen Stellungnahme veranlaßt, die Kritik der alternativen Verfassungsschützerinnen und -schützer scheint an ihnen abzuperlen. Die beteiligten Bürger- und Menschenrechtsorganisationen stellen eine, wenn auch eher schwach entwickelte Bürgerrechtsbewegung dar. Sie läuft Gefahr, durch staatliche Avancen eingebunden und instrumentalisiert zu werden, noch bevor sie ihre Nischenexistenz zugunsten einer von vielen wütenden Menschen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen gemeinsam entwickelten politischen Schlagkraft hätte abstreifen können.

Eine Kritikerin und intime Kennerin des Staats- und Justizapparats ist die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die anläßlich der Vorstellung des neuen Grundrechte-Reports erklärte, daß es "auch dort lichterloh zu brennen beginnt, wo es um die Essenz der freiheitlich demokratischen Grundordnung geht". Es zeige sich, daß es sich "auch auf vermeintlich verlorenem Posten lohnt, für die Einhaltung der Grundrechte zu kämpfen", erklärte sie mit Blick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs gegen die Vorratsdatenspeicherung. "Wenn der heute vorgelegte Grundrechtreport 2014 dazu beiträgt, solche Widerständigkeit gegen jede Art von Grundrechtsverletzungen zu erhöhen, dann hat er eine seiner wesentlichen Aufgaben erfüllt." [3] Leutheusser-Schnarrenberger schloß sich der Forderung des Mitherausgebers Rolf Gössner nach einer breiten gesellschaftspolitischen Debatte "über Transparenz, Kontrolle und Grenzen der Überwachung in einer Demokratie, über Existenzberechtigung und Legitimation geheimer, unkontrollierbarer staatlicher Institutionen" (S. 26) an.

Gössner, Rechtsanwalt und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, spricht in seinem Beitrag von einem "geheimen Informationskrieg". (S. 23) Wer wollte ihm widersprechen, daß "Selbstkontrolle, vorauseilender Gehorsam und Selbstzensur Menschen zu Spitzeln ihrer selbst" machen, was "ein tödlich wirkendes Gift für eine offene, freiheitliche demokratische Gesellschaft" sei? Die Benennung der Interessen, die hier aufeinanderprallen und zu den von Gössner und anderen Autorinnen und Autoren beschriebenen Phänomenen führen, wird im Report allerdings vermieden. Ob als "Klassenherrschaft" tituliert oder nicht - die gesellschaftliche Verfügungsgewalt liegt in Händen kleiner Funktionseliten, die, eingebettet in eine Gesamtstruktur, in der die Umverteilung von arm zu reich zum staatlich organisierten System erhoben wurde, an demokratische Prinzipien nicht gebunden sind, sondern sich ihrer zu bedienen verstehen. Gössner entwirft demgegenüber das Bild eines Staates, der mit Autoimmunreaktionen zu kämpfen habe:

Der digitale NSA-Datenexzess ist logische Folge einer aggressiven Politik, die Sicherheit zum Zweck der Kriminalitäts- und Terrorabwehr über alles stellt - frei nach Ex-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), der verbriefte Grund- und Freiheitsrechte einem frei erfundenen "Supergrundrecht Sicherheit" unterordnet. Diese verfassungswidrige Sicht führt in einen entfesselten Präventionsstaat im permanenten Ausnahmezustand, in dem rechts- und kontrollfreie Räume gedeihen, Persönlichkeitsrechte erodieren, Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen. Dieser Angriff auf Substanz und Selbstverständnis freiheitlicher Demokratien erfolgt nicht etwa von außen, von "extremistischen" oder terroristischen Kräften, sondern aus dem Inneren des Systems - wie ein Autoimmun-Angriff, eine überschießende Reaktion des Immunabwehrsystems, das zerstört, was es doch schützen sollte: Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte. (S. 24) 

