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REZENSION/717: Rukiye Cankiran - Das geraubte Glück (SB)


Rukiye Cankiran


Das geraubte Glück

Zwangsheiraten in unserer Gesellschaft



Der Begriff der Ehre erscheint im deutschen Sprachgebrauch längst antiquiert und überholt, gleichwohl hat er seine Grundbedeutung beibehalten und drückt im wesentlichen die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft aus, in der er lebt, die ihn auf seinem familiären, schulischen und beruflichen Werdegang formt und somit seine Wechselbeziehungen zu den anderen sozialen Mitgliedern regelt. Moderne Gesellschaften prägen individuelle Freiheiten aus, die Verfassungsrang besitzen und in letzter Konsequenz vor Gerichten eingeklagt werden können. Niemand darf die Freiheit und damit das Streben nach Glück eines anderen beschneiden, seine körperliche Unversehrtheit verletzen oder andere Formen von Zwang und Nötigung auf ihn ausüben. Vor allem gilt dies in unserer Gesellschaft für die freie Wahl des Ehepartners bzw. der Lebensform, für die er sich entscheidet.

Spätestens seit dem Zuzug der sogenannten Gastarbeiter aus dem mediteranen Raum und insbesondere der Türkei sieht sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit mit Auswüchsen einer patriarchalen Familientradition konfrontiert, die in Teilen einem anderen Wertekanon folgt. Dies sorgt auch unabhängig davon für Befremden, daß der in türkischen Familien übliche Konservatismus im Rollenverständnis von Mann und Frau auch hierzulande weitverbreitete Wurzeln schlägt und keineswegs einer abgehalfterten Vergangenheit angehört. Solange die türkischen Gastarbeiter der ersten und zweiten Generation mehrheitlich unter sich lebten und ihre kulturellen Gepflogenheiten im Schatten marginalisierter Stadt- und Wohnbezirke ausübten, störte sich niemand daran, ging man doch ohnehin davon aus, daß ein Großteil der Türken irgendwann wieder in ihre Heimat zurückkehren würde.

Das geschah jedenfalls nicht in einem größeren Umfang, vielmehr ist die BRD für die dritte und vierte Generation der Türkischstämmigen inzwischen zu einem Lebensmittelpunkt und oft zur neuen Heimat geworden. Viele besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft und empfinden sich als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes als Resultat einer anfangs stolperigen, im großen und ganzen jedoch gelungenen Integration, wovon etliche Biographien bis in Staatsämter und akademische Promotionen zeugen. Mit den Flüchtlingen aus Syrien und der AfD-gesteuerten Hetze um Kopftuchmädchen und Messermigranten hat sich die gesellschaftliche Debatte auf die Streitfelder Zwangsverheiratung, Kinderehen und Ehrenmorde fokussiert, die in erster Linie dem islamischen Kulturkreis zugerechnet werden.

Mit ihrem Buch "Das geraubte Glück" hat Rukiye Cankiran den Finger in eine offene Wunde gelegt, wobei sie sich der Brisanz und hochgradigen Einengung auf eine einseitig kulturalistische Sicht des Problems durchaus bewußt ist. In Hamburg geboren stammt sie selbst aus einer Familie von Zuwanderern aus Anatolien nach Deutschland. In EU-Projekten mit Themenschwerpunkten Integration und Diversity und als Beraterin in Frauenprojekten für Migrantinnen hat die studierte Kulturwissenschaftlerin aus vielen Begegnungen die Nöte und Traumata von Frauen kennengelernt, die aus patriarchalen Strukturen ausbrechen und ein selbstbestimmtes Leben führen wollen, aber von ihrer eigenen Familie daran gehindert werden und oft Gewalt fürchten müssen. Zerrissen im Gefühl, "europäische Moderne mit anatolischer Tradition zu vereinbaren" (S.15) und damit die Eckpunkte zweier Erfahrungswelten unter einen Hut zu bringen, die Familie nicht zu enttäuschen, aber auf das eigene Glück und Wohlbefinden nicht zu verzichten, werden diese jungen Frauen nicht selten in eine Zwangsheirat getrieben, worunter sie oft seelisch leiden und zerbrechen. Und falls sie doch den Ausbruch aus ihrem Martyrium riskieren, die zwangsverordnete Heirat verweigern und fliehen oder sich zur Scheidung durchringen, müssen sie damit rechnen, von ihrem Vater, Bruder oder einem anderen männlichen Verwandten zur Rettung der Familienehre kaltblütig umgebracht zu werden.

