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REZENSION/683: Sybille Tetsch - Emmy und der Kern der Dinge (SB)


Sybille Tetsch


Emmy und der Kern der Dinge

Ein Lesebuch über die Geschichte der Atomenergie



Eine tödliche Gefahr, die nicht zu sehen, nicht zu riechen, nicht zu hören oder zu schmecken ist, die sich gut hinter dem Schleier des Nichtwissens oder des Nicht-wissen-Wollens verbergen läßt, wird gern in das Reich des Nicht-Existenten verbannt. In unserer Zeit gilt das ganz besonders für die Atomenergie und der mit ihr unvermeidlich verbundenen Belastung durch radioaktive Strahlung. Im kollektiven Gedächtnis fest verankert sind die beiden Atombomben, die am 6. und 9. August 1945 durch die USA auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. Die Zerstörungskraft war gewaltig. 100.000 Menschen fanden sofort den Tod. Die Zahl der Getöteten stieg bis Ende desselben Jahres auf 200.000 und bis heute - also über 70 Jahre später - leiden Menschen an den Folgeschäden der Einwirkung radioaktiver Partikelstrahlung. Die atomaren Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima aus den Jahren 1986 und 2011, um nur die beiden jüngsten zu nennen, zeigen, daß keine Atombombe vonnöten ist, um verheerende Zerstörungen zu verursachen, Menschen zu töten und unsägliches Leid zu erzeugen.

Atomkraftwerke wurden gebaut und in Betrieb genommen, ohne daß die Entsorgung des radioaktiven Mülls, der dabei zwangsläufig entsteht, gesichert war und ist. Jeder mit der Atomphysik oder Atomtechnologie befaßte Wissenschaftler weiß, welche Gefahren die Freisetzung von Radioaktivität mit sich bringt. Sie wurden von einigen wenigen Menschen in entscheidenden Positionen stellvertretend für alle (die aber nie informiert und gefragt wurden) billigend in Kauf genommen. Heute zeigt sich das ganz und gar nicht vorhersehbare Ausmaß der Auswirkungen der sowohl militärischen als auch "friedlichen" Atomtechnologie.

Aber wie erklärt man Kindern und Jugendlichen das herbeigewirtschaftete atomare Desaster? Wie will man ihnen den radioaktiven, giftigen und höchst gefährlichen Atommüll begreiflich machen, der in den Meeren und der Erde entsorgt wurde und dort bis in unvorstellbare Zeiten Schaden anrichtet? Welchen Rat will man ihnen mit auf den Weg geben, wenn sie danach fragen, wie sie und noch unzählige Generationen nach ihnen, mit dem Problem der Endlagerung umgehen sollen? Das sind keine leichten Fragen. Wir bürden ihnen eine ungeheure Last auf. Sollte es da nicht von höchstem Interesse sein, daß wir all die Fehler der Vergangenheit offenlegen und Beschwichtigungs- und Vertuschungsversuche als Schönrede-Scheinargumente entlarven?

Einen erfreulichen und mutigen Versuch in diese Richtung unternimmt die Autorin Sybille Tetsch, die in ihrem jüngst veröffentlichten Buch: "Emmy und der Kern der Dinge - Ein Lesebuch über die Geschichte der Atomenergie" - all die erschreckenden, gesundheitlichen, sozialen und existentiellen Katastrophen, die durch die Nutzung der Atomenergie entstehen, beschreibt. Ihre ablehnende Position zu Atomkraftwerken und Atomwaffen ist selbstredend. Doch wie schafft man es, ein Buch darüber so zu schreiben, daß es einerseits informativ und andererseits keine reine Datenflut ist, von der der Leser sich überfordert abwendet? Sybille Tetsch stellt sich der Herausforderung. Ihre Protagonistin ist die 12jährige Emmy, die Freundschaft mit einem kleinen Vogel schließt, auf dessen Rücken sie die wichtigen Stationen anfliegt, die zum Betreiben eines AKWs Voraussetzung sind.

In zehn Kapiteln entwirft sie kleine Episoden, läßt Figuren entstehen, vornehmlich etwa gleichaltrige Kinder, sowie deren Mütter, Väter oder Großeltern, um in Form von Gesprächen die jeweilige Problematik zu verdeutlichen und zu erklären. Eingebettet in diese Geschichten, die einen Einblick in die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten des Landes ermöglichen, eröffnet die Autorin eine Identifikationsmöglichkeit mit den Betroffenen.

