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REZENSION/648: Johannes Agnoli - Die Subversive Theorie (SB)


Johannes Agnoli


Die Subversive Theorie

"Die Sache selbst" und ihre Geschichte



"Subversion in düsterer Zeit" - der Titel der abschließenden Vorlesung, die Johannes Agnoli in seiner letzten Lehrveranstaltung im Wintersemester 1989/90 am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin anbot, steht im Zeichen des historischen Niedergangs der Linken in beiden deutschen Staaten. Der 1925 in Italien geborene und 2003 dort verstorbene Politikwissenschaftler war als Vordenker der 68er-Bewegung für seine schonungslose Analyse des herrschaftssichernden Charakters der repräsentativen Demokratie weit über die Kreise der revolutionären Jugend hinaus bekannt geworden und hielt auch noch an ihrem Anliegen fest, als der von ihm weitsichtig in seiner revolutionären Wirkung verworfene Marsch durch die Institutionen sein bekanntes Ergebnis gezeitigt hatte. Wiewohl kein Parteigänger des Realsozialismus wußte Agnoli am 13. Februar 1990, was die Stunde geschlagen hatte. Er leitete seine Vorlesung mit der Bemerkung ein, daß er es eilig habe, weil er um halb acht in der Aktuellen Kamera erfahren wolle, wie es dem von einem Bundeskanzler, "der sich anschickt, weltgeschichtlich in der Frage der deutschen Einheit Bismarck zu überholen und sich ebensosehr anschickt, 16 Millionen liebe Landsleute in die eigene Wahlkampfscheune einzufahren" (S. 234), nach Bonn zum Appell einbestellten Modrow wohl ergangen sei.

Um den vermeintlichen Siegern dennoch nicht den Triumph zu überlassen, die nun vollends eingeläutete - und auch 25 Jahre später allen Krisen durch noch gründlichere Formen der Unterwerfung und Ausplünderung trotzenden - Hegemonie des kapitalistischen Weltsystems in ein unumkehrbares Ende der Geschichte zu verwandeln, bietet die von Agnoli vorgestellte und in einer wissenschaftlich überarbeiteten Ausgabe vorliegende Theorie subversiver Ideen und Bewegungen einige Anhaltspunkte. Sie ist keineswegs nur auf die Vergangenheit einer in weiten Teilen vergessenen, unterdrückten oder auch ungeschriebenen Geschichte widerständiger Menschen beschränkt, sondern als utopisches "Träumen einer Sache" (S. 17) die Mißstände gesellschaftlicher und sozialer Art antizipatorisch überwindendes Vorhaben gemeint. Aus lateinisch sub "unter, gegen" und vertere "wenden, drehen, umkehren" gebildet verweist der Begriff der Subversion nicht nur auf die eher unmerklich vollzogene Veränderung einer herrschenden Ordnung, wie das landläufige Verständnis des Subversiven als im Verborgenen erfolgende Wühlarbeit nahelegt. Agnoli stellt klar, daß es um nichts geringeres geht als "das Unterste nach oben (zu) kehren" (S. 16). Dies allerdings nicht um der bloßen Zerstörung willen, wie entsprechenden gesellschaftlichen Bewegungen häufig nachgesagt wird, sondern verankert in jenem Kategorischen Imperativ, mit dem Karl Marx den Anlaß revolutionären Strebens beim Namen nannte: Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

Zwar warnt der von 1972 bis 1990 als Professor an der einstigen Schmiede linker Theoriebildung, dem Otto-Suhr-Institut der FU, Politikwissenschaft lehrende Agnoli eingangs davor, von dieser Lehrveranstaltung die Aufforderung, Unbotmäßiges zu tun, zu erwarten - "nicht, daß die Unbotmäßigkeit ungefragt wäre, sie bleibt nach wie vor eine gesellschaftliche Notwendigkeit der Zeit gegen den Zeitgeist", sondern es werde "lediglich über sie berichtet - wie es sich eben in einer ordentlichen Lehrveranstaltung gehört - und zwar in ihrer besonderen Form der Subversion" (S. 16). Doch was er zum Ende seiner offiziellen Lehrtätigkeit präsentiert, könnte in einer Zeit "präventiver Konterrevolution" (S. 235), von der in Anbetracht der immer weiter in die Restbestände subjektiver Autonomie eindringenden Elimination jeglicher Gegenwehr durch die Agenturen informationstechnischer Sozial- und hegemoniestabilisierender Sprachkontrolle heute mehr denn je gesprochen werden kann, durchaus gesellschaftliche Wirkung erzeugen.