Fälle dieser Art geistern durch die deutschen Medien und sind in den gesellschaftlichen Diskussionen so präsent wie nie zuvor, taugen aber kaum mehr als zur Skandalisierung. Daß ein gut Teil der türkischen Migrantenfamilien den Weg in die Integration gewählt hat, sich für ihre Töchter und Söhne gleichermaßen Bildung und sozialen Aufstieg wünscht und auch teilweise Werte und Freiheiten, wie sie in der deutschen Mehrheitsgesellschaft gelebt werden, adaptiert und sich zu eigen gemacht hat, wird gerne und beflissentlich ausgeklammert, weil es nicht zum Zerrbild der Rückständigkeit von Menschen aus der Türkei paßt, das in deutschen Köpfen leider nach wie vor in aller Billigkeit herumspukt. So werden Extremfälle wie der sogenannte Ehrenmord, der unter den hiesigen Türken nicht minder als verabscheuungswert gilt und mit keinem Argument oder Pardon zu entschuldigen ist, zur allgemeinen Stigmatisierung türkischer oder kurdischer Migranten genommen. Laut einer Studie des Bundeskriminalamtes von 2011 wurden von 1996 bis 2005 jährlich zwölf Fälle von Mord im Namen der Ehre gerichtlich erfaßt. Hinter diesen Morden steckt unterdessen kein dunkles Geheimnis, das in voyeuristischer Häme aufgedeckt werden müßte, sie stehen für ein individuelles menschliches Versagen, das mit aller Härte des Gesetzes bestraft werden muß. Selbstjustiz ist ein Verbrechen gegen Staat und Gesellschaft und wird auch in der Türkei nicht anders geahndet.

Junge Frauen und Mädchen gegen ihren ausdrücklichen Willen in eine Ehe zu zwingen, war in der Türkei sicherlich über viele Jahrhunderte Brauch. Dabei spielt es aus heutiger Sicht keine Rolle, daß die Eltern ihre Töchter versorgt sehen wollten und daher einen Bräutigam auswählten, der eine Familie gründen und unterhalten konnte. Dieses Relikt aus alten Tagen hat in einer modernen Gesellschaft nichts mehr zu suchen. Es steht für einen eklatanten Bruch mit und Diktatwillen gegen die Errungenschaften eines selbstbestimmten Lebens, wie sie die Moderne in langen Kämpfen und Entwicklungsprozessen hervorgebracht hat. Daran darf aus Sicht der Autorin nicht gerüttelt werden. Traditionen, die Frauen bevormunden und ihnen einen Lebensweg aufoktroyieren, der sie in einen Kerker aus Gewalt und Elend schließt, stellen in diesem Sinne tatsächlich einen Schritt zurück in eine Vergangenheit patriarchaler Herrschaftswillkür dar.

Seit 2011 steht Zwangsverheiratung in Deutschland unter Strafe, und seit 2017 gilt ein Mindestheiratsalter von 18 Jahren. Cankiran zufolge reicht es jedoch nicht, einzelne Lebensschicksale in ihrer ganzen Dramatik in die Öffentlichkeit zu tragen und dabei vorhandene Klischees zu bedienen. Vielmehr müsse es darum gehen, auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens über das demokratische System und insbesondere die Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen in Deutschland aufzuklären. "Andersartigkeit muss diskutiert werden" (S.16), aber den Menschen, die zu uns kommen, müsse deutlich gemacht werden, daß das Leben hier anderen Regeln und Gesetzen folgt als in einer Stammesgesellschaft in einem dörflichen Umfeld und "dass wir einen Lebenswandel, der Frauen Männern unterordnet, verachten und unter keinen Umständen dulden" (S.16). Falsche Rücksichtnahme und ein im Kern trügerisches Toleranzgebot anderen Kulturen und Mentalitäten gegenüber habe die Gewalt an Frauen verschleiert und fast bis zur Normalität verharmlost. Für Cankiran ist Zwangsverheiratung "eine Form von Gewalt, eine grobe Menschenrechtsverletzung" (S.30), die sowohl die Töchter als auch die Söhne einer Familie ihrer Freiheitsrechte beraubt. Ein Zwangscharakter liegt vor, wenn eine Heirat durch Androhung von psychischer oder physischer Gewalt, Nötigung, emotionaler Erpressung oder List und Betrug vollzogen wird.