Emmys Reise beginnt mit einem Gespräch zwischen ihr und einem Kinderarzt im Ruhestand, der ihr die Wirkung von Radioaktivität auf den menschlichen Körper erklärt. Ihre nächste Station liegt in Arlit, einer Stadt in Niger, wo das Uranerz in den Uranminen abgebaut wird. Dort lernt sie Tidart kennen, ein kleines Mädchen wie sie, und ihren Vater. Emmys Fragen werden beantwortet und sie erfährt beispielsweise, daß das Uran der Grundstoff für den Betrieb eines AKWs ist. Tidarts Vater berichtet auch, daß das Grundwasserreservoir tief unter der Wüste durch den enormen Wasserverbrauch bei der Urangewinnung gefährdet ist und über den radioaktiv belasteten Wüstensand. Durch die persönlichen Kontakte mit den Kindern, werden die Probleme, die sich aus dem Betrieb der verschiedenen Atomanlagen ergeben, nachfühlbar und verständlich. Erzählerisch ähnlich strukturiert geht die Reise von Emmy weiter nach Deutschland in die Elbmarsch zum AKW Krümmel und hört von der erhöhten Zahl der an Leukämie erkrankten Kinder. Über Weißrussland und die Ukraine geht es dann nach Tschernobyl. Dort erfährt Emmy von den vielen Strahlenkranken und von dem Verlust der Heimat, da die Menschen aus den verstrahlten Gebieten wegziehen mußten. Der kleine Vogel bringt sie auch nach Japan in die Präfektur Fukushima, wo die Kinder, wegen der hohen Strahlenbelastung, nur 30 Minuten am Tag draußen sein dürfen, und danach gelangen sie in den Irak. Dort wurde während der NATO-Einsätze massenhaft Uranmunition eingesetzt, die bis heute weite Gebiete mit radioaktiven Partikeln verstrahlt. Die Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) in Sellafield ist ihr nächstes Ziel, wo Emmy erfährt, daß bei dem Betrieb dieser Anlage Unmengen an radioaktivem Müll einfach in die Irische See geleitet wurde. Schließlich landet Emmy wieder in Deutschland, wo sie auf eine Gruppe von Kindern trifft, die sich gegen das Atommülllager "Asse" wendet und über die Gefahren aufklärt, die unmittelbar von der "Asse" ausgehen.

Das Stilmittel einer solchen Reise ist nicht neu, bietet sich an dieser Stelle allerdings an. Die Zusammenhänge von Atomtechnologie, Gesundheit, Umwelt, Politik und Wirtschaft werden auf diese Weise sehr gut aufgezeigt. Es wird darüber hinaus deutlich, daß die Autorin gründliche Recherchearbeit geleistet hat.

Leider bleiben die Fragen der Kinder etwas zaghaft und werden mit reichlich viel Informationen - und somit nur bedingt kindgerecht - beantwortet. Es bleibt wenig Raum, weiter zu überlegen, weiter zu zweifeln, kritisch zu prüfen. Sollte nicht eigentlich darauf geachtet werden, daß Kinder sich nicht abspeisen lassen mit der einen oder anderen Weltsicht, sondern ermuntert werden, die Hintergründe und Interessen verschiedener wirtschaftlicher und politischer Kräfte zu erfassen, die es überhaupt möglich machen, daß Atombomben und Atomkraftwerke gebaut werden? Ich hätte mir ein bißchen mehr Raum für Kinder gewünscht, den Dingen auf den Grund gehen zu können, ohne gleich eine umfassende Antwort zu erhalten.

Aber vielleicht hätte das auch den Rahmen dieses Buchprojektes gesprengt. Für die Hauptfigur in "Emmy und der Kern der Dinge" bleibt vorrangig die Empörung als Reaktion auf das jeweils gerade Erfahrene. Und auch die Lösungen liegen schon bereit: Energie sparen, alternative Energien verwenden, Kernphysik studieren, Initiativen gründen und aufklären. Mögen all die Vorschläge auch sinnvoll sein, doch was bleibt nach der Lektüre des Buches? Empörung, Wut, im besten Fall Nachdenklichkeit, aber eben auch die Gewißheit, daß es Lösungen gibt?

Wie dem auch sei, die Empfehlung an die Eltern, dieses Buch mit ihren Kindern gemeinsam zu lesen oder vorzulesen, halte ich für eine gute Idee. Der Aufbau des Buches in Kapitel mit jeweils einem Schwerpunkt, einem Aspekt, einer Problematik der Atomenergie, bietet es an, sich nur eines zur Zeit zu Gemüte zu führen. In jedem Abschnitt ist Stoff genug, um darüber zu sprechen und vielleicht an dieser Stelle, auf weitere Unklarheiten zu stoßen und das Problembewußtsein zu schärfen. Ganz nebenbei kann "Emmy und der Kern der Dinge" auch für den einen oder anderen Erwachsenen eine gute Gelegenheit sein, sich Informationen über atomare Gefahren zuzuführen, die man immer schon mal haben wollte, sich aber bislang nicht um die erforderliche Aufklärung gekümmert hat.