Derlei Anleihen an medizinischem Vokabular offenbaren den Standpunkt, von grundgesetzwidrigen Fehlentwicklungen auszugehen, die als krankhafte Mißstände eines im übrigen gesunden und damit akzeptablen Organismus aufgefaßt werden, so als ließe sich innerhalb eines grundlegend auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaftssystems und seiner staatlich organisierten Herrschaftsordnung die Spreu vom Weizen trennen. Vom "Inneren" eines "Systems" zu sprechen, das dessen "Substanz" angreife, würde bedeuten, daß der Staat mit sich selbst im Clinch liegt, was die Schlußfolgerung nach sich zöge, nun umso entschlossener in den Apparat hineinwirken zu wollen oder am besten gleich gänzlich in ihn einzutauchen - was einer Neuauflage des zur Zeit der 68er-Studentenbewegung von jenen, die ihre kurzfristige Rebellion gegen eine hochdotierte Berufskarriere einzutauschen im Begriff standen, propagierten "Marsches durch die Institutionen" gleichkäme.

Gössner moniert die angesichts millionenfacher Grundrechtsverletzungen im NSA-Skandal auffallend zögerlichen offiziellen Reaktionen und stellt fest, daß sich in Deutschland als dem am stärksten überwachten EU-Staat nur wenig Protest und Widerstand regt, wobei er das fehlende Bewußtsein individueller Betroffenheit problematisiert (S. 17). Betroffenheitsgefühle sind das eine, eine Konfrontation mit den eigenen Beteiligungsinteressen an einem Staatsapparat, der zwar gewährte Freiheiten wie auch versprochene Sozialleistungen einschränkt, aber im Vergleich zu vielen anderen Regionen der Welt noch einen relativ hohen Lebensstandard bietet, ein anderes. Aus solchen Gründen läuft beispielsweise eine Kritik an der europäischen wie bundesdeutschen Flüchtlingsabwehr, wie sie im Grundrechte-Report von Heiko Habbe in dem Text "Lampedusa in Hamburg" geleistet wird, Gefahr, auch wenn sie völlig zu Recht die "systematischen Mängel beim Schutz in Europa" anprangert (S. 113), zu kurz zu greifen.

Für die Herausgeber scheint die Frage nach möglichen Konsequenzen bereits geklärt zu sein. Im Vorwort schreiben sie, daß die Verteidigung der Grundrechte nicht an den Grenzen Deutschlands, auch nicht Europas haltmachen dürfe und daß die Globalisierung des Überwachungsstaats zu neuen Herausforderungen für die Bürgerrechtsbewegung führe. (S. 15) Die präventive Vormacht- und Herrschaftssicherung, von der im Bericht die Rede ist (Gössner, S. 24) und die der faktischen Durchsetzung der Grund- und Menschenrechte entgegensteht, wird schwerlich durch Appelle an Institutionen erstritten werden können, die sich durch die formale Gewährung dieser Rechte ein menschenrechtsfreundliches und demokratisch-rechtsstaatliches Antlitz verliehen haben. So obliegt es den Leserinnen und Lesern, Widerständigkeit einer eigenständigen Bewertung zu unterziehen, ohne sich das Heft des Handelns aus den Händen nehmen zu lassen im ersatzweise angebotenen Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte eines sich als Rechts- und Verfassungsstaat selbstlegitimierenden Herrschaftsapparates.


Fußnoten:

[1] Siehe den Buchbeitrag "Dunkles Feld. Polizeigewalt in Deutschland" von Anna Luczak, S. 165

[2] Siehe den Buchbeitrag "Dein Obdach ist nicht hier" von Moritz Assall, S. 37

[3] http://www.leutheusser-schnarrenberger.de/content/rede-kurzvortrag-anlässlich-der-vorstellung-des-grundrechtereports-2014

26. Juni 2014


Till Müller-Heidelberg, Elke Steven, Marei Pelzer, Martin Heiming, Heiner Fechner,
Rolf Gössner, Ulrich Engelfried und Sophie Rotino (Herausgeber)
Grundrechte-Report 2014
Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, Juni 2014
1. Auflage, 240 Seiten
ISBN 978-3-596-03018-7