Cankiran beleuchtet in ihrem Buch auch die Hintergründe und Motive, warum Eltern ihre Kinder in eine Ehe zwingen. In patriarchalisch strukturierten und traditionellen Familien liegt alle Entscheidungsgewalt beim Vater, er ist in der Regel der Alleinverdiener und Hüter des familiären Glücks, während die Mutter für häusliche Angelegenheiten und die Erziehung der Kinder zuständig ist. Dieses traditierte Rollenverständnis besagt zugleich, daß das Patriarchat auf den Schultern der Frauen getragen und weitergereicht wird. Daß sie eine niedrige Schulbildung besitzen oder Analphabetinnen sind und Glück nicht anders fassen können als in einer Eheschließung mit Kindersegen, ist Teil ihrer Unterdrückung. Auch werden die hierarchischen Strukturen mit dem Mann als Familienoberhaupt Cankiran zufolge aufgrund religiöser Vorschriften, finanzieller Abhängigkeit und einer fehlenden alternativen Perspektive von den Frauen prinzipiell nicht in Frage gestellt. Oft sind es, wie die Autorin anhand von Fallbeispielen schildert, gerade die Mütter, die das Wertesystem von Schande und Ehre, diesen ungeschriebenen Kodex zur Gehorsamspflicht, auf ihre Töchter übertragen, indem diese in eine schwelende Gewissenspein gestoßen werden, daß andernfalls die Familie zerbricht und die Mutter aus Gram und Verzweiflung in den Schlund des Todes stürzt. Das Patriarchat hat zwei Gesichter und viele Verlierer. Ein türkisches Sprichwort drückt diese Not der Unabänderlichkeit treffend aus: "Ein Mädchen verlässt das Haus ihres Vaters im Brautkleid und das ihres Ehemannes im Sarg." (S.61)

"Damit all diese Probleme, die wir aus unserer eigenen europäischen Vergangenheit und der Erfahrung mit traditionellen Gastarbeiterfamilien kennen, sich nicht immer weiter reproduzieren" (S.61), sei es Cankiran zufolge wichtig, Neuzuwanderer "nicht in Ghettos sich selbst zu überlassen" (S.62) und ihnen möglichst früh klarzumachen, daß Frauen hierzulande gleichberechtigt sind und eigenständig Entscheidungen treffen dürfen, um ihnen so eine moderne Sicht auf ein freies Leben zu eröffnen. Die Autorin verliert dabei den klaren Blick auf den eigentlichen Feind nicht: "Das Patriarchat war und ist die größte Hürde für die Rechte der Frauen, nicht die islamische Tradition, wie so häufig aus westlicher Sicht postuliert wird." (S.116)

Nun wäre die Analyse und Streitschrift halb auf dem Wege versiegt, wenn die Unterwerfung von Ehefrau und Tochter unter die Machtansprüche des Ehemannes und seine Befehlsgewalt über schlichtweg alle Familienangehörigen nur in den patriarchalisch rückständigen Gesellschaften fernab der Moderne angesiedelt würde. Die Wirklichkeit schreibt sich nicht in schwarz und weiß, auch greifen die Widersprüche tiefer, als es Zeitgeist und Schlagzeilen vermuten lassen. Sicherlich gilt es, die Spitze zu schleifen, daß die Keuschheit der Tochter, ob sie Make-up im Gesicht oder kürzere Röcke trägt, vorehelichen Geschlechtsverkehr hat oder nicht, in irgendeiner Beziehung zu ihrem Wert als Mensch oder ihrer Loyalität der Familie gegenüber steht und in diesem Sinne verhandelt wird. Das Patriarchat ist immer schon eine Form der sozialen Kontrolle gewesen, die sich im Fall der Frau auf ihre Gebärfunktion und Tugendhaftigkeit als Eigentum eines Mannes bezieht.