Die dafür erforderliche Radikalität wird in den im Wortlaut transskribierten Vorlesungen anhand mythologischer und historischer Beispiele von der biblischen Schöpfungsgeschichte und der Welt der griechischen Antike über die Entwicklung häretischer Bewegungen des Christentums bis zur Aufklärung und Französischen Revolution dargestellt. "Umsturz der gottgewollten kosmischen Ordnung, Aufbegehren gegen die Ananke, gegen die objektiven Zwänge (Ananke bedeutet: Schicksal, notwendige, objektive Zwänge)" S. 32 f. - wie ein roter Faden zieht sich die subversive Linie durch die Zeiten und Epochen. Über viele Seiten hinweg tritt sie im Widerstreit gegen die Institutionalisierung des Glaubens als Kirche, Religion und Moral hervor, bevor die Subjektivierungsprozesse der Aufklärung und Moderne säkulare Entwürfe der Volkssouveränität, des Widerstandsrechts und selbstorganisierte Formen der Vergesellschaftung hervortreten lassen.

Verknüpft wird all dies anhand einer Widerständigkeit, deren Kontinuität sich gerade aus den gesellschaftlichen Brüchen ergibt, die sie provozieren. Es tut der spannenden Lektüre keinen Abbruch, daß der Charakter einer Vorlesung durchgängig präsent ist, spricht Agnoli doch die Studierenden immer wieder direkt auf ihre Fragen und Zweifel an. Daß sich daraus diese oder jene Redundanz ergibt, unterstreicht die subversive Absicht, in einer der herrschenden Ordnung gewidmeten Bildungsinstitution dieselbe erschüttern zu wollen.

Durchgängig stellt Agnoli die bis heute für alle revolutionären Bewegungen signifikante Eigentumsfrage, denn die "ganzen Emanzipationsbewegungen, sofern sie radikal waren, haben im Laufe der gesamten Geschichte immer auf Abschaffung des Privateigentums bestanden". (S. 142) Dies rief selbstverständlich die Eigentümer auf den Plan, und das war nicht selten der Klerus, der die von ihm gepredigte christliche Ethik dadurch aufhob, daß er ihr tatsächlich gemäße soziale Bewegungen, wenn sie sich nicht wie der Orden der Franziskaner durch die Römische Kirche institutionalisieren ließen, als Ketzer verfolgte. Ein Beispiel dafür sind die Albigenserkriege zu Beginn des 13. Jahrhunderts, die bestätigten, daß die Kreuzzüge nicht etwa Glaubenskriege, sondern Ausdruck des nach außen wie innen gerichteten Unterwerfungsanspruchs der Römischen Kirche waren.

Wer gegen eine Religion, die die Heiligkeit des Privateigentums predigte und bei allem Widerstreit zwischen Thron und Altar im Grundsatz stets die Sache der Herrschenden vertrat, aufstand, berief sich schon lange vor Martin Luther auf einen Christus, der sich auf die Seite der Armen und Beladenen stellte. Was 1323 mit der dogmatischen Verfügung bekämpft wurde, die Ansicht, Jesus und die Apostel hätten kein Eigentum gehabt, sei als ketzerisch zu verdammen, wurde von Hussiten, Wiedertäufern, den chiliastischen Anhängern Joachim von Fiores und anderen pauperistischen Laienbewegungen mit bisweilen militanter Entschiedenheit verfochten. Den Versuch, die hinter den Horizont des Jüngsten Gerichts verschobene Heilserwartung schon dadurch zu verwirklichen, das Reich Gottes mit der radikalen Lebenspraxis etwa der Katharer, die kein Privateigentum kannten, Frau und Mann gleichstellten und keine Tiere verbrauchten, in die eigene Lebensgeschichte zu ziehen, dokumentiert Agnoli für das Christentum im Hochmittelalter anhand diverser christlicher Gegenbewegungen zur Paulinischen Kirche.

