Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH


REZENSION/693: Kulturkampf und Gewissen - Medizinethische Strategien der "Lebensschutz"-Bewegung (SB)


Kirsten Achtelik, Eike Sanders, Ulli Jentsch


Kulturkampf und Gewissen

Medizinethische Strategien der "Lebensschutz"-Bewegung



Das Leben schützen - wer wollte das nicht? Worum es sich bei "Leben" im besonderen handelt, läßt sich nicht einfach aus der Gegenüberstellung zum Tod erschließen. Was als idealisierte Polarität völlig klar erscheint, nimmt in seiner gesellschaftlichen Verallgemeinerung die Gestalt von Kampfbegriffen an, deren Verabsolutierung auf die Erwirtschaftung von Definitionshoheit und die Negation des politischen Gegners abstellen. So enthält das Begriffspaar "Pro Life" und "Pro Choice", unter dem die gesellschaftliche Auseinandersetzung um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in den USA geführt wird, eine unterschwellige, den VerteidigerInnen des Abtreibungsrechts zur Last fallende Wertung. Für das Leben einzutreten erscheint als moralisch unantastbare Position, sich die Entscheidung zwischen Leben und Tod eines werdenden Kindes vorzubehalten unterstellt demgegenüber eine egoistische, allein das Interesse der werdenden Mutter repräsentierende Wahlmöglichkeit.

Dabei ist das Erkämpfen des Rechts von Frauen, über ihren Körper zu verfügen, nicht vom Kampf gegen das Patriarchat zu trennen. Die Entkriminalisierung der Abtreibung schon in der frühen Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten war eine sozialpolitische Errungenschaft, die dem emanzipatorischen Anspruch eines egalitären Gesellschaftsmodells, ob von einer Sozialrevolutionärin wie Emma Goldmann oder einer sowjetischen Kommunistin wie Alexandra Kollontai formuliert, fast selbstverständlich innewohnte. Der Befreiung des weiblichen Körpers vom Diktat patriarchaler Verfügungsgewalt ging eine jahrtausendealte Leidensgeschichte voraus, die zu vergessen und in ihrer modernen Fortschreibung zu ignorieren notwendige Voraussetzung der Gleichsetzung von Abtreibungsverbot und sogenanntem Lebensschutz ist.

Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn greift anläßlich der Debatte um die Abschaffung des Werbeverbotes für Schwangerschaftsabbrüche den Begriff des Lebens auf höchst plakative und polemische Weise auf: "Wenn es um das Leben von Tieren geht, da sind einige, die jetzt für Abtreibungen werben wollen, kompromisslos. Aber in dieser Debatte wird manchmal gar nicht mehr berücksichtigt, dass es um ungeborenes menschliches Leben geht." [1] Indem er in einflußreicher Position AbtreibungsgegnerInnen den Rücken stärkt, empfiehlt er sich nicht nur als Rechtsausleger der Union im Wartestand auf die Kanzlerschaft. Im gleichen rhetorischen Aufwasch diskriminiert er TierrechtlerInnen, die zugleich für das Recht auf Abtreibung eintreten, als inkonsequent und demonstriert, daß schwulen Männern patriarchale Anwandlungen nicht fremd sein müssen. Schließlich erinnert sein Eintreten für die antifeministische Sache daran, daß es sich bei Schwangeren, die vor den Beratungsstellen von ProFamilia einem Spießrutenlauf aggressiver AbtreibungsgegnerInnen ausgesetzt werden, um Frauen handelt, die nicht nur wegen ihres konstruierten sozialen, sondern auch des die körperlichen Voraussetzungen für eine Schwangerschaft bietenden biologischen Geschlechtes wiederum von Männern gedemütigt und vor sich hergetrieben werden.

Die in Häufigkeit und Schlagkraft zunehmenden Angriffe auf reproduktive und sexuelle Rechte in der Bundesrepublik sind Gegenstand des vorliegenden Buches. "Kulturkampf und Gewissen" haben Eike Sanders, Kirsten Achtelik und Ulli Jentsch ihren Bericht über "Medizinethische Strategien der 'Lebensschutz'-Bewegung" überschrieben. Ersteres greift weit über die Fragestellung medizinischer Interventionen in die menschliche Reproduktion hinaus und betrifft die gesamte Frontstellung christlich-fundamentalistischen wie völkisch-nationalen Hegemoniestrebens. Zur Disposition einer restaurativen Gesellschaftskonzeption stehen bürgerlich-liberale Individual- und Minderheitenrechte ebenso wie die vom norwegischen Attentäter Breivik bis zur neuen Rechten in Deutschland zu vorrangigen Angriffzielen erhobenen Doktrinen des "Multikulturalismus" und "Kulturmarxismus". Wie anhand diverser Beispiele beschrieben, gehen zumindest Teile der "Lebensschutz"-Bewegung mit der gegen flüchtende Menschen, linke AktivistInnen, den Islam und die sogenannte Gender-Ideologie gerichteten Demagogie der extremen Rechten konform.