"Die weltweiten Kämpfe und Demonstrationen der muslimischen Frauen zeigen, dass die Grundstruktur des patriarchalischen Rechts mit der traditionellen Rollenverteilung nicht zu halten ist (S.117), und so gerät im Zuge globaler Entwicklungen und Fortschritte sowie der Kontakte zu anderen Gesellschaften das patriarchalische Familienverständnis mehr und mehr ins Wanken, auch wenn bislang "in keinem islamischen Land eine der in Europa gängigen Gleichberechtigung von Frauen vergleichbare Form" (S.123) existiert. Cankiran geht es jedoch nicht darum, "Muslime an den Pranger zu stellen. Alle Religionen sind im Kontext patriarchal organisierter Gesellschaften entstanden, deren soziale Strukturen männlich dominiert waren" (S.141). In westlichen Gesellschaften habe die Frauenbewegung jedoch im Laufe der Zeit "viele Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten" (S.141) überwinden können.

Der schlimmste Stachel des Patriarchats ist allerdings die Gewalt an Frauen im Alltag. In ihrem vorletzten Kapitel löst sich Cankiran daher von den engen Grenzen ihres Themas und greift das Problem fundamental offen an. Laut Kriminalitätsstatistik wurden in Deutschland im Jahr 2016 149 Frauen von ihrem Ehe- oder Ex-Partner getötet, 208 haben eine versuchte Tötung überlebt. Das bedeutet, "dass täglich ein Mann versucht, seine Ehefrau oder ehemalige Partnerin zu töten" (S.173). Auch steigt die Zahl der Delikte von Partnerschaftsgewalt in den Straftatenbereichen Mord und Totschlag, Körperverletzungen, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Bedrohung und Stalking seit Jahren kontinuierlich an. Cankiran sieht darin ein Signal, "dass sich durch ein weltweites Rollback frauenfeindliche Denkstrukturen auch hierzulande wieder verbreiten" (S.174). Auch wenn in den Medien, die diese Morde ohnehin selten thematisieren, von einer Beziehungstat, einer Familientragödie oder einem Eifersuchtsdrama gesprochen wird, für die Autorin "unterscheiden sich diese Taten nur unwesentlich von sogenannten Ehrenmorden" (S.174), auf die sich der Fokus bei Gewalt gegen Frauen konzentriert, und so der Öffentlichkeit "eine emanzipierte, moderne deutsche Gesellschaft vorgegaukelt" (S.174) wird.

Im Hintergrund dieser Gewalttaten steht der Autorin zufolge die "verletzte Ehre des Mannes, seine Wut, seine Eifersucht, seine Unfähigkeit und Schwäche, zu akzeptieren, dass die Frau das Recht auf Selbstbestimmung hat" (S.175). "Der Mord ist der letzte Schritt des Mannes, seinen Willen durchzusetzen." (S.177) Daher müsse jede Form von Diskriminierung der Frau beseitigt werden, "ohne uns in den Bereichen von Rassismus und Religionsfeindlichkeit zu bewegen" (S.179). Mit der Überzeugung, "dass Demokratie und Frieden nur mit Frauenrechten funktionieren" (S.188), schließt Rukiye Cankiran ihr wärmstens zu empfehlendes Buch, weil sie darin Mißstände in migrantischen Milieus in allen Facetten schonungslos offenlegt, aber keineswegs verschweigt, daß das Problem der Gewalt gegen Frauen nicht allein in den Herkunftsländern zu verorten ist. Der Schmerzensschrei einer Frau trägt den Abdruck eines Mannes, und es ist unerheblich, wo er seine Kinderstube hatte.

17. September 2019


Rukiye Cankiran
Das geraubte Glück
Zwangsheiraten in unserer Gesellschaft
Verlag Herder GmbH, 2019
192 Seiten, 20 EUR
ISBN: 978-3-451-38266-6


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