Zweifellos beeinflußt von diesen mittelalterlichen Sozialkämpfen setzte die politische Renaissance bereits im frühen 14. Jahrhundert in den italienischen Stadtstaaten ein, deren antikes Pendant bereits in Griechenland zum Inkubator subversiven Denkens geworden war, wie Agnoli erklärt. In diesen wirtschaftlich besonders entwickelten Republiken provozierte der Machtanspruch der Regnum-Christi-Doktrin, mit der der Bischof von Rom die Reiche des Himmels wie der Erde zu beherrschen beanspruchte, die Entstehung einer ersten gegen die Totalität des Papsttums gerichteten Staatstheorie. Marsilio von Padova forderte 1324 in seiner Schrift "Defensor Pacis" das Prinzip der Volkssouveränität ein und verwarf damit den gottgegebenen Charakter aller Staatlichkeit. Widerstand gegen den Anspruch der päpstlichen Kurie, Staat und Kirche in der Herrschaft einer Universalmonarchie zu vereinen, ging auch von dem Philosophen und Theologen Wilhelm von Ockham aus. Er ordnete den Staat dem Wohl seiner Bürger unter und brachte die Trennung von Glauben und Wissen gegen die Zuständigkeit des Papsttums für die Belange weltlicher Herrschaft in Rechtsprechung, Finanzverwaltung und Machtpolitik in Stellung.

Während die Reformer der gebildeten Stände so die zahlreichen Bürgerkriege beenden wollten, die der Machtkampf zwischen Papstkirche und Königtum überall in Europa entfachte, bilden die militanten Aufstandsbewegungen der Armen und Bauern, ihr bis heute unabgegoltenes Drängen auf die Verwirklichung der herrschaftsfreien Welt ohne Herr und Knecht, für Agnoli eine "vergessene oder verdrängte Linie" (S. 131) der Subversion. In zwei Vorlesungen über den Chiliasmus als Religion der Entrechteten und den "Rebell in Christo" Thomas Müntzer erfährt der Leser, wie wirkmächtig bis heute weitgehend unsichtbar gebliebene soziale Kämpfe sein können, die vor Jahrhunderten gefochten wurden. Zudem läßt der Widerstreit zwischen Thomas Müntzer und Martin Luther erkennen, daß die Reformation der Gegenreformation in Sachen Unterwerfung in nichts nachsteht. Müntzer lehnte nicht nur die Vermittlungsfunktion der Kirche, sondern auch der Bibel ab und berief sich auf eine im Menschen gegründete Erkenntnis der Wahrheit. Dieser Subjektivierungsprozeß ist für Agnoli die Voraussetzung einer Diesseitigkeit, mit der erst "die Vernichtung der Herrschaft und die Abschaffung aller Ungleichheit" (S. 143) möglich werde.

Einen neuen Blick wirft Agnoli auf die Utopisten Thomas Morus und Campanella, wobei er insbesondere letzterem attestiert, die Verwirklichung des Marxschen Reiches der Freiheit angestrebt zu haben, das jenseits der gesellschaftlich notwendigen Arbeit in der Zeit der Muße und schöpferischen Tätigkeit liege. Wegweisend für den Kampf gegen heutige Formen kolonialistischer Landnahme ist auch das von Agnoli geschilderte Beispiel der Diggers, die sich im 17. Jahrhundert dem Privateigentum an Grund und Boden durch öffentliche Besetzungen zwecks gemeinsamer Nutzung des Landes für den Anbau von Feldfrüchten widersetzten. In ihrem Manifest gingen sie soweit, dem Kaufen und Verkaufen, also dem Tauschverhältnis als solchem, jegliche Gültigkeit abzusprechen, um anstelle dessen das Arbeiten auf dem gemeinsam zu bewirtschaftenden Boden zur Grundlage der Reproduktion zu erklären.

Als gegen die Herrschaft der absoluten Monarchie und des Feudalsystems sowie die Unterdrückung freier Meinungsäußerung gerichtet, birgt die Aufklärung für Agnoli emanzipatorische Qualitäten, dies allerdings im Sinne einer bürgerlichen Subversion, in der der Angriff auf die Autorität des Herrschers, des Adels und der Kirche durch die Affirmation des Privateigentums konterkariert wird, wie er am Beispiel von Diderot und den Enzyklopädisten erklärt: "Die Subversion selbst wurde zur Revolution, doch die daraus resultierende Freiheit war die Freiheit des freien Arbeiters, des Marktes und der freigelassenen Akkumulation. Darin sieht man die Grenze der Aufklärung. Der Widerspruch der Aufklärung war einer der Klassenschranken und nicht, wie von Horkheimer und Adorno behauptet, einer der Dialektik." (S. 212)

Für letztere gilt bei Agnoli "nicht Negation der Negation, also nicht Versöhnung, sondern Negation sans phrase, als destructio, als eigenwillige Vernunft gegen das faktisch Bestehende, gegen die Logik der Ordnung: Der ordentlichen Produktionsweise, der ordentlich im Staat verfaßten Gesellschaft, des Ordnungsglaubens und eines ordentlich strukturierten Denkens." (S. 21) Agnoli setzt Ordnung und Herrschaft synonym, und nichts geringeres als die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu überwinden ist seine erklärte Absicht. Dementsprechend ungerührt nimmt er zur Kenntnis, daß der Begriff, den die bürgerliche Wissenschaft sich von der Subversion macht, zumindest in der Bundesrepublik seiner Zeit ausschließlich das Zerstörerische herausstreicht.