Religions- und Gewissensfreiheit werden vor diesem Hintergrund gegen die vermeintliche Diskriminierung von ChristInnen durch die Zuwanderung aus mehrheitlich islamischen Ländern stammender Menschen als auch einen liberalen Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen, reproduktionsmedizinischen Techniken und ärztlicher Sterbehilfe ins Feld geführt. Nur scheinbar widersinnig ist die Unterstellung eines systematisch erfolgenden Austausches der deutschen Bevölkerung durch geburtenstarke ethnische Minderheiten. Die geringe Reproduktionsrate der biodeutschen Bevölkerung auch in Hinsicht auf Abtreibungen zu beklagen ist das eine, mit demografischen Argumenten gegen das Geburtsrecht nichtweißer Minderheiten zu polemisieren das gar nicht so andere. Im Kern geht es um eine gegen andere Menschen gerichtete Bevölkerungspolitik, in der sozialdarwinistische Raum- und Ressourcenkonzepte mit naturalistischer, in religiöser Schöpfungsideologie begründeter Sachzwanglogik legitimiert werden.

Dabei ist der christlich-fundamentalistische Anspruch auf "Lebensschutz" in seinem kategorialen Charakter leicht zu widerlegen - die materiellen Lebensvoraussetzungen afghanischer, kurdischer, irakischer oder jemenitischer Mütter werden in imperialistischen Kriegen zunichte gemacht, sei es durch Granaten aus deutschen Rüstungsschmieden, sei es durch Aushungerungsstrategien in den Stellvertreterkriegen der Großmachtkonkurrenz. Auch ist das Leben der flüchtenden Menschen, die beim Versuch, die rettende EU zu erreichen, im Mittelmeer ertrinken, nicht halb so viel wert wie die angeblich bei Abtreibungen ermordeten Kinder, die als solche zu bezeichnen bedeutet, Embryonen den Status vollwertiger Menschen zuzuweisen. Alleinerziehenden Müttern, einkommensschwachen Familien und Obdachlosen werden die von der "Lebensschutz"-Bewegung wie selbstverständlich in Anspruch genommenen Vorzüge der kapitalistischen Eigentumsordnung wenn nicht vorenthalten, dann höchstens in Form karitativer Handreichungen und erniedrigender Almosen gewährt. Das in den Amtskirchen vorhandene Engagement für flüchtende und hungernde Menschen ändert nichts daran, daß die fundamentalistischen und patriarchalen Strömungen des Christentums auf frappante Weise vor Augen führen, wie deutungsvariabel christliche Moral sein kann.

Initiativen wie Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA), Bundesverband Lebensrecht (BVL), Christdemokraten für das Leben (CDL) und die diversen ärztlichen Standesorganisationen, die explizit für "Lebensschutz" eintreten, sind zwar nicht in gleichem Maße im rechten Spektrum verankert. Sie eint jedoch in der Regel die ausschließliche Bezugnahme auf das tradierte heterosexuelle Kleinfamilienmodell wie die Ablehnung aller Relativierungen der dominanten zweigeschlechtlichen Ordnung. Es liegt auf der Hand, daß die kulturkämpferische Grundströmung der "Lebensschutz"-Bewegung nicht unbedacht sichtbar gemacht wird, sondern im Kontext der allgemeinen Rechtsdrift nach taktisch-strategischen Kriterien argumentativ und bündnistechnisch eingesetzt wird. Ansonsten müßte sich die Zusammenarbeit mit einer AfD, die mit Kampfbegriffen wie "Umvolkung" und "Genderwahn" klare Position am rechten Rand bezieht, schlichtweg verbieten.

Die ausführliche, wie der ganze Text mit einem umfangreichen Fußnotenapparat versehene Untersuchung der medizinethischen Argumentationslinien als auch die rechtliche Einbettung des Themas Abtreibung sind von besonderem Interesse, weil sie wertvolles Rüstzeug für die Positionierung im politischen Diskurs liefern. Der Streit um die Frage, was den Menschen zum Leben qualifiziert, wann es beginnt und endet, ist auch für andere Felder bioethischer Bewertung, auf denen persönliche Selbstbestimmung und Freiheit zur Disposition der Interessen Dritter stehen, von Belang. So bedient sich der medizinaladministrative und biopolitische Zugriff auf den kapitalistisch vergesellschafteten Körper häufig der Androhung einer Enteignung und/oder Entmündigung des individuellen Subjekts, sei es zum Anfang oder Ende des Lebens als auch im Rahmen einer Psychiatrisierung, deren Zwangsmaßnahmen in der Bundesrepublik rund 60.000 in geschlossenen Einrichtungen lebende PatientInnen ausgesetzt sind. Die Fallstricke einer die Definitionsmacht über "Leben" anstrebenden Wissenschaft und Ethik zu kennen kann angesichts der Verrechtlichung biomedizinischer Entscheidungen und der ökonomischen Rationalisierung in Krankenhaus und Altenpflege von existentieller Bedeutung sein.