Dieses Buch ist ein aufrichtiger Versuch, Kindern aufzuzeigen, mit welchem atomaren Müll wir sie belasten und es kann gleichzeitig zum Anlaß genommen werden, die Interessen der einstigen Atombombenerfinder und -konstrukteure, wie auch der heutigen Betreiber von Atomanlagen offenzulegen. Die Atomindustrie riskiert den Tod unzähliger Menschen. Diskutiert wird über sichere Atommüllendlager, sicher für eine Millionen Jahre? Wer soll das glauben? Genaugenommen bleibt nur eine einzige Konsequenz, um einen Schaden zu begrenzen, der ohnehin nicht mehr zu beheben ist: das absolute Verbot von Atomwaffen weltweit und das Stillegen aller Atomkraftwerke und -anlagen, sowie selbstverständlich ein totaler Stopp für den Bau aller weiteren Atomkraftwerke.

Es wäre möglich, daß die Autorin eine ähnliche Ansicht vertritt, jedenfalls würde ihr Engagement, dieses Buchprojekt zu realisieren, dafür sprechen. Gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Tetsch, der als Umwelt-Journalist und Fotograf arbeitet, bereiste sie die meisten der in dem Buch beschriebenen Schauplätze. Sybille Tetsch lebt und arbeitet als Autorin und Nachhilfelehrerin in einem Dorf in der Lausitz. Es mag ihre Naturverbundenheit und ihr Respekt vor allem Lebendigen sein, der sie dazu angetrieben hat, über die atomare Bedrohung zu berichten.

"Emmy und der Kern der Dinge" wurde wissenschaftlich begleitet von Dr. Winfrid Eisenberg, Kinderarzt und Mitglied der "Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges" (IPPNW) und Dr. Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, der in seinem Vorwort zum dem vorliegenden Buch schreibt:

Für uns alle ist es schon lange selbstverständlich, dass wir überall, zu Hause, in der Schule, bei der Arbeit, in der Straßenbahn oder im ICE elektrischen Strom nutzen. Dabei ist leider nicht so recht im Blick, dass mit der Stromherstellung gefährliche Arbeiten, viel Schmutz und Dreck, Zerstörung der Natur und Schäden an der Gesundheit verbunden sind. (S. 9) 

Vielleicht ist das ein vorsichtiger Hinweis auf unsere Beteiligung, also die eines jeden einzelnen Stromverbrauchers? Die gesamte Stromerzeugungsproblematik erweist sich als überaus vielschichtig und komplex und erfordert ein entwickeltes Problembewußstein.

Viele weitere kompetente Menschen aus verschiedenen Ländern, die in der Danksagung namentlich genannt werden, wirkten an dem Buch auf die eine oder andere Weise mit. Im Anhang finden sich Informationen über die mehr oder weniger erdachten Kinderfiguren, von denen einige in der realen Welt wirkliche Vorbilder haben, so daß sie einem als Personen noch wirklicher erscheinen und damit das beabsichtigte Gefühl einer inneren Verbundenheit geweckt wird.

Anzumerken bleibt noch, daß dem Buch ein Hinweiszettel zum Vertriebsweg beigefügt ist. Hier der Text:

Leider haben alle kontaktierten deutschen Verlage das Thema Atomkraft als 'uninteressant' und 'ad acta gelegt' bezeichnet - daher haben wir dieses Buch selbst verlegt. Es ist nicht im Buchhandel erhältlich, sondern kann nur nach den Lesungen der Autorin sowie über ihre Internetseite www.buchrabensalat.de bestellt werden.

Wenn man es nicht schon vorher wußte, dann wird spätestens nach der Lektüre dieses Buches klar, daß es sich um eine totale Fehleinschätzung handelt, wenn behauptet wird, das Thema Atomkraft sei nicht mehr von Interesse. Selbst wenn es so wäre, ist es an der Zeit, daß es wieder Thema wird. Gerade hier in Deutschland haben wir es mit dem Atommüllager Asse mit einem riesigen und kaum vorhersehbaren atomaren Katastrophen-Szenario zu tun. Die Fässer mit dem radioaktiven Müll rosten, Wasser dringt in das ehemalige Salzbergwerk, es wird instabil und muß ständig stabilisiert werden. Wie lange noch und ist dies überhaupt möglich? In der medialen Öffentlichkeit findet das kaum Aufmerksamkeit. So mancher kämpft vielleicht auch gegen seine eigene Angst vor einer atomaren Katastrophe und lebt nach dem Prinzip Hoffnung, wiegt sich in wohliger Abwartehaltung nach dem Motto, "es wird schon nichts passieren" oder "hier in Deutschland ist alles viel sicherer". Einmal mehr ist dieses Buch ein kleiner Beitrag gerade der nächsten Generation die Augen zu öffnen, damit sie die Chance erhält, sich klar und eindeutig zu positionieren.

Sybille Tetsch
Emmy und der Kern der Dinge
Ein Lesebuch über die Geschichte der Atomenergie
buchrabensalat, Proschim 2017
Taschenbuch
156 Seiten
14,80 Euro
(www.buchrabensalat.de)


27. September 2017


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