Wie jedoch läßt sich Subversion von der revolutionären Praxis, die für Agnoli mit dem offenen Hervortreten gesellschaftlicher Umwälzung in der Französischen Revolution beginnt und sich in den seitdem erfolgten bürgerlichen wie kommunistischen Revolutionen fortsetzte, unterscheiden? Daß subversive Praxis durch diese nicht aufgehoben sein muß, schildert Agnoli anhand der Unmöglichkeit einer "Subversion an der Macht", die es nicht geben könne, "es sei denn, sie ist schon Revolution geworden und hat die Macht erreicht" (S. 234). Daß historische Revolutionen durch die Bedingungen subversiver Praxis und Theorie überholt werden konnten, attestiert Agnoli zumindest für 1789. So bleibt das Verhältnis zwischen Revolution und Subversion, wenn man die Übernahme der Staatsmacht nicht zum Maß allen Fortschritts erheben will, letztlich ungeklärt.

Um nicht mißverstanden zu werden, präzisiert Agnoli zu Beginn seiner Vorlesungen den "Sinn der subversiven Theorie" in Abgrenzung zur Restauration dessen, was es zu überwinden gilt. Er liege "im Nachdenken über schlechte Zustände und die Einsicht in die Notwendigkeit der Umwälzung, im Entwurf des Neuen. Denn nur so verstanden, konjugiert sich Subversion mit Emanzipation, denn es gibt Angriffe auf die konstituierte Ordnung, die nicht die Freiheit meinen, sondern nur eine andere, noch ordentlichere Ordnung. Sie richten sich gegen institutionelle Zwänge, um einen noch härteren Zwang durchzusetzen. Sie gehen gegen die Macht vor, aber nicht als Gegenmacht, sondern selbst als Macht: Eine Macht gegen eine andere, keine Negation, vielmehr schlicht positiv." (S. 19)

Eine heute, da sich neurechte Bewegungen als Opposition von unten inszenieren, unverzichtbare Differenzierung. Zum Problem der Kontrolle der Staatsmacht hat Agnoli im November 1989 in einer Rede auf dem Bebelplatz in Ostberlin erklärt, daß diese nicht im Palast stattfinde, sondern seiner Ansicht nach auf der Straße zu bleiben habe. Wer die geschichtliche Aufgabe der subversiven Theorie, die "dann entsteht, sich entfaltet und wirkt, wenn die Aktualität der Revolution vorläufig suspendiert worden ist" (S. 243), wahrnehmen wolle, dürfe unwirtliche Zeiten nicht scheuen, denn diejenigen, "die sich dazu zählen, werden wieder lichtscheue, finstere Elemente sein, sofern das Licht von dem erneuerten Wertesystem herkommt". Auch schütze die "Geborgenheit des Dunkels" (S. 241) nicht davor, für die "sehr harte, mühselige Maulwurfsarbeit" in der "schwierigen Zeit der Überwinterung" (S. 243) kaum honoriert zu werden - warum auch sollte sich dasjenige, was in Frage gestellt wird, auch noch für seine Abschaffung bedanken?

So bleibt es jedem überlassen, den im Gegenentwurf enthaltenen Schritt nach vorne zu vollziehen, gerade weil er sich nicht von einer wie auch immer gearteten Instanz abhängig macht. "Die subversive Theorie" bietet Menschen, die nicht akzeptieren wollen, was ihnen und anderen alltäglich an Zerstörung und Unterdrückung widerfährt, eine überaus anregende Lektüre voller überraschender Einsichten in die Ideengeschichte und Entwicklungslogik, in die Kontinuität und Präsenz widerständiger Bewegungen gestern, heute und womöglich morgen.


Zur Neuedition des Werkes "Die Subversive Theorie" siehe auch:

INTERVIEW/018: Linksliteraten - Mit den Augen der Verlierer ... Annette Ohme-Reinicke im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0018.html

28. Oktober 2015


Johannes Agnoli
Die Subversive Theorie
"Die Sache selbst" und ihre Geschichte
Schmetterling Verlag, Stuttgart
230 Seiten, 18,80 EUR
ISBN 3-89657-066-8


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