Wie der Versuch der "Lebensschutz"-Bewegung zeigt, Schwangere mit moralischen Schuldzuweisungen in die Defensive zu manövrieren, geht es bei Angriffen auf sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung auch um die Etablierung einer Bezichtigungslogik, die die hegemonialen Normen der "Leitkultur" von Staat und Nation vertieft. Der Kampf um Diskurshoheit wird von der "Lebensschutz"-Bewegung nicht nur aus eigener Anschauung heraus mit prochristlichen und kulturkonservativen Positionen wie antimuslimischen und antilinken Ressentiments geführt. Es geht um Anschlußfähigkeit zur parlamentarischen Rechten von AfD bis CSU/CDU und FDP. Die Emanzipation der Menschen von ihrer Einbindung in die heterosexuell organisierte Familie als Keimzelle herrschaftsförmiger Reproduktion wie ihre Unterordnung unter eine "Volksgemeinschaft", die ihre Subjekte auf nationalistische, biologistische und chauvinistische Identitäten zurichtet, soll um jeden Preis verhindert werden, und das nicht nur in Deutschland, sondern, wie der Rollback in vielen Ländern der westlichen "Wertegemeinschaft" zeigt, weltweit.

Von Vorteil ist der queerfeministische Duktus des Buches überall dort, wo Sensibilität für behindertenpolitische Fragen und die Rechte von LGBTI-Menschen gefragt ist. Eher unterbelichtet bleiben Gewaltverhältnisse politisch-ökonomischer Art im Kontext biomedizinischer Verfahren und reproduktionsmedizinischer Techniken. Die in der radikalen Linken schon vor Jahrzehnten geleistete Kritik am eugenischen, sozial selektiven Charakter reproduktionsmedizinischer wie humangenetischer Interventionen und der ärztlichen Sterbehilfe findet zu wenig Widerhall, um die "personelle und inhaltliche Abgrenzung" zur "Lebensschutz"-Bewegung aufgrund ihres "tendenziell christlich-fundamentalistischen, antipluralistischen und antiemanzipatorischen Weltbildes" (S. 150) mit einer überlegenen Gegenposition zu fundieren.

Zu Recht wird kritisiert, daß die neuen, von der extremen Rechten bekämpften Freiheiten geschlechtlicher und reproduktiver Selbstbestimmung "in ihrer Ausgestaltung und Umsetzung neoliberal" seien. Sie "individualisieren Privilegien und Diskriminierungen und verschleiern, dass die Zugänge zu Wahlmöglichkeiten nicht herrschaftsfrei gewährleistet sind", ja sie können "sexistische, neokolonialistische oder rassistische Ausbeutungsverhältnisse reproduzieren und verstärken" (S. 15). Diese Freiheiten sollten nicht "nur gegen rechte Angriffe verteidigt, sondern auch aus einer emanzipatorischen Perspektive kritisiert werden" (S. 16), auch um die Instrumentalisierung linker Widersprüche für rechte Argumentationsweisen zu verhindern.

Diese Debatte konstruktiv gegen die Etablierung einer Sozialkontrolle zu führen, die durch biomedizinische Verfahren und nutzenorientierte Selektion, durch digitalisierte Erfassung und neoliberale Schuldübertragung immer undurchschaubarer wird, anstatt sich in Grabenkämpfen zwischen verschiedenen feministischen Positionen und Generationen aufzureiben, wäre auch eingedenk dessen vonnöten, daß die heute im politischen Mainstream angekommene Offensive gegen das Streben nach körperlicher Autonomie und Befreiung von patriarchaler Herrschaft spätestens vor 20 Jahren mit der von Peter Sloterdijk aufgeworfenen These, es seien "Regeln für den Menschenpark" zu formulieren, Fahrt aufgenommen hat [2]. "Kulturkampf und Gewissen" bietet Anlässe und Einstiegsmöglichkeiten genug, um der Zurichtung des Menschen auf optimale Verfügbarkeit und Verwertbarkeit entgegenzutreten, gerade auch in Hinsicht auf die Reformulierung einer Sexual- und Familienmoral, die in längst überwunden geglaubte Verhältnisse zurückführt.


Fußnoten:

[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/ungeborenes-menschliches-leben-spahn-provoziert-neuen-groko-krach-ueber-abtreibungen/21084372.html

[2] Detlev Hartmann: Wo sind die Barbaren des 21. Jahrhunderts?
https://www.linksnet.de/artikel/17848

24. April 2018


Kirsten Achtelik, Eike Sanders, Ulli Jentsch
Kulturkampf und Gewissen
Medizinethische Strategien der "Lebensschutz"-Bewegung
Verbrecher Verlag, Berlin 2018
160 Seiten, 15 Euro
ISBN 9783957323279


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang